Es hätte ein grosser Triumph werden können. Die Bürgerlichen schafften es endlich, eine Sozialreform gegen den Widerstand von SP und Gewerkschaften durchzubringen. Doch so sehr sich die Bürgerlichen freuten, nach einem Vierteljahrhundert eine AHV-Reform geschafft zu haben: Für ein rauschendes Fest fiel das Resultat zu knapp aus - viel knapper, als es die Umfragen im Vorfeld hatten erwarten lassen.
50.6 Prozent sagten Ja zur AHV-Vorlage. Das Rentenalter der Frauen steigt damit auf 65 Jahre, die Übergangsgeneration erhält im Gegenzug einen Rentenzuschlag. Weiter wird der Rentenbezug für Männer und Frauen flexibilisiert. Das wichtigste Sozialwerk erhält zudem mehr Geld: Das Stimmvolk sagte mit 55.1 Prozent Ja zur Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 8.1 Prozent.
Für die Bürgerlichen ist es ein langersehnter Sieg. Die Blockademacht der Linken wurde durchbrochen - wenn auch knapp. «Das Resultat zeigt, dass auch ein bürgerlicher Kompromiss in der Sozialpolitik vor dem Volk Bestand haben kann», sagt FDP-Präsident Thierry Burkart.
Wird die #AHV21 Vorlage angenommen, ist dies das Ende des Linken Sozialpolitik-Diktats! Die Bürgerlichen sind die konstruktiven Kräfte in diesem Land!#Abst22 #AHV
— sgv-usam (@gewerbeverband) September 25, 2022
Das ist ein Fanal für die nächste Reform, die bereits in den Startlöchern steckt. Das Parlament hat den Bundesrat den Auftrag erteilt, bis Ende 2026 eine Vorlage zur Stabilisierung der AHV für die Zeit ab 2030 vorzulegen. Hängig sind zudem zwei Volksbegehren: die Renteninitiative der Jungfreisinnigen und die Initiative für eine 13. AHV-Rente der Gewerkschaften.
Damit kommt unweigerlich auch ein heisses Eisen wieder auf den Tisch - die Frage des Rentenalters. Die Initiative der Jungfreisinnigen fordert, dass dieses zunächst schrittweise auf 66 Jahre steigt und danach an die Lebenserwartung gekoppelt wird. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab; er hielt aber fest, die Forderung nach einer Erhöhung des Rentenalters sei «grundsätzlich berechtigt».
Das knappe Resultat vom Sonntag werten insbesondere linke Politiker jedoch als klares Zeichen, dass eine Erhöhung des Rentenalters nicht mehrheitsfähig ist. «Das Ergebnis zeigt, dass eine Rentenaltererhöhung der falsche Weg ist», sagt Gewerkschaftsboss und SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard. Er verweist darauf, dass laut Umfragen die Frauen als Direktbetroffene mehrheitlich gegen die AHV -Vorlage waren. Bei einer generellen Erhöhung des Rentenalters wäre die Opposition noch stärker, glaubt Maillard. SP-Sozialpolitikerin Barbara Gysi sagt: «Eine Erhöhung des Rentenalters ist tabu. Die Renteninitiative der Jungfreisinnigen ist chancenlos.»
Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen, widerspricht. Man könne aus dieser Abstimmung nicht schliessen, dass eine Erhöhung des Rentenalters politisch nicht mehrheitsfähig sei, sagt er. «Wichtig ist, dass wir die linke Vetomacht durchbrechen konnten. Jetzt ist der Weg frei für konstruktive Diskussionen.» Die Jungfreisinnigen hätten mit der Initiative einen Vorschlag vorgelegt. Müller betont: «Wir wollen in Zukunft null Defizite in der AHV. Dafür fordern wir ja nicht Rentenalter 74 wie in Dänemark, sondern nur 66 Jahre in einem ersten Schritt.»
Die Renteninitiative bietet dem Parlament die Möglichkeit, das Heft in die Hand zu nehmen: Gewisse Bürgerliche liebäugeln damit, einen Gegenvorschlag dazu zu zimmern. Andere warnen hingegen, man dürfe nicht überborden.
Konsens besteht, dass es eine weitere Reform braucht, damit die AHV auch in den 2030er Jahren auf stabilen finanziellen Füssen steht. Die Ausgaben wachsen, weil die geburtenstarken «Babyboomer»-Jahrgänge nun in Pension gehen und die Lebenserwartung steigt.
Wie genau eine Reform aussehen soll, ist aber noch offen. Zwei Ideen stehen derzeit im Vordergrund - eine Art Schuldenbremse oder das Modell der Lebensarbeitszeit. Für ersteres werben insbesondere Stimmen aus FDP und SVP: Wenn sich abzeichnet, dass die AHV in Schieflage geraten wird, würde die Politik gezwungen zu handeln oder es würden automatisch gewisse Massnahmen in Kraft treten.
Eine andere Option bringt insbesondere die Mitte-Partei ins Spiel: die Einführung einer Lebensarbeitszeit. Jemand, der mit 16 eine Lehre gemacht hat, könnte damit früher in Pension gehen als jemand, der nach einem Studium erst mit 25 ins Berufsleben einsteigt. Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel sagt: «Dank dem Ja zur AHV-Vorlage haben wir nun Zeit, das Modell der Lebensarbeitszeit vertieft zu prüfen.» Auch von linker Seite wird dies als interessanter Ansatz angesehen; sie fordert aber insbesondere Rentenerhöhungen.
Als erstes richten sich die Blicke nun aber auf die Reform der zweiten Säule. Im Abstimmungskampf betonten die Befürworter, die Rentensituation der Frauen müsse in der beruflichen Versorge verbessert werden. Das implizite Versprechen: Frauen müssen ein Jahr länger arbeiten, werden dafür aber in der zweiten Säule besser abgesichert. Denn heute erhalten Frauen im Schnitt rund ein Drittel weniger Rente als Männer; viele Frauen haben keine zweite Säule.
Diese wichtige Reform kam zuletzt nicht vom Fleck. In der Wintersession soll sich nun der Ständerat damit beschäftigen. Insbesondere Personen, die Teilzeit arbeiten oder wenig verdienen, sollen besser gestellt werden. Strittig ist - vereinfacht gesagt - aber, ob sie selber mehr ansparen sollen oder ob ihre Renten durch Umverteilung aufgebessert werden sollen. Die Zeichen stehen derzeit auf der ersteren Variante, die Linke pocht auf die zweite. Gut möglich also, dass das Stimmvolk dereinst das letzte Wort hat - und die Blockademacht der Linken erneut geprüft wird.
Soviel Populismus muss sein.