1960 Jahre Thronbesteigung Nero scheint für manch einer vielleicht kein legitimes Jubiläum zu sein, um über diesen eigenwilligen Kaiser in ausgedehntem Masse zu berichten. Heute ist jedenfalls auch sein Todestag, der in Ermangelung des genauen Thronbesteigungsdatums herhalten musste. Obwohl auch der nicht so sicher ist.
Die zeitliche Herleitung, warum jetzt gerade ein Artikel über Nero her muss, ist also ein bisschen konstruiert. Aber würde ich noch 40 Jahre warten, bis wir das unbestritten zulässige 2000-Jahre-Jubiläum begehen könnten, so wäre ich bereits pensioniert. Oder sogar tot.
Und vielleicht würde dann niemand den Versuch mehr unternehmen, Nero in seinem Wesen zu begreifen, ohne ihn sofort für hochgradig verrückt zu halten. Das wäre doch traurig.
Manchmal aber braucht man nicht einmal die passende Zeit, um einen längst verstorbenen, zum bösen Mythos geronnenen Kaiser aus der Versenkung zu holen und ein paar feurige Sätze gegen seine schlechte Reputation zu schleudern, um ihn ein bisschen von dem Wahnsinn zu befreien, der ihm durch die Jahrhunderte hindurch so inbrünstig angedichtet wurde. Denn für mich, seinen wohl letzten, halbgeouteten Anhänger, war er vielmehr ein armes Würstchen. Zwar ein kaiserliches, aber eines, das mit seiner ganzen Wurstseele viel lieber ein bewundertes, künstlerisches sein wollte und letztlich an ebendieser Doppelrolle zugrunde ging.
Vor 1960 Jahren also hat der letzte julisch-claudische Kaiser den römischen Thron bestiegen. Mit seinem pickligen, noch nicht ganz 17-jährigen Gesicht, das zusätzlich garniert war mit ein paar vereinzelten Vorboten des später mächtig wuchernden Feuerbartes, wurde er Herrscher über dieses Reich, dessen Herz das Mittelmeer war und dessen gierige Hände sich bis nach Kleinasien, hinauf zum Schwarzen Meer und sogar nach Britannien fingerten.
Nur wurde dort auf dieser eigenwilligen Druideninsel die Präsenz der Römer noch hartnäckig bekämpft, die Kelten sammelten sich unter dem Befehl der Kriegerkönigin Boudicca, die sieben Jahre später die Römerstadt Londinium (heutiges London) in Schutt und Asche legen sollte.
Nach 13 Jahren und 8 Monaten auf dem Thron, an einem sonnigen 11. Juni im Jahre 68 n. Chr., war Nero zum Staatsfeind erklärt worden. Als Vogelfreier floh er auf leisen Sohlen und nur in einen ärmlichen Mantel gekleidet aus seinem goldenen Haus, auf das Landgut seines Freigelassenen Phaon. Dort kauerte er sich höchst unkaiserlich in eine Sandgrube, sich selbst und sein grauenvolles Schicksal für die letzten Stündchen seines Lebens betrauernd.
Der Kaiser, der so gerne ein Künstler, ein Sänger, ein Schauspieler und ein Dichter geworden wäre und doch so grandios scheiterte, rammte sich sein Schwert in den Hals. Eigentlich war er es nicht allein, das getraute sich Nero nicht, sein treuer Sekretär Epaphroditus musste die zittrige Imperatorenhand beim Zustechen führen.
Umgeben nur noch von seinen letzten vier Getreuen, darunter sein entmannter Ehemann Sporus, sprach er seine letzten Worte: «Welch ein Künstler stirbt doch mit mir!» («Qualis artifex pereo!»)
Nero ist eine der historischen Figuren, die durch die bösen Zungen der antiken Geschichtsschreiber, ihre moralisch eingefärbten Rügen, ihren Hang zur Dramatisierung und Parteilichkeit schon seit seiner ersten Verschriftlichung zum Mythos geworden ist:
Er ist der Imperator, der in seinem Wahnsinn Rom niederbrannte, um auf dem Dache seines Palastes mit dünner Stimme den Untergang Trojas zu besingen.
Er hat sich mit seiner weibischen Schauspielerfrisur auf den römischen Bühnen und in ganz Griechenland öffentlich zum Gespött gemacht. In Olympia rief er sich selbst als Sieger des Wagenrennens aus, obwohl er mit seinem prahlerischen Zehnergespann vor Beendigung des Laufes schlapp machte.
Dieser Imperator verbrachte seine wildesten Nächte mit seiner eigenen Mutter Agrippina, die ihm den Weg zum Thron ebnete: Sie kochte ihrem wackelköpfigen Onkel, Gatten und ehemaligen Imperator Claudius ein vergiftetes Pilzsüppchen – raffinierterweise handelte es sich dabei um seine Leibspeise –, was die Kaiserrochade an der Spitze Roms frühzeitig ermöglichte. Da oben sass er nun, Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus, und dankte es der Mutter, dem «herrschsüchtigen Weib», mit einem hübsch inszenierten Mord:
Er wollte sie eigentlich auf einem präparierten Schiff, das auf offenem Meer zusammenbrach, elendiglich ersaufen lassen. Agrippina aber konnte sich ans Ufer retten. Nach dem misslungenen Anschlag musste sie wissen, dass ihr Sohn ihr nach dem Leben trachtete. Sie spielte aber die Unwissende und schickte ihren Freigelassenen Agermus zu Nero, um ihm zu berichten, «dass sie diesem schweren Schicksalsschlag entronnen sei».
