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Die Seen werden voller und voller – lassen die Berner den Aargau wieder untergehen?

Die Aare beim Tierpark Dählhölzli in Bern.
Die Aare beim Tierpark Dählhölzli in Bern.Bild: KEYSTONE

Die Seen werden voller und voller – lassen die Berner den Aargau wieder untergehen?

Gebannt blicken die Aargauer und Solothurner nach Bern. Wie viel Wasser wird in diesen Regentagen noch die Aare abfliessen? Was wenn die Berner die Schleusen öffnen müssen? Eine Fahrt dem Hochwasser entlang, von Bern nach Aarau. 
05.05.2015, 06:3705.05.2015, 08:53
Daniel Fuchs / Aargauer Zeitung
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Ein Artikel von
Aargauer Zeitung

Die beiden Berner Polizisten stehen bis zu den Knöcheln im Wasser. Die Aare hat die Strasse überflutet, die zum Tierpark Dählhölzli führt. Er kratzt sich am Kopf. Sie sagt: «Okay, sperren wir ab.» Er holt das Absperrband im Polizeiauto. Ein Tierpark-Angestellter versucht vergeblich, zu den Tieren zu kommen, die in ihren Gehegen in Aarenähe im Wasser stehen. 

Die Matte-Berner haben Wasser in den Kellern 

Am Berner Aareufer beginnt unsere Fahrt. «Gang doch e chli der Aare naa. Dere schöne, schöne, schöne grüene Aare naa. Dere Aare naa», besingt sie die Band «Stiller Has». Nur: grün ist die Aare an diesem Tag nicht. Dafür braun. 

Update vom Dienstagmorgen
Die Lage in den Schweizer Hochwassergebieten bleibt angespannt. Die Pegel von Thunersee und Aare standen auch am Dienstagmorgen noch über der Hochwassergrenze. Bereits am späten Nachmittag und Abend breiten sich von der Westschweiz her mit einer herannahenden Kaltfront neue Schauer und Gewitter aus, wie der Wetterdienst Meteo-Group am frühen Morgen mitteilte. Laut SRF Meteo kommt es im Westen zwar noch nicht zu einer Entspannung der Lage, «aber auch nicht zu den schlimmsten befürchteten Szenarien». (sda)

Die Polizisten und Feuerwehrleute stehen an der Front, sperren Wege ab, pumpen Keller aus. Die Schleusenwärter aber sitzen längst nicht mehr an der Schleuse, sondern am Trockenen im Führungsraum. Dort erhalten sie Messwerte, erstellen Prognosen und leiten Handlungsmaximen ab zur Öffnung der Schleusen bei Thuner- und Bielersee. 

Bernhard Schudel leitet das zuständige Amt. An Tagen wie diesen hat er keine Zeit, die Reporter am Wasser zu treffen. Seine Einschätzungen am Telefon werden sie auf ihrer Fahrt durchs Mittelland begleiten, die viele Kilometer weiter und mit durchnässten Schuhen im Aargau enden wird. Dem Kanton, der bitterliche Erfahrungen machen musste mit den Schleusenwärtern in Bern und den verheerenden Hochwassern, die den Aargau heimsuchten. 

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Es giesst wie aus Kübeln. Ausgerechnet jetzt macht der Scheibenwischer schlapp. Wir fahren zum Schwellenmätteli, unterhalb der Berner Altstadt. Die Schleusen sind weit geöffnet. Das Wasser hat sich auf den Kiesplatz ausgebreitet. Der Uferweg zum nahen Bärengraben ist gesperrt. 

Kaffee über dem Wasser

Ansel Lemoine bringt das nicht aus der Ruhe. Der Kellner des Restaurants bringt den Schaulustigen Kaffee auf die Aussichtsplattform nah über den Fluten, die über die Schwelle schiessen. Lemoine erinnert sich: «2012 mussten wir und unsere Gäste evakuiert werden.» 

«Wenn alle ein bisschen unzufrieden sind, dann haben wir alles richtig gemacht.»
Bernhard Schudel, Leiter Gewässerregulierung Kanton BE

Das Schwellenmätteli ist der Ort, der das Schicksal der Matte-Bewohner besiegelt. Entschieden wird es jedoch woanders: Geografisch in Thun, organisatorisch beim Kanton. 

Der oberste Schleusenwärter, Bernhard Schudel, erklärt das Dilemma, in dem sein Kanton Bern steckt, so: Öffnet er die Schleusen am Thunersee, haben zwar die Seeanrainer ihre Ruhe, dafür geht die Matte unter. Schliesst er sie, so sind die Matte-Bewohner zufrieden, dafür stehen die Thuner im Regen. 

Schudel bringt die Aufgabe auf eine einfache Formel: «Wir müssen die Schäden insgesamt möglichst gering halten.» Ist das System von Seen und Aare aber überlastet, so gilt für Schudel: «Wenn alle ein bisschen unzufrieden sind, dann haben wir alles richtig gemacht. Wir können das Wasser ja nicht einfach so verschwinden lassen.» 

