Viele Hunde sind des Hasen Tod: Dieses Sprichwort lässt sich bestens auf das institutionelle Abkommen (InstA) mit der Europäischen Union anwenden. Das Führungsvakuum, das der Bundesrat seit dem Abschluss der Verhandlungen Ende 2018 entstehen liess, hat einzig den Gegnern genützt. Sie haben es geschafft, das Rahmenabkommen zur Strecke zu bringen.
Wirtschaftskreise haben sich in neuen Bewegungen formiert, die das Vertragswerk mit allen auch finanziellen Mitteln bekämpfen wollen. Chefredaktoren grosser Medien verlangen, dass der Bundesrat die Verhandlungen beendet. Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) solle beim InstA den «Reset»-Knopf drücken, wie er bei seinem Amtsantritt angekündigt hatte.
Die Befürworter des Rahmenabkommens haben dieses Treiben wie paralysiert verfolgt. Erst in den letzten Wochen sind sie aus ihrer Schockstarre erwacht, etwa mit der Bewegung Progresuisse um die früheren CVP-Bundesräte Doris Leuthard und Joseph Deiss. Oder mit der Idee, das Abkommen mit einer Volksinitiative zu retten, wie CH Media berichtete.
Eine solche Initiative aber wäre letztlich ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Sie hätte vor allem symbolische Bedeutung und wäre keine Erfolgsgarantie. Die negative Dynamik wird sie nicht aufhalten können, denn auch auf der konkreten Gesprächsebene scheint sich nichts zu bewegen. Die neue Chefunterhändlerin Livia Leu beisst in Brüssel bislang auf Granit.
Die EU-Kommission will bei den strittigen Themen Lohnschutz, staatliche Beihilfen und Unionsbürgerrichtlinie nicht nachgeben. Bei der Rechtsübernahme und der Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist sie ohnehin nicht zu Konzessionen bereit. Faktisch seien die Gespräche gescheitert, berichtete SRF mit Berufung auf gut unterrichtete Quellen.
Am Mittwoch will sich der Bundesrat offenbar erneut – zum wievielten Mal eigentlich? – über das Rahmenabkommen beugen. Ein definitiver Entscheid ist wenig wahrscheinlich. Eher dürfte er den Aussenminister beauftragen, persönlich nach einer Lösung zu sondieren. Er werde sicher noch Gespräche mit Brüssel führen, hatte Cassis gegenüber SRF angekündigt.
Ein Scheitern des Rahmenabkommens wird trotzdem immer wahrscheinlicher. Was aber ist die Alternative? Darauf haben die Gegner keine klare Antwort. Einige verlangen, den bilateralen Weg auf einen Freihandelsvertrag zurückzubauen. Das wäre selbst für NZZ-Chefredaktor und InstA-Gegner Eric Gujer «eine Verarmung, geradezu eine Kastration».
In den meisten Fällen wird die Hoffnung geäussert, dass die EU nach einer «Eiszeit» zu neuen Verhandlungen bereit sein und dann auf die Wünsche der Schweiz eingehen wird. Dies ignoriert nicht nur den geringen Stellenwert der Schweiz in Brüssel, sondern auch Lehren aus der Vergangenheit. Drei Präzedenzfälle sollten als Warnung dienen:
Nach einem epischen Abstimmungskampf hatte das Schweizer Stimmvolk im Dezember 1992 die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt. Als Alternative brachte Christoph Blocher, der Wortführer der Nein-Kampagne, bilaterale Verträge in jenen Sektoren ins Spiel, in denen die Schweiz am Zugang zum EU-Binnenmarkt interessiert war.
Der Bundesrat machte sich ans Verhandeln und musste feststellen, dass die EU als Gegenleistung die Übernahme der Personenfreizügigkeit forderte. Das wollte die Schweiz verhindern, denn die Furcht vor einer ungeregelten Zuwanderung galt als Hauptgrund für das EWR-Nein. Die Schweiz könne den freien Personenverkehr nicht akzeptieren, hiess es.
