Nehmen wir an, der Chronist hätte von einem ausländischen Medium – sagen wir mal der «New York Times» – den Auftrag, über den Stau am Gotthard eine kleine Reportage zu schreiben. Über diesen Alpenübergang, an dem sich vor einem Tunnel zur Ferienzeit die Benzinkutschen kilometerlang stauen. Was natürlich, zwecks Recherche, eine Fahrt dorthin erfordert.
So macht er sich im Zentrum der Schweiz (aus dem Grossraum Langenthal) auf den Weg nach Süden. An einem Tag, an dem ein Stau erwartet werden darf. Er fährt natürlich nicht wegen eines Auftrages aus New York. Sondern um der Zerstreuung willen in die Toskana zu gelangen.
Es gäbe auch andere Wege als durch die «steinerne Seele der Schweiz». Beispielsweise über den San Bernadino. Das wird sogar offiziell empfohlen. Oder über den Grossen St. Bernhard. Was aber einen mehr als zweistündigen Umweg erfordert. Ist es nicht einfacher, diese zwei Stunden fahrend statt am Gotthard stehend in Kauf zu nehmen?
Am Ende wählt er seltsamerweise eigentlich entgegen der Vernunft (er hat ja keinen Auftrag aus New York und könnte seinen Weg frei wählen), die Route über den Gotthard.
Der Chronist ist schon an allen möglichen Orten mit dem Auto unfreiwillig stillgestanden. Aber wunderbarerweise über all die Jahre auf den Reisen in den Süden noch nie am Gotthard in den wohl berühmtesten Stau geraten. Es hat sich einfach noch nicht ergeben. Schliesslich treten Ambris Eisheilige, die letzten Helden am Gotthard, vor allem im späten Herbst und Winter auf und begeben sich im Frühling zeitig zur Ruhe.
Sonntag, den 17. Juli 2022. So gegen 05.00 Uhr ist die ideale Zeit zum Aufbruch. Freie Fahrt auf der Autobahn. An Luzern vorbei, entlang dem Vierwaldstättersee und durch den Seelisberg-Tunnel. Ach, könnten wir doch immer so bis nach Italien fahren.
Die Freude wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern. Aus dem Radio wird kurz nach 06.00 Uhr bereits eine Stau-Wartezeit von fast einer Stunde gemeldet. Wie das wohl ist, wenn sich die Räder dort oben eine Stunde lang oder womöglich länger nicht mehr recht drehen können? Ist es anders als im Flachland unten vor dem Gubrist? Wirkt die gewaltige Berglandschaft beruhigend? Werden wir angesichts der hoch aufragenden steinernen Titanen bescheiden und demütig und erkennen, dass eine Stunde vor dem Gotthardloch im Vergleich zu Ewigkeit rein gar nichts ist? «Mythos Gotthardstau.»
Nach dem Seelisbergtunnel: immer noch freie Fahrt. Und da kommt dem Chronisten ein ketzerischer Gedanke. Was, wenn er die Autobahn schon unten in der Ebene, bei Amsteg verlässt und die alte Passstrasse nimmt? Sozusagen auf den Spuren der letzten Postillione vom Gotthard? So wie unsere Väter nach Süden gerollt sind?
Aber das macht wohl wenig Sinn. Jeder hat heutzutage im Wagen dieses Gerät, das uns aus dem Weltraum über einen Satelliten den Weg weist und Alternativen anzeigt, wenn es irgendwo klemmt.
Da werden zu viele auf den gleichen Gedanken kommen, dem unvermeidlichen Stau auf der Autobahn zu entgehen. Auch die alte Passstrasse wird hoffnungslos verstopft sein. Und irgendwie lockt einfach dieser berühmte Stau. Muss man den nicht einfach erlebt haben? Mythos Gotthardstau.
Und doch: Warum nicht weg von der Autobahn? Sozusagen als Rebell, der sich weigert, dem Lemming gleich den anderen zu folgen. Er nimmt mutig die Ausfahrt Amsteg.
Die Fahrt geht nun hinauf durchs Land Uri. Eine der Keimzellen der Schweiz. Die Strassen frei und leer. Linkerhand verläuft die Autobahn. Ab und zu ist ein Blick auf das Betonband zu erhaschen, das sich dem Berg entlangzieht. Und tatsächlich: Dort stauen sich die Autos. Wie kann das sein? Die schön ausgebaute Landstrasse ist praktisch leer.
