Im Morgengrauen beziehen rund zwanzig Polizisten Stellung vor drei Wohnungen in Vevey, Nyon und Sion. An diesem Mittwoch im Mai 2021 klingeln sie bei drei Klimaaktivisten. Bundeskriminalpolizisten durchsuchen die Wohnungen, beschlagnahmen Handys sowie Laptops und sie erstellen forensische Kopien von Mailboxen und Clouddateien.
Die jungen Männer mit Jahrgang 2001, 1999 und 1990 protestieren dagegen. Der Jüngste wendet ein, er stecke mitten in einer Prüfungsphase an der Universität und benötige dafür seine Geräte. Der Älteste des Trios arbeitet inzwischen als Architekt und ist nicht mehr aktiv in der Klimajugend. Er brauche sein Handy und seinen Computer dringend, um zu arbeiten, gibt er zu bedenken.
Doch Widerspruch ist zwecklos. Die Polizei nimmt nicht nur die Geräte mit, sondern auch die drei Männer. Stundenlang werden sie auf dem Polizeiposten verhört.
Die mutmassliche Tat haben die Aktivisten zwölf Monate zuvor begangen. Auf der Website der Waadtländer Klimabewegung publizierten sie einen offenen Brief an den Bundesrat, den sie auch an 200 Journalisten schickten.
«Der Klimastreik ruft zum Militärstreik auf», heisst es darin. Die Armee sei nicht nur nutzlos, sondern auch umweltschädlich, gewalttätig und diskriminierend. Der Aufruf ist unmissverständlich formuliert: «Wenn ihr Wehrpflichtersatzabgabe zahlen müsst, zahlt sie nicht.» Und:
Damit haben die Waadtländer Klimaaktivisten gemäss der Bundesanwaltschaft Artikel 276 des Strafgesetzes verletzt. Dieser lautet so: «Wer öffentlich zum Ungehorsam gegen militärische Befehle, zur Dienstverletzung, zur Dienstverweigerung oder zum Ausreissen auffordert, (...) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.»
Der Straftatbestand ist ein Relikt aus alten Zeiten. Seit sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Militärdienstverweigerern geändert hat, kommt er kaum mehr zur Anwendung. Seit 1978 ist nur eine Verurteilung bekannt.
Selbst der Bundesrat weiss nicht genau, wie er mit dem Gesetzesartikel umgehen will. Nach dem Aufruf zum Klimastreik empört sich SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor darüber. Er will vom Bundesrat wissen, ob dieser Strafanzeige einreichen werde. Denn es handelt sich um ein Antragsdelikt. Wo kein Kläger, da kein Richter.
Antwort: Nein, denn das Strafrecht sei dazu da, Straftaten zu ahnden, und nicht dazu da, die Meinungsfreiheit einzuschränken oder unerwünschte Meinungen zu verhindern. Für die Antwort ist Verteidigungsministerin Viola Amherd zuständig.
Addor ist Hauptmann in der Armee und mit der Antwort nicht einverstanden. Also tut er, was der Bundesrat nicht tun wollte. Er reicht selber Strafanzeige ein.
Weil es um ein politisches Delikt geht, muss die Bundesanwaltschaft beim Bundesrat die Ermächtigung für Ermittlungen einholen. Dieser kann sie verweigern, wenn Landesinteressen dagegen sprechen. Doch der Bundesrat bewilligt nun ein Strafverfahren. Zuständig ist die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter.
So nimmt das Verfahren seinen Lauf, die Bundespolizei führt die Razzia durch und die Bundesanwaltschaft stellt drei Strafbefehle gegen die Aktivisten aus. Bestraft werden der Verfasser des Textes, der Website-Administrator und der Medienverantwortliche, die ihn veröffentlicht haben.
Sie erhalten bedingte Geldstrafen, die sie also nur zahlen müssen, falls sie rückfällig werden. Bei Klimaaktivisten ist diese Chance beträchtlich, da sie immer wieder illegale Aktionen organisieren. Auf jeden Fall zahlen müssen sie happige Verfahrenskosten. Das Trio muss gemeinsam für 8500 Franken aufkommen.
Die drei Männer fechten die Strafbefehle an und berufen sich auf die Meinungsäusserungsfreiheit. Deshalb wird der Fall am Freitag vor dem Bundesstrafgericht verhandelt. Hier, wo sich sonst Terrorunterstützer, korrupte Beamte oder Bancomatensprenger zu verantworten haben, werden drei junge Männer auftreten, die in einem offenen Brief die falschen Worten gewählt haben.
Es stellt sich die Frage: Ist dieser Straftatbestand noch zeitgemäss?
Anruf bei Strafrechtsprofessor Marcel Niggli. Man könne über diese Frage reden, meint er, aber nicht vor Gericht, sondern im Parlament. Dieses könnte das Gesetz anpassen. «Solange man das aber nicht macht, gelten die Gesetze, die wir haben», sagt er.
Es sei erlaubt, öffentlich zu sagen, man halte das Militär für falsch und lehne Wehrpflichtersatzabgaben ab. Wer aber dazu auffordere, nicht ins Militär zu gehen und keine Abgaben zu zahlen, mache sich strafbar. Niggli findet es deshalb richtig, dass die Bundesanwaltschaft die Delikte verfolgt hat, und er rechnet mit Schuldsprüchen.
Wobei: «Das Klima scheint selbst einige Richter dazu zu bewegen, das Recht zu vergessen.» Damit spielt er darauf an, dass einige Richter in Prozessen gegen Klimaaktivisten Freisprüche fällten, da der Klimanotstand die Gesetzesbrüche rechtfertige. Von den höheren Instanzen wurden diese Entscheide allerdings stets korrigiert.
«Das Recht gilt für alle Personen gleichermassen. Es spielt keine Rolle, ob sie sympathisch sind wie Klimaaktivisten oder unsympathisch wie Konsumenten von Kinderpornografie», betont Niggli.
Sollte denn das Recht geändert werden? Nein, findet der Strafrechtsprofessor. «Wenn wir eine Armee haben, ist es die demokratischste Lösung, dass alle hingehen müssen. Dann ist es nur konsequent, dass bestraft wird, wer andere davon abhalten will.»
Im Parlament ist eine Gesetzesänderung allerdings bereits auf dem Weg. Der grüne Ständerat Mathias Zopfi, auch er ist Hauptmann im Militär, hat eine parlamentarische Initiative eingereicht.
Der umstrittene Straftatbestand soll neu so formuliert werden, dass nur noch bestraft wird, wer einen Dienstpflichtigen zur Dienstverweigerung verleitet. Ein allgemeiner öffentlicher Aufruf wäre hingegen nicht mehr strafbar.
Die zuständigen Kommissionen unterstützen den Vorschlag. Somit bleibt es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis das Gesetz umgeschrieben wird.
Für die drei Aktivisten kommt das zu spät. Sie können jetzt aber immerhin von sich behaupten, etwas bewegt zu haben. (aargauerzeitung.ch)