In der Schweiz wird das Arbeitsethos hochgehalten. Volksinitiativen für eine kürzere Arbeitszeit wurden abgelehnt. Doch in einer Sonderauswertung des Bundesamts für Statistik zeigt sich auch: viele Arbeitnehmer in der Schweiz verbrächten doch liebend gern weniger Stunden im Laden, am Schreibtisch oder auf der Baustelle. Jeder Dritte möchte pro Woche ein paar Stunden weniger am Arbeitsplatz verbringen.
Mit diesem Wunsch steht die Schweiz unter Industriestaaten alleine da. In der internationalen Analyse zweier Ökonomen von britischen und amerikanischen Universitäten wird in 25 Ländern überall mehr Arbeit gewünscht. Einige hätten gern weniger zu tun, doch unter dem Strich möchte man mehr Arbeitsstunden. Das ist nur in der Schweiz umgekehrt. Dort überwiegt was Ökonomen als Überbeschäftigung bezeichnen.
Das sagt Daniel Kopp, Arbeitsmarktexperte bei der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Kopp hat sich die internationalen Zahlen angeschaut, und auch die Sonderauswertung des Bundesamts für Statistik. Es zeigt sich: Nur 7 Prozent der Männer wollen mehr arbeiten. 39 Prozent wünschen sich ein kleineres wöchentliches Pensum: 9 Stunden weniger.
Die Männer wollen ihre Arbeitszeit senken, können aber nicht. Das mag mit dem lieben Geld zu tun haben: Wer weniger arbeitet, verdient weniger. Doch laut Kopp liegt es auch an ungeschriebenen sozialen Regeln: Mann hat Vollzeit zu arbeiten, sonst wird er schräg angeschaut.
Hinweise auf soziale Barrieren finden sich in der Sonderauswertung. So ist Überbeschäftigung am weitesten verbreitet in Banken und Versicherungen sowie in der Informatik. Dort möchten etwas über 40 Prozent weniger arbeiten. Von diesen Branchen ist bekannt, dass Vollzeitarbeiter extra viele Überstunden anhäufen. Der Druck ist besonders hoch, mit hohem Einsatz zu glänzen. Kopp: «Dieses Ideal deckt sich offenbar nicht mit den persönlichen Idealen vieler Mitarbeiter.»
Derlei soziale Barrieren sind wissenschaftlich gut dokumentiert. Eine amerikanische Studie ergab: Männer befürchten eine Stigmatisierung, wenn sie nicht Vollzeit arbeiten; und sie fürchten sich zu Recht. Diese Erfahrung machten Neu-Väter, die mehr Zeit mit der Familie verbringen wollten. Ihre Arbeit wurde schlechter bewertet als jene von Kollegen mit Vollzeitpensum. Und sie erhielten weniger Lohnerhöhung.
Bei den Frauen ist Überbeschäftigung deutlich weniger weit verbreitet. 28 Prozent hätten gerne weniger Stunden. Aber immerhin 16 Prozent wollen mehr Arbeit. Diese Unterbeschäftigung ist vor allem ein weibliches Phänomen. Das ist in den einschlägigen Statistiken über Arbeitsmangel deutlich zu sehen. Wenn vier Personen gerne mehr arbeiten würden, sind jeweils drei davon Frauen.
So arbeitet die Schweiz im Jahre 2019. Die Männer haben zu viel Arbeit. Kommen aber nicht davon weg, weil oft starre Rollenbilder sie daran hindern. Die Frauen haben zu wenig Arbeit. Viele haben zwar einen Job. Der Anteil berufstätiger Frauen gehört europaweit zu den höchsten. Aber ihre Pensen sind ihnen zu gering. Davon kommen sie nicht weg. Aus bekannten Gründen: Kind und Karriere lassen sich schwer vereinbaren.
Derlei gesellschaftliche Barrieren dürften aber kaum alleine erklären, warum die Schweiz im internationalen Vergleich derart einsam und verlassen da steht unter 25 Industriestaaten: nur die Schweiz will weniger arbeiten. Diese Sonderstellung dürfte auch erklärt werden durch die vergleichsweise hohe wöchentliche Arbeitszeit. Die Schweiz kommt auf 42 Stunden, während es etwa in Dänemark noch 38 Stunden sind. Kopp: «In der Schweiz ist man stark ausgelastet, wenn man Vollzeit arbeitet.»
Der Schweizer Sonderfall hat auch mit dem guten Gang der Wirtschaft zu tun. Es mangelt nicht an Arbeit, zumindest nicht im gesamten Land. Man hatte bis vor kurzem noch Hochkonjunktur. Die Beschäftigung erreichte ein neues Allzeithoch. Das Bundesamt für Statistik vermeldete just in dieser Woche: es gebe so viele Jobs wie noch nie.
Von solchen Rekorden können Arbeitnehmer in vielen Industriestaaten nur träumen. Das ist auch die Kernaussage der internationalen Analyse zu 25 Industriestaaten: Die Arbeitslosenquoten sind vielerorts wieder so tief wie vor der Krise. Es wird Entwarnung gegeben. Dagegen sagen die beiden Autoren: die Arbeitslosenzahlen zeichnen ein viel zu schönes Bild.
Viele Menschen haben eine Stelle. In den Statistiken sind sie nicht erfasst als Arbeitslose. Und doch haben sie zu wenig Arbeit. Sie fühlen sich gefangen in Teilzeitjobs. Der Lohn reicht oft nicht wirklich zum Leben. Aufstiegschancen fehlen. Solche Arbeitnehmerleiden werden zusammengefasst unter dem Begriff der «Unterbeschäftigung». Diese ist hoch geblieben, im Gegensatz zur Arbeitslosigkeit.
In der Welt nach der Finanzkrise von 2008 würden Arbeitslosenquoten nicht mehr den wahren Zustand eines Arbeitsmarktes wiedergeben, sagen die Studienautoren. Wie gut oder schlecht es den Arbeitnehmern heute gehe – das zeige sich an der Unterbeschäftigung. Nur die Schweiz will in dieses Schema nicht so recht passen.