Es ist ein Donnerstag, 17 Uhr, im Spätsommer. Auf der Autobahn A3 bei Muttenz und Birsfelden stehen die Autos, Cars und Lastwagen in Reih und Glied. Kommen nur langsam voran. Feierabendstau vor der Stadt Basel.
Hitze, Lärm und Abgase steigen in die Luft. Es wirkt unvorstellbar, dass sich nicht einmal 100 Meter Luftlinie entfernt eine kleine, grüne Oase befindet. Ein Ort, an dem Bienen und Hummeln summen, Eidechsen sich sonnen, sich sogar Schlangen durchs Gebüsch winden, wie die Pächterinnen und Pächter der Familiengärten auf dem Areal Scheuerrain erzählen.
Doch dieses bunte Treiben wird bald ein Ende haben. Statt Kinderlachen wird man ab 2029 rund um die Uhr Baulärm hören. Statt Blumen, Gemüsebeeten und Sitzplätzen werden hier Bulldozer und Betonmischer stehen. Und statt Nachbarn, die sich spontan auf einen Kaffee einladen, werden hier ab 2040 Autos über Asphalt brettern. Zumindest, wenn es nach dem Bundesamt für Strassen ASTRA unter Bundesrat Albert Rösti geht.
Das ASTRA plant auf der A2 zwischen den Verzweigungen Wiese und Hagnau einen Tunnel mit zwei zweispurigen Röhren: den Rheintunnel. 18 Meter unter der Flusssohle des Rheins soll dieser verlaufen und so die Stadt Basel vom Durchfahrtverkehr entlasten. Eine der Röhren soll in Fahrtrichtung Frankreich und Deutschland bei Birsfelden beginnen. Für diese Röhre muss der Familiengarten Scheuerrain weichen.
Der Autobahnabschnitt zwischen Wiese und Hagnau gehört zu den meistbefahrenen der Schweiz und ist «insbesondere an Werktagen stark überlastet», heisst es vom ASTRA. Zahlen vom Bund zeigen, dass Autofahrende dort im Jahr 2022 im Schnitt zwei bis drei Stunden im Stau standen. Und zwar jeden Tag. «Aufgrund der Verkehrszunahme dürfte sich die Situation künftig zuspitzen», schreibt das ASTRA.
Dass auf dem Autobahnabschnitt etwas getan werden muss, war deshalb bereits für die beiden Vorgängerinnen von Albert Rösti klar: CVP-Bundesrätin Doris Leuthard, die das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) von 2010 bis 2018 innehatte, und SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die bis 2022 UVEK-Chefin war.
Das ASTRA tüftelte über Jahre an zahlreichen Lösungen, gegen die sich die Kantonsregierungen und die lokale Bevölkerung wiederholt wehrten. 2016 stand schliesslich die Idee vom Rheintunnel im Raum, dem endlich auch die beiden Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt zustimmten. 2020 gaben der Bundesrat, 2023 das Parlament grünes Licht.
2029 sollen nun die Bauarbeiten beginnen, 2040 der Rheintunnel fertiggestellt sein. Das ASTRA verspricht:
Auch die Gemeinde Birsfelden werde vom Verkehr entlastet, weil der heutige Ausweichverkehr wieder auf die Autobahn zurückkehren würde, so das ASTRA. Es geht von 30 bis teilweise sogar 40 Prozent weniger Verkehr in der Gemeinde aus.
Die Pächterinnen und Pächter im Scheuerrain glauben den Versprechen des ASTRA nicht. So etwa das pensionierte Ehepaar Erika und Cölestin Frei. An diesem heissen Spätsommerabend sind sie fleissig in ihrem Garten bei der Arbeit. Jede freie Minute verbringen sie hier im Scheuerrain. Seit 40 Jahren.
Ihre Kinder haben sie praktisch zwischen dem organisierten, bunten Wirrwarr aus Blumen, Fruchtbäumen und Gemüsebeeten grossgezogen. Erika Frei sagt: «Ich pflanze gerne das, was den Insekten gefällt.» Sie zeigt auf einen Strauch mit hellen, violetten Blumen. «Das ist Muskatellersalbei. Die schwarzen Bienen lieben ihn.»
In ihrem Fenchel habe sie dieses Jahr kleine, orange Kügelchen gefunden. «So klein wie Stecknadelköpfe», sagt Erika Frei mit einem verzückten Lächeln auf den Lippen. Es seien Eier von Schwalbenschwänzen gewesen.
