Die beiden letzten Jahre waren in gewisser Hinsicht paradox. Trotz der grössten Gesundheitskrise seit Jahrzehnten stiegen die Krankenkassenprämien nur moderat. Für 2022 wurden sie sogar gesenkt. Dieser «Verschnaufpause» droht nun ein jähes Ende. Im Herbst könnten die Prämien um bis zu zehn Prozent steigen, heisst es warnend.
Das hat seine Logik, denn eigentlich kennen die Gesundheitskosten seit Jahrzehnten nur eine Richtung: nach oben. Die Schweiz verfügt über ein hochwertiges Gesundheitswesen, das auch während der Corona-Pandemie den «Stresstest» bestanden hat, obwohl es zeitweise am Anschlag war, wegen vielen Ungeimpften auf den Intensivstationen.
Es ist aber auch das weltweit zweitteuerste Gesundheitswesen nach jenem der USA. Die Ursachen für den Kostenanstieg werden häufig auf einen eher simplen Nenner gebracht: Bevölkerungswachstum, Alterung, medizinischer Fortschritt. Übersehen wird das eigentliche Übel: Das System steckt voller Fehlanreize, von denen die Leistungserbringer profitieren.
Ein bekanntes Beispiel ist der Vertragszwang zwischen Krankenkassen und Ärzten. Auch Pharmaindustrie und Spitäler profitieren vom Ist-Zustand. «In einem System, in dem Leistungen grundsätzlich bezahlt werden, fühlt sich niemand verantwortlich, die Kosten zu senken», erklärte die Aargauer Mitte-Nationalrätin Marianne Binder am Dienstag.
Besonders prägnant umschrieb Mitte-Präsident Gerhard Pfister das Problem: «Das Gesundheitswesen in der Schweiz ist ein einzigartiges Perpetuum mobile der Selbstbedienung, ein Paradies für Geldsammler.» Möglich ist dies, weil die erwähnten Akteure über eine enorme (Lobby-)Macht verfügen und griffige Reformen seit Jahren torpedieren.
So sind sämtliche Anläufe gescheitert, den Vertragszwang zu lockern, geschweige denn zu beseitigen. «Unser Eindruck ist, dass im Gesundheitswesen der schwarze Peter bezüglich Kosten und Mengenausweitung immer allen anderen zugeschoben wird – selber nimmt man sich aber davon aus», sagte EVP-Nationalrätin Lilian Studer.
Das aber ist nur ein Teil des Problems. Noch gravierender ist ein Aspekt, für den Gesundheitsminister Alain Berset einen markanten Begriff verwendete: Schweigekartell. Sobald die Politik in einem bestimmten Bereich die Kosten senken wolle, würden die anderen Akteuren «wegschauen und schweigen», sagte Berset am Dienstag im Nationalrat.
«Man hofft, vom Schweigen zu profitieren, wenn man selber an der Reihe ist», meinte Berset. Will die Politik die Medikamentenpreise anpacken, die in der Schweiz teilweise doppelt so hoch sind wie im Ausland, schauen Ärzte und Spitäler weg. Geht es um die Ärztetarife, sind Pharma und Spitäler still. Es gilt das Motto «Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus».
Auf diese Weise entsteht das von Gerhard Pfister beschriebene Perpetuum mobile. Seine Partei will das Problem mit der Volksinitiative «für eine Kostenbremse im Gesundheitswesen» anpacken, die am Dienstag und Mittwoch im Nationalrat behandelt wurde. Sie verlangt vereinfacht gesagt, dass die Gesundheitskosten nicht stärker steigen als Löhne und Renten.
Für Familien mit Kindern aus dem (unteren) Mittelstand, die keine Prämienverbilligungen erhalten, ist das Kosten- und Prämienwachstum eine enorme Belastung. Trotzdem war die Initiative ausserhalb der Mitte/EVP-Fraktion chancenlos. Die Kostenbremse sei zu starr und sogar gefährlich, hiess es aus den anderen Fraktionen.
