Die erste und einzige TV-Debatte zwischen Angela Merkel (CDU) und Herausforderer Martin Schulz (SPD) am Sonntagabend wird von den Fernsehanstalten als Entscheidungsschlacht ums Kanzleramt verkauft. Dabei ist die Entscheidung wohl bereits gefallen. Er halte einen SPD-Sieg für «ausgeschlossen», sagt ein unverdächtiger Beobachter: Nationalrat Tim Guldimann ist nicht nur Mitglied der Schweizer SP, sondern auch der SPD. Der ehemalige Botschafter in Berlin hält sich zurzeit in Deutschland auf und traf unter anderem den sozialdemokratischen Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz. Guldimanns Eindruck: «Man hofft in der SPD bereits auf die Wahlen 2021.»
Noch vor einem halben Jahr hing der SPD-Himmel voller Geigen. Am Parteitag sei er «tief gerührt» gewesen von der Euphorie um Martin Schulz, sagt Guldimann, es habe Wechselstimmung geherrscht. Der Schulz-Hype erwies sich als kurzes Zwischenhoch, drei Niederlagen bei Landtagswahlen zerstörten den Nimbus des Ex-EU-Chefbeamten.
Derweil punktet die eben noch müde wirkende Merkel bei WahlkampfAuftritten und Interviews, etwa mit jungen Youtubern, indem sie auf die boomende Wirtschaft verweist, auf die fast schweizerisch tiefe Arbeitslosigkeit und die Erhöhung des Mindestlohns – eine Idee der SPD, die sie sich zu Eigen macht, ohne dabei aber, und das kann so wohl nur Merkel, triumphierend zu erscheinen. Selbst wenn sie von ihren Erfolgen spricht, klingt das nahezu bescheiden.
Die Sache scheint also gelaufen, und auch die Schweiz kann sich auf eine vierte Merkelsche Amtsperiode einstellen. Im Bundesrat sind die meisten Mitglieder froh darum. Mindestens drei glühende Merkel-Fans sitzen in der Schweizer Regierung:
Johann Schneider- Ammann hat die Kanzlerin in seinem Präsidialjahr nicht weniger als fünfmal getroffen. Eine Begegnung war ungeplant und rekordverdächtig lang: Merkel nahm Schneider-Ammann in ihrem Flugzeug mit von der Mongolei nach Deutschland, weil der Flug des Bundesrats ausgefallen war. Sieben Stunden verbrachte er dabei mit der Kanzlerin. Die beiden verstehen sich ausnehmend gut – auch, weil weder er noch sie Selbstdarsteller sind.
Es heisst, Angela Merkel sei ihr grosses Vorbild. Bei ihren Treffen haben sich die beiden Christdemokratinnen blendend verstanden, die gemeinsamen Fotos sprechen Bände. In der Energiepolitik eifert Leuthard der deutschen Kanzlerin nach (Atomausstieg).
Sie traf Merkel in Bern, als im Herbst 2015 die Flüchtlingskrise losbrach. Merkel isolierte sich in Europa mit ihrer Politik der offenen Scheunentore, doch Sommaruga hielt zu ihr: Sie sei «beeindruckt» von Merkel, sagte sie, und «dankbar»: «Ich schliesse mich ihrer Haltung an.»
Unsere Bundesräte sind also wieder vernetzt mit der deutschen Regierungschefin wie einst Adolf Ogi und Flavio Cotti mit Helmut Kohl, dem «Freund der Schweiz», wie er sich selber bezeichnete. Eine Nähe, die bei Gerhard Schröder nie entstand. Aber hilft das über die Eitelkeit der Bundesräte hinaus auch dem Land?
Ex-Botschafter Tim Guldimann relativiert: «Die Schweiz kommt bei Merkel unter ‹ferner liefen›. Wir geniessen Goodwill bei ihr, aber das heisst noch lange nicht, dass sie Konzessionen macht.» Merkel verbrachte wiederholt Wander- und Langlaufferien in Pontresina GR, sie nächtigte im Drei-Sterne-Hotel «Schweizerhof». Dennoch sei die Schweiz für sie, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist, weit weg.
Ähnlich fällt die Beurteilung von SVP-Nationalrat Roger Köppel aus. Der «Weltwoche»-Verleger lernte Merkel als damaliger Chefredaktor der «Welt» kennen. «Merkel interessiert sich nicht gross für die Schweiz», sagt er. Ihre Politik aber sei gefährlich für die Schweiz, Stichwort illegale Migration, Gelddruckerei im Euroraum, kopfloser Atomausstieg. «Leider schielen viele Schweizer Intellektuelle und Politiker, vor allem die Bundespräsidentin, allzu fasziniert auf Merkel», sagt der SVP-Nationalrat.
Wie sich Deutschland künftig gegen- über der Schweiz verhalten wird, wird massgeblich davon abhängen, wen Merkel zum Aussenminister macht. Die Schweiz-freundlichste Partei Deutschlands ist die FDP, die – vor vier Jahren totgesagt – im Aufschwung ist (siehe Kasten oben). Koaliert Merkel nicht mehr mit der SPD, sondern mit der FDP, dürf- te sie den Aussenminister stellen. «Für die Schweiz wäre das ein Vorteil», sagt SP-Nationalrat Guldimann. Probleme sieht er aber auch nicht, wenn sein Parteikollege Sigmar Gabriel Aussenminister bleibt: «Gabriel ist pragmatisch und offen gegenüber der Schweiz.»
Das Verhältnis der beiden Länder ist zurzeit so entspannt wie schon lange nicht mehr. Das Bankgeheimnis, der grösste Zankapfel der letzten Jahrzehnte, ist gefallen. Noch 2009 drohte der damalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Stein- brück mit der Kavallerie. Auch das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative führte zu keinen grossen Verwerfungen. Es war Merkel, die damals sagte, Deutschland werde sich bei der EU für eine «vernünftige Lösung» einsetzen.
Wie harmonisch die Beziehungen sind, zeigte sich kürzlich an der Feier zum 150-jährigen Bestehen der Schweizer Botschaft in Berlin. Einzig die Spionage-Affäre um Daniel M. sorgt für negative Schlagzeilen. Aber diese werde masslos überschätzt, sagt Ex-Botschafter Guldimann: «Ein lächerliches Geplänkel» sei das.
Mit wem man auch immer in Bern spricht, es heisst stets, Merkel sei für die Schweiz das Beste oder im Vergleich zu Schulz zumindest «das kleinere Übel» (Köppel). Der Zuger FDP-Ständerat Joachim Eder, Präsident der Delegation für die Beziehungen zum Deutschen Bundestag, formuliert es so: «Angela Merkel garantiert auch der Schweiz Stabilität, Vertrautheit und freundschaftliche Beziehungen. Sie ist sehr gut für uns.»