Sie habe die Eier umgehend «gerettet», sich den ganzen Sommer um die Raupen gekümmert, ihnen beim Wachsen und Gedeihen zugesehen, bis sie sich verpuppten. Als aus den Kokons die ersten weissen Schmetterlinge schlüpften, habe sie diese in die Freiheit entlassen. Erika Frei strahlt über das ganze Gesicht, als sie das erzählt. Doch das Lächeln erlischt jäh, als Cölestin Frei sagt:
Erika Frei nickt und sagt: «Alle reden immer davon, dass die Städte mehr für die Biodiversität tun müssen. Wir in den Familiengärten tun das seit Jahrzehnten und mit viel Liebe. Gratis.» «Und dann kommt man und will ausgerechnet dieses letzte Stückchen Grün plattmachen», ergänzt ihr Mann.
Für die Freis ist klar: Der Rheintunnel wird nichts als Zerstörung bringen. «Und wofür? Damit nach wenigen Jahren die Autobahn wieder genau gleich verstopft ist wie heute!», sagt Cölestin Frei.
Das ASTRA hat den Pächterinnen und Pächtern im Scheuerrain bereits unmissverständlich mitgeteilt: Bis 2028 müssen sie ihre Gärten geräumt haben. Es ist eine selbstbewusste Ansage. Denn ob das ASTRA den Rheintunnel bauen darf, darüber wird das Stimmvolk entscheiden.
Umweltverbände, Vereine und linke Parteien unter der Federführung des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS) haben erfolgreich das Referendum gegen das nationale Programm zum Ausbau von fünf Autobahnteilstücken im Umfang von 5,3 Milliarden Franken eingelegt.
Eines der sechs Ausbauprojekte ist der Rheintunnel. Er allein soll 2,59 Milliarden Franken kosten. Am 24. November stimmt die Schweiz über den Autobahnausbau und somit über alle sechs Projekte ab.
Am Eingang des Familiengartenvereins Scheuerrain hängt darum ein Plakat der Gegnerinnen und Gegner. «Nein zum Rheintunnel», steht darauf.
Hoffnung, dass das Stimmvolk dem Autobahnausbau eine Abfuhr erteilen wird, hat im Scheuerrain trotzdem niemand. Auch das Ehepaar Frei nicht. Cölestin Frei sagt:
Damit könnte er recht haben. Wie eine repräsentative watson-Umfrage 2023 zeigte, ist die Mehrheit (55 %) der Schweizer Bevölkerung für oder eher für den Autobahnausbau.
Angesichts dieser Prognosen fühlen sich insbesondere jene Pächterinnen und Pächter machtlos, die selbst kein Stimmrecht haben. Von diesen gibt es einige. Viele Familiengärten wollen auf ihren Arealen eine kulturelle Durchmischung in der Gesellschaft fördern. Darum wehen im Scheuerrain nicht nur Schweizer Fahnen, sondern auch italienische, kroatische, spanische, ungarische, serbische.
Dalibor Djordjevic ist einer der Pächter, die kein Stimmrecht besitzen. Zwei Jahre hat er nach einem Platz in einem Familiengarten gesucht. Djordjevic sagt: «Ich wollte, dass meine beiden Kinder im Grünen aufwachsen und mein eigenes Gemüse anpflanzen können. Als Ausgleich.» Seine vierköpfige Familie lebt in einer Wohnung ohne Garten in Birsfelden. Vor einem halben Jahr wurde sie im Scheuerrain fündig.
An diesem Abend bringt Djordjevic zusammen mit seiner Mutter den Garten auf Vordermann, jätet, mäht den Rasen, plant, was er wo pflanzen, wie umbauen möchte. Viele seiner Ideen werden wohl Träume bleiben. «Es braucht viele Jahre, bis der Garten so ist, wie man ihn sich vorstellt. Da muss ich mich schon fragen, welche Investitionen sich lohnen», sagt Djordjevic.
Djordjevic hat sich schon damit abgefunden, dass ihm der Rheintunnel seinen Garten nehmen wird. Dass er nichts dagegen tun, nicht einmal seine Stimme dagegen in die Urne werfen kann. Und dass er danach wieder hoffen muss, einen Platz in einem anderen Familiengarten zu ergattern.
Das könnte schwierig werden. Obwohl sich die Verwaltung im Scheuerrain darum bemüht, dass die Pächterinnen und Pächter in einem anderen Familiengarten in der Umgebung wieder einen Platz finden. Das Problem: Vier weitere Familiengartenareale – in Muttenz, Birsfelden und der Stadt Basel – werden vom Rheintunnel betroffen sein.