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Der Thunersee dient als Rückhaltebecken: Beruhigt sich die Lage, wird mehr Wasser durch den Zusatzstollen abgelassen, sodass im See Platz frei wird für Schmelz- und Regenwasser aus dem Berner Oberland. Schwellen die Zuflüsse zwischen Thun und Bern aber wegen Regenfällen an, so drosselt der Kanton den Abfluss in Thun, damit sich das Wasser am Schwellenmätteli nicht am Schwemmholz aufstaut und ins Matte-Quartier fliesst. 

In Biel leeren sie den See, in Solothurn fangen sie Hecht 

Zum Glück lässt der Regen nach, als wir weiter über Land fahren. Am Scheibenwischer ist kaum noch Gummi übrig. Metall kratzt über Glas. Beim Niederried-Stauwehr, nahe von Aarberg, schiesst das Wasser volle Kraft aus den Schleusen. Ein gewaltiges Schauspiel. Mitarbeiter der Bernischen Kraftwerke baggern ununterbrochen Schwemmholz aus den Rechen, ehe das Wasser weiter rauscht in Richtung Bielersee. 

Dieser wird voller und voller. Und mit ihm steigen auch die Pegel von Neuenburger- und Murtensee. Das System der Jura-Gewässerkorrektion funktioniert. Die Juraseen dienen als Rückhaltesystem schlechthin. Der Abfluss wird an einem Ort gesteuert. Er ist zentral für alles, was aareabwärts geschieht: Das Wehr in Port bei Biel. 

Hier ist das Wasser noch grün. Schon nach Solothurn ändert sich die Farbe schlagartig. Bei Luterbach fliesst die Emme in den Aarelauf. Ein Strich trennt das braune Emmewasser vom grünen Aarewasser, ehe es sich weiter flussabwärts ganz vermischt hat. 

Schwemmholz staut sich beim «Schwellemätteli» in der Matte in Bern.Bild: KEYSTONE

Den Fischer freuts

Das trübe Wasser freut die Fischer. Einer steht etwas unterhalb der stillgelegten, ehemaligen Zellulosefabrik Attisholz. Wie Gerippe überragen die Gebäude die grünen Bäume am Aarelauf. «Bei trübem Wasser fange ich eher einen Hecht», sagt der Mann. Am 1. Mai ist die Schonfrist verstrichen. Vor zwei Jahren hing ein 1,1 Meter langer Hecht an seiner Angel. 

«Normalerweise ist hier das Wasser glasklar», sagt der Mann. «Es scheint fast so, als sähen die Hechte im trüben Wasser die Leine kaum.» Der Fischer wittert seine Chance und schleudert die Angel gekonnt auf das vorbeiziehende Wasser. 

Die Aargauer warten auf das, was noch von oben kommt 

Auf der Weiterfahrt Richtung Aarau speist manch ein Zufluss die Aare. Die Schleuse bei Biel ist für die Mittelländer Städte das, was die Thuner Schleuse für Bern bedeutet: «Die Anwohner an den Ufern des Bieler- und Neuenburgersees wollen, dass wir das Wehr Port möglichst weit aufmachen, damit die Seepegel unter der Hochwassergrenze bleiben. Die Anrainer am Aarelauf abwärts aber wollen, dass das Hochwasser im Bielersee zurückbehalten wird», sagt Schudel, Berns oberster Schleusenwärter. 

Sonnenstrahlen treffen die Brühe bei Aarau. In der Region Brugg steht der kantonale Krisenstab seit dem Nachmittag in Alarmbereitschaft. Die zahlreichen Zuläufe im «Wasserschloss» haben es nötig gemacht, Wasserschutz-Schläuche ans Ufer zu bringen. 

Jetzt auf

Erst am Abend kann der Chef des kantonalen Führungsstabs Aargau, André Baur, entwarnen: «In Brugg ist der Peak vorüber. Die Situation beruhigt sich etwas.» 

Die Berner blicken derweil mit Sorgen auf die Juraseen, wo die Pegel weiter steigen. «Wir lassen so viel Wasser wie möglich die Aare ab, um den Pegel des Bielersees zu senken», sagt Schleusenwärter Schudel. Die Situation lasse dies zurzeit noch zu, sagt sein Aargauer Amtskollege Baur. Seit den verheerenden Hochwassern von 2005 und 2007 sei die Zusammenarbeit mit den Bernern und den anderen Nachbarskantonen deutlich verbessert worden. 

In Bern, wo die Schleusenwärter auch ein wenig das Schicksal des restlichen Mittellands bestimmen, müssen die Polizisten bis zum Abend Ansel Lemoine und seine Gäste nicht aus dem Schwellenmätteli-Restaurant evakuieren. Am grossen Hochwasser ist Bern dieses Jahr noch einmal vorbeigeschrammt. Bis jetzt. 

Und der Aargau?

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