Ältere Semester können sich noch an die Zeit erinnern, als der Walensee den Übernamen «Qualensee» hatte. Er bezog sich auf die schmale Kantonsstrasse am Seeufer, auf der an Wochenenden und Feiertagen der Autoverkehr zwischen dem Mittelland und Graubünden regelmässig zum Erliegen kam. Der Stau in der Ostschweiz war ein nationales Ärgernis.
Daran erinnerte Verkehrsminister Albert Rösti, als er am Donnerstag die Argumente für den Autobahn-Ausbau präsentierte, über den am 24. November abgestimmt wird. Seit der Eröffnung der Walensee-Autobahn 1987 gebe es keine Staus mehr, sagte Rösti. Deshalb machten die sechs Autobahnprojekte für knapp fünf Milliarden Franken Sinn.
Allerdings begeht der SVP-Bundesrat, ob gewollt oder ungewollt, einen Denkfehler. Die A3 am Walensee ist eine typische Durchgangs- und keine Pendlerautobahn. Der Verkehr kann sich einfacher verteilen als in den Agglomerationen, wo er aus allen Richtungen «einfällt», was während der Rushhour am Morgen und Abend fast permanent zu Staus führt.
Das Bevölkerungswachstum verschärft diese Entwicklung. Rösti verwies darauf, dass das heutige Nationalstrassennetz in den 1960er-Jahren geplant wurde, als die Schweiz knapp sechs Millionen Einwohner hatte. Seither hat die Bevölkerung um 50 Prozent zugenommen. Das führt zu Engpässen im öffentlichen Verkehr und im motorisierten Individualverkehr.
Staus auf den Autobahnen aber führen zu Ausweichverkehr durch Städte und Dörfer und damit zu Belastungen durch Lärm und Schadstoffe. Von der Gefährdung für Fussgänger oder Velofahrer ganz zu schweigen. Mit dem Ausbau der Autobahnen würden die Strassen wieder sicherer, stellte Bundesrat Rösti dem Stimmvolk am Donnerstag in Aussicht.
Die Gegner der Ausbauvorlage unter Führung des VCS, die das Referendum ergriffen haben, sprechen hingegen von einer «überholten Verkehrspolitik». Die Erweiterung der Autobahnteilstücke werde unweigerlich mehr Verkehr verursachen, der wieder in die Dörfer und Städte ausweichen würde. Selbst Albert Rösti konnte dies nicht völlig abstreiten.
Ein «Walensee-Effekt» ist in den Agglomerationen, in denen der grösste Teil der Bevölkerung ansässig ist, nicht zu erwarten. Schon heute muss der Bund zur Entschärfung des Stauproblems «Tricks» anwenden, etwa indem Pannenstreifen in Fahrspuren umgewandelt werden. Und Verkehrsplaner bezweifeln den Nutzen der teuren Ausbauprojekte.
Sie haben per Öffentlichkeitsgesetz Zugang zu den Projektunterlagen erhalten, wie «10vor10» berichtete. Und festgestellt, dass das Bundesamt für Strassen (Astra) beim Fäsenstaubtunnel in Schaffhausen selbst zu einer negativen Kosten-Nutzen-Analyse gelangt ist. Ähnlich sieht es beim Westschweizer Projekt zwischen Nyon (VD) und Genf aus.
Die Kapazität werde von heute 90'000 zwar auf 130'000 Autos pro Tag erhöht, doch schon 2040 sei dieser Grenzwert erreicht, und die Autos würden wieder im Stau stehen, heisst es in einer Astra-Studie, über die der «Blick» am Freitag berichtete. Pikant daran: Dieses A1-Teilstück wurde vom Parlament nachträglich berücksichtigt, um die Westschweiz «an Bord» zu holen.
Eine Erweiterung der Autobahnen schafft eben nur temporär Abhilfe. Das kann man derzeit in der grössten Agglomeration der Schweiz beobachten. Die Staus vor dem Gubrist auf der Zürcher Nordumfahrung sind seit Jahren ein Dauerbrenner in den Verkehrsmeldungen am Radio. Letztes Jahr aber wurde die dreispurige dritte Tunnelröhre Richtung Bern eröffnet.
Seither scheinen sich dort die Staus in Luft aufgelöst zu haben. Die beiden bisherigen Tunnel werden bis 2027 saniert, danach könnte es auch Richtung St.Gallen so weit sein. Ist der Gubrist also der perfekte Beweis, dass ein Ausbau der Autobahnen tatsächlich Abhilfe schafft? Schaut man rund 20 Kilometer Richtung Westen, kommen grosse Zweifel auf.