Als dieser am Hof ankam und bei Nero vorsprach, improvisierte der Kaiser einen Mordanschlag gegen sich selbst: er warf dem Boten ein Schwert zwischen die Füsse und rief: «Ein von der Mutter gesandter Mörder!». Während man den auf diese Weise getäuschten Agermus in Ketten legte, brachte der Henker Anicetus seinen Auftrag zu Ende und stiess der Kaiserin Mutter seinen Dolch in den Leib.
Zuvor hatte sich der 18-jährige Princeps schon seines Adoptivbruders Britannicus entledigt. Ganz nach dem Vorbild der mütterlichen Tötungsvariante wurde der Knabe während eines Abendmahls hinterhältig mit vergiftetem Wein in die ewigen Jagdgründe geschickt. Er hatte eben die schönere Stimme als Nero. Seine Leiche wurde mit Gips bestrichen, damit die verräterischen bläulichen Giftflecken nicht zu sehen waren.
Er verstiess, verbannte und tötete seine erste Gattin Octavia wegen angeblichen Ehebruchs, während er sich schon mit seiner künftigen vergnügte und sich neben dieser einen Jungen zur «Ehefrau» nahm, ihn in ein hübsches Kleidchen steckte und kastrieren liess.
Als das prunkvolle Rom in einem Meer von Flammen niederging, wurden Stimmen laut, die sagten, der verrückte Kaiser habe in einem künstlerischen Anfall die Stadt angezündet. Nero war gezwungen, den Verdacht von sich abzulenken, also schob er den Christen die Schuld in die Schuhe. Sie waren die idealen Sündenböcke, diese seltsame Truppe, die einen Sklaven (Jesus) verehrte und nur Verachtung für die römischen Götter hegte. Nur einen einzigen, angeblich gütigen Gott himmelten sie an, der aber war nicht ihr Kaiser.
Und so liess er die Christen in rauen Scharen hinmetzeln. Sie starben grausame Tode in der Arena, zerfleischt von hungrigen Löwen oder endeten als lebende Fackeln, in Tierhäute gesteckt, in Neros Palastgarten. Sie starben still ihr Martyrium für ihren «Sklavengott», während Nero in der Tracht eines Wagenlenkers zwischen den brennenden Christen herumfuhr, durch seine raffinierte Grausamkeit in höchste Selbstbewunderung versetzt.
Dieser Katalog an Schauerlichkeiten lässt nur einen Schluss zu: Dieser Nero, der war ein vollkommen durchgeknallter, sadistischer «Saucheib». Aber ist es wirklich so einfach?
Natürlich können wir niemals wissen, wie er wirklich war, so wie wir ja auch nie wissen, wie die Menschen, die wir kennen, wirklich sind. Nie ist nur eine Wirklichkeit da und eine einzige Wahrheit schon gar nicht.
Wir können aber versuchen, ihn ein bisschen menschlicher zu zeichnen, seine Motivation zu verstehen und diejenige derer, die ihn so verflucht haben. Wenn es schon nicht die eine Wahrheit gibt, so müssen zumindest die Fünkchen davon irgendwo im Erdichteten liegen.
Neros Leidenschaft für das Theater suchte bereits seine Mutter zu unterbinden. Kaum hatte er den Thron bestiegen, begann er mit der täglichen Stimmbildung: Er machte immerzu Sprechübungen mit einer Bleiplatte auf der Brust und reinigte seinen Körper durch ordentliche Darmspülungen.
Agrippina aber wollte nicht, dass er sich im Singen und im Kithara-Spiel (Saiteninstrument ähnlich der Lyra, aber lauter) betätigte, er sollte zu einem fähigen und ernstzunehmenden Kaiser heranwachsen. Nero jedoch tat sich mit dem primitiven Schauspielerpack zusammen, mass sich sogar mit ihnen in den Theaterwettkämpfen auf römischen und griechischen Bühnen.
Cicero beschreibt die Schauspieler als die Verkörperung der Scheinhaftigkeit schlechthin; sie würden ihre Gesichter hinter Masken verbergen, lügen und Rollen spielen. Für die römische Elite waren diese Künstler moralisch verwerfliche Gestalten, die man auch mittels Heiratsverboten und dem Ausschluss vom Militär an den Rand der Gesellschaft zu drängen versuchte.
Der Caesar als der nobelste aller Römer buhlte also mit den verrufenen Schauspielern um den sinnlosen Sieg, «bei dem er den Ölzweig, den Lorbeer, den Eppich oder den Fichtenkranz empfing, den politischen Kranz aber verlor».