Eines wird klar: Die Fahrt blindlings in den Stau ist offensichtlich freiwillig. Weil wohl einfach jeder oder jede dem anderen oder der anderen hinterherfährt.
Kann das sein, einfach freie Fahrt in den Süden, wenn die Autos vor dem Gotthardloch kilometerlang anstehen? Ja, es ist so. Freie Fahrt. Auch durch die Schlucht der Schöllenen von Göschenen hinauf nach Andermatt.
Einen Moment lang denkt der Chronist, dass der Pass vielleicht geschlossen ist und deshalb niemand diesen Weg gewählt hat. Aber die Passstrasse ist offen. Nach Andermatt wird die Landschaft offener, im Licht der frühen Sonne ein wenig wie im Film «Herr der Ringe». Atemberaubend. «Mythos Gotthard». Und oben hat die Herberge schon geöffnet. Das Frühstück kostet zwar 28 Franken. Aber es ist den Preis wert.
War es bloss ein Zufall, dass sich an diesem 7. Juli die Autos vor dem Gotthardloch stauten und niemand bemerkte, dass die Passstrasse praktisch verkehrsfrei blieb? Dass eine störungsfreie Fahrt durch eine wunderbare Landschaft nach Süden möglich war? Oder ist es eine Art «Mythos Gotthardstau», der die Automobilistinnen und Automobilisten magisch anzieht und den Gotthard zum Berg der Lemminge macht?
Oder fürchten viele die Fahrt von Göschenen durch die Schöllenen hinauf nach Andermatt und über den Pass im Wissen, dass der grosse russische General Alexander Suwarow mit seinem Heer im Herbst 1799 beim Zug über den Gotthard und durch die Schöllenen beinahe zu Grunde gegangen ist? Während doch der Hannibal in alter Zeit andernorts sogar mit 50'000 Soldaten und mehr als 30 Elefanten mehr oder weniger heil über die Alpen gekommen ist. Der Gedanke ist heute ja erst recht beklemmend: die Russen am Gotthard! Wahrlich, «Mythos Gotthard».
Oder fürchten sie insgeheim die Macht des Bösen angesichts der atemberaubenden, mythischen Berglandschaft? Nach wie vor ungesühnt ist nämlich der Betrug der Urnerinnen und Urner am Teufel. Der baute ihnen einst die Brücke über den Höllenschlund der Schöllenen für den Lohn der ersten Seele, die über den Steg gehen sollte. Die schlauen Urnerinnen und Urner jagten einen Geissbock hinüber und als der Bocksfüssige im Zorn einen Felsbrocken auf die schöne neue Brücke schleudern wollte, soll ein Mütterchen das Kreuzeichen gemacht haben. Der Felsbrocken liess sich nicht mehr bewegen und der Teufel fuhr in die Hölle hinunter.
Andere Überlieferungen sagen, man habe dem Teufel die Klauen mit Weihwasser besprengt und er hab den Felsbrocken kraftlos fahren lassen. Wenn man genau hinschaue, sehe man an dem Felsen heute noch die eingebrannten Abdrücke seiner feurigen Pfoten.
Ja, was, wenn der Leibhaftige wiederkehrt und die schöne neue Strasse durch die Schöllenen hinauf mit Naturgewalten zerstört? Auch das gehört zum «Mythos Gotthard». Da bleibt man doch lieber auf der Autobahn.
Der grosse Rudolf Augstein (Gründer des berühmten Magazins «Der Spiegel») hat einst gelehrt: «Schreiben, was ist». Wäre es nun tatsächlich ein Auftrag der «New York Times», dann müsste der Chronist schreiben: Den Stau am Gotthard gibt es tatsächlich. Aber er ist ein Mythos, der die Automobilistinnen und Automobilisten anlockt und sie fahren hintereinander auf das Tunnelloch zu wie Lemminge, um dort stundenlang zu warten. Sie merken nicht, dass sie auf einer der schönsten Passtrassen der Welt freie Fahrt in den Süden hätten. Der Gotthard als geheimnisvoller Berg der Lemminge.