Das ASTRA schreibt: «Die Betroffenheit ist unterschiedlich. Manche Gartenparzellen dürften endgültig aufgehoben werden müssen, andere allein während der Bauphase.»
Basel-Stadt ist gesetzlich verpflichtet, Alternativen für aufgehobene Gärten zu finden. Wo diese sein werden, ist aber noch nicht klar. Sonderlich viele freie Flächen gibt es auf Stadtgebiet nicht mehr.
Der Kanton Basel-Landschaft kennt keine solche gesetzliche Verpflichtung. Eine Arbeitsgruppe versucht, bis zu Beginn der Bauarbeiten des Rheintunnels Ersatzflächen für die Familiengärten zu eruieren. Ob das gelingen wird, ist offen.
Gemäss Otmar Halfmann, dem Präsidenten der Schweizer Familiengartenvereine, verschwinden immer mehr Familiengärten in der Schweiz. Obwohl ihre Beliebtheit – insbesondere seit der Corona-Pandemie – stetig wächst. «Der Boden, auf dem Familiengärten stehen, ist äusserst umkämpft», sagt Halfmann. Das habe historische Gründe.
Die meisten Familiengärten in der Schweiz entstanden im 19. Jahrhundert in städtischen Industriegebieten und Agglomerationen. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg förderte der Staat Familiengärten, um die Fabrikarbeiter vom Alkohol fernzuhalten und Hunger in der Bevölkerung vorzubeugen.
Gemeinden und Städte stellten Flächen zur Verfügung, die Genossenschaften und Vereine pachteten und in Parzellen aufteilten. Diese Parzellen verpachteten sie wiederum an Anwohnende.
Die 110 Parzellen im Scheuerrain sind eine kleine Besonderheit. Sie gehören der Christoph Merian Stiftung (CMS). Diese verpachtet den Boden an den Familiengartenverein Birsfelden, der wiederum Parzellen für nur etwa 300 Franken im Jahr an seine Mitglieder unterverpachtet.
Eine Immobilienfirma, ein Pharmariese, die SBB oder eben das ASTRA mit seinem Rheintunnel könnten aus dieser Fläche deutlich mehr für die Wirtschaft herausholen. In etwa so argumentierte auch Albert Rösti in einem Brief an den ältesten Pächter im Scheuerrain:
Der Pächter, der Röstis Brief erhielt, ist Erwin Grieder. Er ist 81 Jahre alt und war einer der ersten, die im Scheuerrain einen Schrebergarten bezogen. Das war 1969. In demselben Jahr stellte der Bund exakt jenen Autobahnteilabschnitt fertig, auf dem die Autos heute neben dem Familiengarten im Stau stehen.
Fotos von damals hängen an den Wänden von Grieders Gartenhäuschen. Zu sehen ist darauf etwa Grieder in kurzen Hosen inmitten einer leeren, erdigen Fläche, auf der noch kein Grashalm wächst. Seit jener Aufnahme haben die Pächterinnen und Pächter im Scheuerrain eine «grüne Insel» geschaffen, wie Grieder es nennt. «Es macht mich sehr traurig, wird das alles für immer verloren gehen.»
Im November 2023 schrieb Grieder Albert Rösti darum einen Brief. In diesem fordert er den Bundesrat dazu auf, vom Rheintunnel abzukommen. «Dieses Projekt ist eine Nötigung für Mensch und Tier!», schrieb Grieder etwa. Und:
Grieder nahm nicht an, dass Rösti den Brief tatsächlich lesen und antworten würde. Er habe sich den Frust von der Seele schreiben, einfach irgendetwas tun müssen. Doch nach nur drei Wochen lag Röstis Antwort in Grieders Briefkasten.
«Er schrieb natürlich nur irgendwelche Allgemeinplätze», sagt Grieder enttäuscht. Rösti bedankte sich für Grieders «Interesse an der Verkehrs- und Umweltpolitik» und wies darauf hin, dass es sich beim Rheintunnel um ein Projekt handle, «das der Bevölkerung zugutekommen wird».
Grieder hält von dieser Argumentation nichts:
Und zwar nicht nur bei ihnen im Scheuerrain. Auch im Mittelland würde der Bund wegen des Autobahnausbaus Landwirte enteignen.
Für den Abstimmungskampf diesen November hofft Grieder deshalb auf eine aussergewöhnliche Allianz: Zwischen Städtern wie ihm, die sich um Klimaschutz und ihre Freizeitgärten sorgen, und Landwirtschaftsbetrieben, die die Basis ihrer Existenz verlieren könnten.