Er büsste mit seinen Auftritten seine politische Legitimation ein, weil er die gesellschaftlichen Verhältnisse verkehrte: Im Theater diente die starre Sitzordnung als Spiegelbild der gesellschaftlichen Hierarchie. Dort wurden den Senatoren und Rittern Ehrenplätze zugewiesen, während die Zivilisten von den Soldaten, die Freien von den Sklaven und die Verheirateten getrennt von den Ledigen sassen. Jeder nahm seinen Platz gemäss seiner sozial-rechtlichen Stellung ein.
Nur Nero verliess seinen ihm zugedachten Platz, kehrte der kaiserlichen Loge den Rücken zu, um sich den Zuschauern als Künstler zu präsentieren. Damit durchbrach er nicht nur die gesellschaftliche Rangordnung, sondern stellte sie geradezu auf den Kopf.
Er wollte sich als Künstler inszenieren, also tat er es, und sei es zum Grauen der gesamten Elite. Ganz Rom zwang er, ihm seine Ohren zu leihen, seinem Gesang zu lauschen und ihn stürmisch zu beklatschen. Sueton berichtet uns sogar, dass es den Zuschauern nicht gestattet war, das Theater zu verlassen, während er sang: Frauen hätten während der Vorstellung geboren und Männer, des «Zuhörens und Lobens» müde, seien heimlich von der Mauer gesprungen oder hätten sich totgestellt, um herausgetragen zu werden.
So verschmolz Neros Kaiserrolle mit der des Künstlers, sie waren untrennbar miteinander verzahnt. In der Angst, einen Wettbewerb verlieren zu können, bestach oder verleumdete er angeblich seine Gegner, stellte ein Heer von bezahlten Lobhudlern auf, sein ganz eigener Fanclub, der seine «göttliche Stimme» unablässig zu preisen hatte. War er also nicht mehr als ein Kaiser, der seine Macht in Verkleidung eines Künstlers zelebrierte?
Die Vorstellung, dass der verrückte Künstlerkaiser seine eigene Stadt anzündete, hat bis heute ihre Magie nicht eingebüsst. Sie beschreibt ein Monstrum, das in eine brennende Menge hineinsingt, mit grausig schlechten Versen und einem kümmerlichem Stimmchen. Ein geistig umnachteter Kaiser, der einen unmoralischen Gott spielt. Ein Wahnsinniger, der in der Zerstörung die wahre Ästhetik wittert und der nur das Feuer für würdig genug hält, seinem Gesang als Kulisse zu dienen.
Doch dieser schauerlichen Szene zum Trotz hat Nero Rom nicht in Brand gesetzt. Und ebenso wenig wollte er seine neue Stadt Neronia auf der Asche des alten Roms aufbauen.
Das sieht zumindest die heutige Forschung so. Die meisten antiken Geschichtsschreiber, die Nero nicht zuletzt wegen seines Künstlertums verachteten, das sich für einen Kaiser so gar nicht ziemte, meisselten nur die Gerüchte in Stein, die damals schon durch die ruinierten Gassen fegten.
Sie widersprechen sich aber allein darin, wo Nero gestanden haben soll, als er das Flammenmeer besang: Bei Dio soll es das Dach seines Palastes gewesen sein, Tacitus spricht von seiner Hausbühne und Sueton meint, er sei auf dem Turm des Maecenas gesehen worden. Sicherlich hat ihn in diesem Chaos niemand irgendwo gesehen. Es war auch gar nicht möglich, denn als der Brand ausbrach, weilte der Kaiser ausserhalb der Hauptstadt, in Antium.
Rom brannte auch nicht zum ersten Mal im Jahre 64. In der sommerlichen Hitze brachen etliche Feuer aus, vor allem in den dicht zusammengebauten Holzbuden, von wo aus auch das neronische Feuer seine Schneise der Zerstörung zog. Vielleicht stand Nero sogar irgendwo auf einem erhöhten Punkt, weil er sich eine Übersicht über die Ausmasse der Katastrophe verschaffen wollte. Jedenfalls öffnete er seine Türen für die Obdachlosen und leitete Baumassnahmen ein, die die Verbreiterung der Strasse und den Anbau von Vorhöfen zur Verhinderung weiterer Brände vorsahen.
Wenn wir Nero nicht von allen Vorwürfen frei waschen können, so doch wenigstens von dem des Brandstifters. Dennoch scheint sein Mythos auf dieser Szene zu beruhen und er lässt sich durch ein bisschen Rüttelei an diesen Grundfesten auch nicht zum Einsturz bringen. Zu viel Macht geht von diesem Bild aus: Hier treffen sich Antike und Moderne, hier kann man den moralisch verwerflichen Kaiser des 1. Jahrhunderts vereinen mit dem Wahnsinn des künstlerischen Genies. Nero, ein geisteskranker Narzisst mit Gotteskomplex, der allein der moralfreien Kunst diente. Ihm Talentlosigkeit zu unterstellen, macht seine Figur zur perfekten Ausgeburt der Lächerlichkeit und nimmt ihm ein bisschen den Schrecken, den er mit seiner Grausamkeit zu verbreiten vermochte.