Ein Knall reisst Aline M.* um 3.54 Uhr aus dem Schlaf – gefolgt von einem Klirren. Das Bett vibriert. Sie denkt zuerst, das Dach des Nachbars, das gerade renoviert wird, sei heruntergerutscht. Das Klirren deutet sie als zerberstende Ziegel. Doch es sind Glasscheiben, die durch die Druckwelle einer Explosion zu Bruch gehen.
Aline M. wohnt in Buchberg SH über der Volg-Filiale. Neben dem Ladeneingang steht ein Raiffeisen-Automat. Hier haben drei Täter in der Nacht auf Karsamstag 2021 das Notenfach mit einem Geissfuss aufgehebelt und hochexplosiven Sprengstoff hineingelegt: fast ein halbes Kilogramm einer Mischung aus Nitroglyzerin und Nitropenta. Was diese Menge anrichten kann, zeigt sich, als die Täter die Autobatterie aus ihrem gestohlenen Fiat 500 holen und mit dem Bancomaten verkabeln.
Der Bancomat wird nach hinten in einen Lagerraum der Volg-Filiale geschleudert und reisst ein Loch in die Wand zum Tresorraum. Trümmerteile fliegen 50 Meter weit über die Dorfstrasse. Die Heckscheibe von Alines Auto wird getroffen und geht zu Bruch. Es ist dieses Klirren, das sie hört.
Die Bancomaten-Sprenger haben die Wucht selber unterschätzt und ihr Fluchtauto zu nahe beim Automaten parkiert. Die Druckwelle aktiviert die Airbags. Sie müssen den Fiat stehen lassen und zu Fuss flüchten. Verfolgt werden sie von zwei Anwohnern, die ihnen schreiend hinterherrennen. Die Täter können zwar entkommen, aber ohne Beute. Sie haben es nicht in den Tresorraum zu den Geldkassetten geschafft.
Was die Täter und auch die Öffentlichkeit nach der Tat nicht erfahren: Im Tresor lag eine enorme Summe – 502'510 Franken und 80'335 Euro, wie aus der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft hervorgeht.
Solche Beträge warten auf die Bancomaten-Sprenger öfter, als man denkt. Am 23. November 2018 ereignet sich eine der ersten Bancomaten-Sprengungen der aktuellen Anschlagsserie. Drei Räuber jagen den Raiffeisen-Automaten in Coldrerio TI in die Luft. Sie entkommen mit einer fetten Beute: 400'000 Franken.
Am 21. Juni 2022 schlagen die Täter in Portalban FR zu – wieder bei Raiffeisen. Und wieder stossen die Gangster auf Bargeld in Hülle und Fülle. Mit «mehreren Hunderttausend Franken» brausen sie davon.
Oft erbeuten die Täter wohl nur einige Zehntausend Franken. Die Banken versuchen, aus den Beutesummen ein Geheimnis zu machen. Denn es gibt einen Grund für die Anschlagsserie in der Schweiz, über den in der Finanzwelt nicht gerne gesprochen wird. Hier können die Täter über Nacht mehr Geld in den Geräten erwarten als im benachbarten Ausland.
Denn die Banken haben in der Schweiz ein Problem. Die Kosten für ihre Automaten sind zu hoch. Jedes Gerät kostet gemäss der Finanzdienstleisterin Six 30'000 Franken pro Jahr. Der grösste Teil davon sind Fixkosten wie Miete, Versicherungen und Abschreibungen. Im internationalen Vergleich werden die Bancomaten jedoch unterdurchschnittlich genutzt. Das liegt nicht daran, dass Bargeld in der Schweiz weniger gefragt wäre als anderswo, sondern dass es zu viele Bancomaten gibt. Das Netz ist zu dicht.
An den meisten Bancomaten werden in der Schweiz nur 80 Transaktionen pro Tag registriert. Es gibt aber auch viele Automaten, die noch weniger genutzt werden. Etwa 1000 Geräte verarbeiten nur eine Transaktion pro Stunde. Diese sind für die Banken ein Verlustgeschäft und dienen nur noch als Imagepflege und Kundenservice.
Es sind Bancomaten wie jener in Buchberg, die nach der Schliessung der Raiffeisenfiliale im Dorf die einzige Möglichkeit zum Bargeldbezug für die Kundschaft bleiben.
Genau diese Automaten geraten ins Visier der modernen Panzerknacker. Die abgelegenen Standorte sind günstig, um nachts ungestört ans Werk zu gehen und zu verschwinden. Und gleichzeitig liegt in diesen Automaten besonders viel Geld. Um die Kosten tief zu halten, füllen die Banken diese Geräte möglichst selten auf, manchmal nur alle zwei Wochen. Sind sie frisch gefüllt, liegt dann mehr als eine halbe Million Franken drin.
So einfach kommen die Täter im Ausland nicht an so viel Geld. In den Niederlanden, wo die Szene der Bancomaten-Sprenger ihren Ursprung hat, in Frankreich und Deutschland achten die Banken stärker darauf, den Tätern über Nacht nicht zu viel Bargeld bereitzulegen. Dafür werden die Maschinen von Geldkurieren öfter gefüllt und teilweise abends geleert. An einigen Geräten finden sich entsprechende Hinweise. Die Kundschaft wird darauf hingewiesen, dass das Bargeld auch ausgehen kann – aus Sicherheitsgründen.
In der Schweiz scheuen sich die Banken davor und fürchten das Imageproblem, wenn ihnen das Bargeld ausginge. Zudem sind Versicherungen nicht bereit, häufigere Nachfüllungen zu finanzieren. Auch Schutzmechanismen wie Tinten- und Leimpatronen sind erst vereinzelt vorhanden. Anreize dafür fehlen, da das Bargeld und die Sachschäden versichert sind. Jede Sprengung bedeutet allerdings auch Lebensgefahr für Anwohnerinnen und Passanten.
Die Bundespolizei Fedpol versucht, die Banken zu mehr Massnahmen zu überzeugen. «Als im Ausland wirkungsvolle Massnahmen ergriffen wurden, hat das eine Verlagerung der Angriffe in die Schweiz begünstigt», sagt ein Fedpol-Sprecher. Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, dass die Geldmengen in den Automaten einen Einfluss auf die Anzahl Angriffe hätten:
Gemäss Raiffeisen sind die Sicherheitsstandards «branchenüblich und auf dem aktuellsten Stand». In Buchberg hat Raiffeisen allerdings nach der Sprengung auf ein Ersatzgerät verzichtet. Nun gibt es im Dorf keinen Geldautomaten mehr.
Ein Täter hat am Tatort – wohl wegen der überhasteten Flucht – zu viele Spuren hinterlassen. Die Bundesanwaltschaft hat einen 38-jährigen Rumänen angeklagt, dem sie auch eine Sprengung in Wilchingen SH vorwirft. Am Montag beginnt die Verhandlung vor dem Bundesstrafgericht. Es ist der zweite Prozess gegen einen Bancomaten-Sprenger auf Bundesebene. Die Komplizen hat die Bundesanwaltschaft bisher nicht erwischt. Der Rumäne streitet alles ab und behauptet, während der Tatzeit gar nicht in der Schweiz gewesen zu sein.
Aline M. schläft nachts inzwischen wieder gut – doch nächtliche Geräusche nimmt sie anders wahr als vorher. Sie sagt:
*Name geändert.