Am Ende musste sie doch und ausserdem ein weiteres Zugeständnis machen. Die EU setzte eine Guillotine-Klausel durch für den Fall, dass die Schweiz die Personenfreizügigkeit aufkündigen sollte. Die Bilateralen I wurden dennoch klar angenommen, und die Wirtschaft lernte den freien Personenverkehr schätzen. Was nicht ohne Folgen blieb (siehe Punkt 3).
Während Jahren hatten die Nordanflüge auf den Flughafen Zürich in Baden-Württemberg für Ärger gesorgt. Die an die Schweiz grenzenden Gebiete klagten über den «Export» des Fluglärms und verlangten eine Entlastung. 2001 einigten sich die Schweiz und Deutschland auf einen Staatsvertrag, der den Grenzregionen mehr Ruhezeit zusicherte.
In der Schweiz stiess er auf heftigen Widerstand. 2003 versenkte das Parlament den Staatsvertrag und ignorierte die warnenden Stimmen. Denn Deutschland reagierte sofort und erliess eine einseitige Verordnung, die schärfer ausfiel als die im Staatsvertrag vorgesehene Regelung. Versuche der Schweiz die Verordnung gerichtlich zu kippen waren erfolglos.
Schliesslich stimmte die Schweiz einem neuen, schlechteren Vertrag zu, den das Parlament in Bern kleinlaut durchwinkte. In Kraft getreten ist er bis heute nicht, denn der Bundestag in Berlin hat ihn nie traktandiert, was den Stellenwert der Schweiz sehr schön aufzeigt. Die An- und Abflüge in Zürich werden seit bald 20 Jahren faktisch von Deutschland diktiert.
Der Frust über die starke Zuwanderung als Folge des freien Personenverkehrs führte im Februar 2014 zur knappen Annahme der Masseneinwanderungsinitiative der SVP. Der Bundesrat versuchte darauf, von Brüssel Konzessionen beim Freizügigkeitsabkommen zu erhalten. Im Gespräch war unter anderem eine Schutzklausel.
Am Ende bekam die Schweiz gar nichts. Die EU war nicht zu Verhandlungen über die Personenfreizügigkeit bereit, nur zu Gesprächen über Probleme bei der Anwendung. Eine Kündigung des Abkommens kam nicht in Frage (Stichwort Guillotine-Klausel), weshalb das Parlament die SVP-Initiative mit dem so genannten «Inländervorrang light» umsetzte.
Die damalige Debatte wie auch die aktuelle um das InstA illustrieren ein Hauptproblem: Über das Verhältnis mit Europa verhandelt die Schweiz vor allem mit sich selbst. Der Standpunkt der Gegenseite wird weitgehend ignoriert, was in der Regel zu einem bösen Erwachen führt. Das gilt nicht nur für die EU, wie das klägliche Ende des Bankgeheimnisses zeigt.
Im Gegensatz zu den meisten InstA-Gegnern dürfte der Bundesrat sich dieser negativen Präzedenzfälle bewusst sein. Er könnte versucht sein, einen definitiven Entscheid so weit wie möglich hinauszuschieben in der Hoffnung, dass die EU sich doch bewegt oder das Abkommen von sich aus beerdigt. Das aber ist höchst unwahrscheinlich.
_kokolorix
Schneider Alex
Bern muss sich nach einem Scheitern des Institutionellen Abkommens von seiner Fixierung auf Brüssel lösen und sich wieder stärker auf die EFTA besinnen. Wenn die Briten mitmachten, wäre es durchaus denkbar, dass das EWR-Abkommen verbessert würde. Der Brüsseler Think Tank Bruegel hat 2016 den Zusammenschluss Grossbritanniens, Norwegens, Islands, Liechtensteins und der Schweiz zu einer zweiten Struktur in Europa vorgeschlagen, mit einer parteineutralen Überwachungsbehörde und einem parteineutralen Gerichtshof sowie einem gewissen Mitbestimmungsrecht bei der Rechtssetzung.
PVJ
Die Schweiz betreibt leider Europapolitik ohne Strategie, nach dem Prinzip Hoffnung.