Frankreich ist das Paradies. 43 Raubkatzen leben in einem riesigen Park, auf Tournee müssen sie nur zur Weihnachtszeit, sonst haben sie Ferien und ein bisschen verspieltes Training. Die junge Dompteurin Namayca lag als Säugling neben einem Löwenbaby im Kinderwagen, mehr Harmonie zwischen Mensch und Tier ist fast nicht vorstellbar.
Natürlich ist das für Namaycas Beziehungsleben schwierig, als Paar können sie und ihr Freund nur glücklich werden, wenn der Freund sein ganzes bisheriges Leben aufgibt und zu ihr in den Park zieht. Was er nach dem Ende der Dreharbeiten zum Dokfilm «Wild Women – Gentle Beasts» dann auch tut. Jetzt ist das Paradies noch paradiesischer.
Die Zürcher Regisseurin Anka Schmid hat sich mit «Wild Women» ihren einen grossen Mädchentraum erfüllt: Schon als Kind fand sie in der TV-Serie «Salto Mortale» die Raubtier-Bändigerin Tiger-Lilly das faszinierendste Geschöpf auf Erden. «Die schöne, mutige, unabhängige Frau mit der Peitsche und den wunderschönen Viechern.» Die Frau, die genauso schön war wie ihre Tiere. Doppelt schön. Doppelt stark. Doppelt elegant. Die wollte sie werden. Die spielte sie als Kind. Ihre Schwestern spielten die Tiger.
Anka Schmid fand Namayca in Frankreich, Aliya und ihre Mutter Nadezhda in Russland, Anosa in Ägypten und Carmen in Deutschland. Zu Anosa gelangte sie, weil diese die Enkelin einer legendären ägyptischen Löwenbändigerin ist.
Anosa ist selbst ein Popstar mit mehreren Angestellten, eine wahre Zirkusprinzessin, die fast so oft in Talkshows anzutreffen ist wie in der Manege. Und die den Löwenkuss ihrer Grossmutter heute noch zeigt: Ein Holzspiess verbindet The Beauty und The Beast, am einen Ende steckt ein Stück Fleisch, das holt sich der Löwe. Der Spiess sieht aus wie Anosas verlängerte Zunge. Erotik im Angesicht der Todesgefahr.
Anosa ist im arabischen Raum derart gross, dass ihr Bruder, selbst ein Dompteur, mit seinen Tieren seit sieben Jahren in Russland arbeitet. Und Anosa tut, was Frauen tun: Küssen. Ihr Bruder tut, was Männer tun: Wenn ein Löwe das Maul aufreisst, reisst er seines auch auf. Kuss gegen Kampf. Vermeintlich anschmiegsame gegen ausgestellte Dominanz. Sanftmut gegen Wut. Die Dressurmethoden sind die gleichen: Viel reden und belohnen.
Carmen dagegen küsst ihre Tiger direkt auf die Schnauze. Carmen ist die Tochter einer Schriftstellerin und eines Ingenieurs, vor der Wende war sie eine DDR-Spitzensportlerin, fünfzehn Mal wurde sie DDR-Meisterin in rhythmischer Sportgymnastik, ein total gedrilltes Kind, das während der Wende noch schnell die Artistenschule machte und dann zu ihren Tieren fand. Ihre Königstiger stammen aus einem Safaripark, die Mutter hatte sie verstossen, Carmen holte die Tigerbabys vor neun Jahren zu sich und zog sie mit der Flasche gross.
Ferien hat Carmen nie, sie könnte ihre Tiger niemals in die Obhut anderer Menschen geben, die Gefahr, dass sie dort misshandelt werden könnten, sagt Anka Schmid, ist zu gross. Nur selten vermisst Carmen einen Mann, dann aber schmerzlich, sie würde sich gerne anlehnen, nicht nur immer allein ihren riesigen Lkw mit den Tieren fahren, allein ihr kleines Dorf in irgendeinem Zirkus aufbauen, nicht nur immer die furchteinflössende Domina sein müssen. Und Carmen weint. Aber nicht über ihre eigene Einsamkeit, sondern weil einer ihrer Tiger ins Spital muss. Er hat Nierensteine.