Der Baregg bei Baden (AG) war für seine Staus einst so berüchtigt wie der Gubrist. Dann wurde vor 20 Jahren die dritte Röhre in Betrieb genommen. Damit schien das Stauproblem gelöst. Mittlerweile aber hört man das Reizwort Baregg in den Verkehrsmeldungen im Radio wieder häufiger, denn während der Rushhour fliesst der Verkehr immer zähflüssiger.
Bei einer Behinderung etwa durch einen Unfall kommt es sofort zu kilometerlangen Staus. Und das Problem könnte sich verschärfen, denn der Bund plant einen Ausbau der A1 zwischen Aarau-Ost und Birrfeld ab 2031 auf sechs Spuren. Bereits wird deshalb über eine vierte Baregg-Röhre spekuliert, doch sie gilt aus diversen Gründen als nicht realisierbar.
Man kann sich ausmalen, was das bedeutet. Die NZZ brachte es vor einiger Zeit in einem Kommentar auf den Punkt: «Wird das Strassensystem leistungsfähiger, steigt seine Attraktivität, so dass sich mehr Menschen und Güter in Bewegung setzen, bis der Stau wieder zu viel Zeit, Geld und Nerven kostet. Ist ein Engpass behoben, taucht bald ein neuer auf.»
Es ist das bekannte Problem, das auch den Kampf gegen den Klimawandel und andere Umweltsünden erschwert. Solange es «gratis» ist, geschieht kaum etwas. Für die Nutzung der Nationalstrassen bezahlen wir mit der Autobahnvignette einen eher symbolischen Preis (eine Erhöhung auf 100 Franken wurde vor einigen Jahren abgelehnt). Er tut nicht weh.
Einzig Lastwagen werden mit der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) zur Kasse gebeten. Ziel ist die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Ohne LSVA wären die Staus noch prekärer, nicht zuletzt vor dem Gotthard, wo der zweispurige Tunnel als «Nadelöhr» wirkt und es Druck auf eine vollständige Öffnung der zweiten Röhre gibt.
«Selbst wenn das Netz überall für jede Spitzenbelastung ausgebaut wäre, es gäbe erneut Stau. Das Strassenangebot kann erhöht werden, bleibt aber prinzipiell endlich», meinte die NZZ. Ein Gegenmittel wäre Mobility Pricing, doch der Widerstand dagegen ist massiv. Selbst mögliche Pilotprojekte werden von bürgerlicher Seite vehement bekämpft.
Offenbar baut man lieber für Milliarden die Autobahnen aus, auch wenn der Nutzen nach einer gewissen Zeit verpufft. Und stösst bei einer Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung, wie die watson-Umfrage vom letzten Jahr und die erste Tamedia-Abstimmungsumfrage zeigen. Der «Qualensee» mag Geschichte sein, doch die Agglo-Staus werden wir nicht so einfach los.
Die Schweiz wächst und wächst. Das will man so. Strassenausbau will man nicht, ÖV Ausbau bis ins hinterletzte Kaff mit 10min Takt auch nicht. Verdichtetes Bauen und Trabantenstädte rund um die Arbeitsplätze will man auch nicht, dafür zum Teil road pricing, was wiederum der einfache Pendler nicht will. Park&Ride wollen alle nicht und ja...
Haben wir noch was vergessen?
Natürlich wird der Effekt verpuffen wenn die Bevölkerungszahl weiter steigt. Welche Lösung gäbe es denn sonst? Der ÖV ist ja in den Pendlerzeiten auch masslos überfüllt. Sollen alle in die Städte ziehen? Funktioniert ja auch wunderbar bei den hohen Wohnungspreisen. Wenn man die Autobahnen nicht ausbaut, verbessert man dadurch ja auch nichts. Die Staustunden werden dadurch einfach noch weitersteigen und der Volkswirtschaftliche Schaden nimmt weiter zu.
1. dass der Kapazitätsmangel bereits heute exorbitant ist und man den Ausbau schon vor zehn Jahren hätte machen müssen.
2.) dass die Ausbaupläne alles andere als ein "massloser Ausbau" sind, wie uns gewisse Idiologen weissmachen wollen, sondern kleinen Anpassungen an den allernötigsten Ecken.
Aber: Der Individualverkehr ist ein Klimakiller und parallel zu den Strassen müsste auch der ÖV ausgebaut und stärker subventioniert werden. Wir sollten endlich aufhören, ideologisch Verkehrsmittel gegeneinander auszuspielen.