Angenommen wurde dafür ein indirekter Gegenvorschlag. Er sieht vor, dass der Bundesrat für alle Akteure im Gesundheitswesen Kosten- und Qualitätsziele festlegt. Dieser Punkt ist jedoch heftig umstritten. Bereits spielen wieder die bekannten Reflexe: Die Ärztevereinigung FMH und der Krankenkassenverband Curafutura drohen mit dem Referendum.
Am Dienstag wurde das Kostenziel im Nationalrat nur knapp angenommen, mit 94 zu 91 Stimmen, weil einige SVP-Mitglieder abwesend waren. Es ist keineswegs garantiert, dass es den parlamentarischen Prozess «überleben» wird. Dabei herrscht weitgehend Einigkeit, dass ein Gegenvorschlag ohne Kostenziel zahnlos wäre und kaum etwas bewirken würde.
Dies wäre ganz im Sinn des Schweigekartells. Dabei fehlt es nicht an Sparideen für das Gesundheitswesen. Grundsätzlich positiv ist etwa die Ausweitung der ambulanten Spitalbehandlungen. Sie hat jedoch einen Pferdefuss: Ambulante Behandlungen werden von den Krankenkassen bezahlt und schlagen voll auf die Prämien durch.
Bei stationären Behandlungen mit Übernachtung im Spital hingegen tragen die Kantone die Hälfte der Kosten. Eine einheitliche Finanzierung wird im Prinzip allseits begrüsst, doch eine entsprechende Vorlage steckt in den parlamentarischen Mühlen fest. Umstritten ist, ob und wie weit die Pflege in die einheitliche Finanzierung aufgenommen werden soll.
Grosses Potenzial bietet auch die Digitalisierung, wenn man etwa an das Trauerspiel beim Elektronischen Patientendossier (von Lästermäulern als «PDF-Friedhof» bezeichnet) denkt. Und durch eine bessere Koordination der Leistungen könnten «drei Milliarden Franken eingespart werden», rechnete die Aargauer Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel vor.
Daran aber hat das Schweigekartell kein Interesse. Manche Politiker neigen deshalb zu Fatalismus. Ein Nationalrat sagte am Medienapéro der Mitte-Fraktion am Dienstagabend im Gespräch mit watson, dass Menschen mit hohen und tiefen Einkommen kaum von der Prämienexplosion betroffen seien: Die einen verkraften sie, die anderen erhalten Verbilligungen.
Nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung würden ernsthaft leiden. Es sind die erwähnten Familien mit Kindern. Deshalb könnte am Ende die Volksinitiative der SP Auftrieb erhalten, die in der dritten Woche der Sommersession vom Nationalrat behandelt wird. Sie will die Prämienlast für alle Haushalte bei zehn Prozent des verfügbaren Einkommens deckeln.
Es ist eine typisch linke Umverteilungsvorlage, die Symptombekämpfung betreibt. Kritiker warnen, sie würde sogar kontraproduktiv wirken, denn mit dem Leidens- nehme auch der Spardruck ab. Diese Lesart hat einen zynischen Beigeschmack, aber sie wäre im Sinne des Schweigekartells, das seine Einnahmen weiter «optimieren» könnte.
Eine SP-Initiative, die das Problem nicht anpackt? Eine Mitte-Initiative, die selbst bei einer Annahme kaum konkrete Folgen haben könnte und die mit einem womöglich zahmen Gegenvorschlag bekämpft wird? Einmal mehr droht eine Spardebatte in der Gesundheitspolitik mit einer Nullrunde zu enden.
Verwaltungsratsmandate etc. sollten sie nicht inne haben dürfen…
Falls der Vertragszwang (und damit die Garantie jeglicher Kostenübernahme/ Blankocheck, für die Lieferanten/Ärzte) das Problem auslöst, wie korrigieren wir das.
Zum einen muss dem Kartell der Einfluss geschwächt werden.
Es braucht Reformen im Parlament und in den Kommissionen, damit Lobbyisten nicht überhand nehmen. Und eine griffige Vorlage, bei deren Abstimmung die Lobbyisten keinen/wenig Einfluss haben.
Soviel zum Thema astreine Demokratie. Auch wir müssen aufpassen, bei uns selber.