Anders als Anosa, Carmen und Namayca arbeiten die Russinnen in einem subventionierten Staatszirkus und dressieren Bären. Die Mutter ist der Chef, deshalb darf sie am Morgen länger schlafen, Vater und Tochter machen die harte Arbeit. Die Tochter ist mit den Tieren die Liebste. Anka Schmid musste sich erst daran gewöhnen, wie die Russen mit den Zirkustieren umgehen, wieviel härter als alle andern, das Gesetz erlaubt das. In Russland begegnete sie – im Gegensatz zu Deutschland und der Schweiz – auch keinen Tierschützern, die sie fragten, ob sie eigentlich auf beiden Augen blind sei.
Aber Anka Schmid blieb bei der Wertschätzung ihres Themas: «Es gibt Dokfilmer wie Michael Moore, die wollen etwas entblössen», sagt sie. «Ich bewundere Leute, die sich den Feind zum Gegenstand nehmen. Und schätze die Kollegen, die mehrere Jahre mit Kriegs- oder Vergewaltigungsopfern arbeiten können. Ich hätte nicht die Kraft, mich der grössten Dramen dieser Welt anzunehmen, das würde mich umbringen. Ich arbeite aus Empathie, aus Affirmation, klar. Aber ich bin nicht verblendet.»
Die Welt der wilden, starken Frauen ist denn auch eine untergehende Welt, lange wird es sie nicht mehr geben, die Zirkus-Haltung von Wildtieren ist bereits in vielen europäischen und südamerikanischen Ländern verboten. Man kann dagegen nichts einwenden. «Wild Women – Gentle Beasts» ist deshalb auch eine Art Abschiedstournee der Dompteusen und ihrer Tiere, eine Liebeserklärung voller Grandezza, ein Denkmal, ein Film wie eine Zirkusvorstellung, mit betörenden Bildern von betörenden Wesen, zwischen denen es bloss eine fragile und deshalb umso faszinierendere Harmonie gibt.
Denn die Tiere werden nie zu Freunden. Zwar vertraut, aber nicht so, dass die Frauen ihnen vertrauen könnten. Bei jeder Schwäche greifen sie an. Beissen zu. Töten. Siegfried und Roy mit ihrem weissen Tiger, der nach sieben Jahren zuschlug und Roy zerfleischte, sind das beste Beispiel dafür. Weshalb die Dreharbeiten für Anka Schmid und ihr Team auch nicht einfach waren. Natürlich war's lustig, wenn Namaycas kleine Löwen nach dem in einen grauen Pelz eingepackten Mikrofon schnappten, weil sie darin ein anderes Tier zu erkennen glaubten.
Aber Carmens kamerascheue Tigerin war gefährlich. Sie hasste denn schleichenden Gang des Kameramanns und sein drittes Auge, «sie entdeckte ihn auch mitten im Publikum, sie fühlte sich bedroht, machte die andern unruhig und die Situation für Carmen lebensgefährlich. Schliesslich wurde die Kamera verkleidet wie eine Vogelscheuche.»
Die Raubkatzen und Bären, sagt Anka Schmid, fühlen sich vom Publikum sonst nicht gestört. Sie wollen in der Manege genau eine Aufmerksamkeit. Die der Frau. Und wehe, die Frau gehört ihnen nicht mit allen Sinnen. Dann schlagen sie zu. So wie Aliyas Bärin, die ihr eine krallenbewehrte Ohrfeige versetzt, als sie eine Millisekunde lang nicht total fokussiert ist. Die letzten Tiger-Lillys dieser Welt mögen streng sein. Ihre Tiere sind noch strenger.
«Wild Women – Gentle Beasts»: Ab 17. September im Kino.
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