Der «SonntagsBlick» machte die Geschichte der 1941 geborenen Thurgauerin Renata Nydegger öffentlich. Sie war ein uneheliches Kind, erhielt einen Vormund. Bei Pflegefamilien musste sie sich verdingen. Vor zwei Jahren erhielt sie erstmals Akteneinsicht und erfuhr, dass vor über 60 Jahren ein Sparbüchlein auf ihren Namen existiert hatte.
Ihr leiblicher Vater hatte monatlich 40 Franken auf das Konto bei der Thurgauer Kantonalbank (TKB) einbezahlt. Verwaltet wurde das Geld vom Vormund, der 1953 eine Schlussabrechnung erstellte. Gemäss diesem letzten Hinweis lagen damals 3525 Franken auf dem Sparbüchlein. Was mit dem Geld passierte, ist nicht bekannt.
Seit 2013 suchte die Thurgauerin ihr Geld. Sie schrieb Briefe an die Bank, die Gemeinde, den Kanton – vorerst ohne Erfolg. Im Januar 2015 stellte das Thurgauer Staatsarchiv der Frau Akten zu, darunter das letzte vorhandene Dokument zum Bankbüchlein aus dem Jahr 1953.
Danach ging alles rasch. Die Thurgauer Regierung rechnete die Zinsen – durchschnittlich 2,65 Prozent pro Jahr – auf die 3525 Franken auf und rundete den Betrag auf 18'000 Franken auf. Regierungsrat Claudius Graf-Schelling schickte der Rentnerin vergangene Woche einen Brief und entschuldigte sich.
Diese Akten befinden sich heute im Staatsarchiv. Dies habe eine rasche Klärung des Falls ermöglicht.
Laut Staatsarchivar André Salathé ist der Fall einzigartig. Etwa 40 ehemalige Verdingkinder hätten bisher im Thurgau Einsicht in ihre Akten genommen. Aber nur in diesem einen Fall sei man auf Angaben über ein früheres Bankbüchlein gestossen.
Gemäss Walter Zwahlen, dem Präsidenten des Vereins Netzwerk Verdingt, sind noch Dutzende weitere Betroffene auf der Suche nach ihrem verschwundenen Geld. In vielen Fällen sei das Geld veruntreut worden, etwa vom Vormund. Beweisen lässt sich dies heute aber meist nicht mehr.
Diese Suche nach verschwundenen Guthaben ist für die ehemaligen Verdingkinder schwierig. Bei Banken erhielten sie zumeist nur die Auskunft, es seien keinerlei Unterlagen mehr vorhanden.
Eine Bank, so weiss Zwahlen, verlangte für Nachforschungen gar 120 Franken pro Stunde. Erst auf hartnäckiges Nachfragen bei Behörden kämen manchmal doch noch Unterlagen zum Vorschein. Wie gross sind die verschwundenen Guthaben der Verdingkinder? «Wir haben kaum Zahlen», sagte Zwahlen dazu der Nachrichtenagentur SDA.
Theoretisch könnten es Hunderte von Millionen oder gar ein Milliardenbetrag sein. Zwahlen verglich die nachrichtenlosen Vermögen von Verdingkindern mit jenen der Holocaust-Opfer. Die Banken müssten sich des Themas endlich annehmen, ihre Archive minutiös aufarbeiten und einen Fonds äufnen, forderte er.
Etwa eine halbe Million Kinder waren in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert verdingt worden. Die Behörden rissen sie aus armen Familien heraus, platzierten sie als Gehilfen und Mägde auf Höfen, wo sie ohne Lohn arbeiten mussten.
Erst seit wenigen Jahren wird dieses düstere Kapitel der Schweizer Geschichte aufgearbeitet. Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen verlangen immer öfter Einsicht in ihre eigenen Akten. Seit Mitte 2014 haben sie per Bundesgesetz Anrecht auf einfachen und kostenlosen Zugang zu den Unterlagen.
(sda)