Der Notruf erreicht Sarah Wagner zu Hause. Vom Flughafen Belp fliegt sie zusammen mit drei weiteren Rettern direkt zur Höhle bei Habkern im Berner Oberland. Mit einem Höhlenforscher, der die Höhle gut kennt, steigt sie ein.
Wagners Spezialität sind nicht trockene Höhlen wie in Habkern, sondern Unterwasserhöhlen. Das sind ihre Lieblingsorte. «Es zieht mich dort rein», sagt sie, «es ist wie meditieren. In der Höhle ist alles weg, es ist ruhig, ich bin auf mich selbst konzentriert und im Wasser schwerelos.» Sie erzählt von Höhlenstrukturen, Felsformationen, Steinmühlen. Wie auf einen engen Durchgang plötzlich ein Abgrund von zwanzig oder sechzig Meter folgen kann.
An diesem Freitag im Januar sieht sie die Schönheiten kaum. Sie hat für ihren Rettungssack das Wichtigste ausgewählt: Schmerzmittel, Schienen zum Bandagieren, Verbandszeug. Die 33-Jährige ist Höhlentaucherin, Intensivmedizinerin und Mitglied der Rettungstruppe von Speleo-Secours, der Rettungstruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Höhlenforschung. Speleo-Secours wurde sozusagen als Selbst-Rettungstruppe gegründet, denn bei keiner anderen Sportart ist man so auf sich allein gestellt wie beim Höhlenerforschen.
Am 28. Januar gilt es ernst. Die Höhle ist so schmal, dass sich ein Mensch gerade durchzwängen kann. Man erreicht sie erst nach einer Stunde Schneeschuhmarsch. Höhlen werden oft im Winter erforscht. Denn falls es dann plötzlich heftigen Niederschlag gibt, fällt er in Form von Schnee, nicht Wasser. In der wärmeren Jahreszeit ist es eine ständige Gefahr, dass die Höhlenforscher durch sich rasch füllende Syphons blockiert werden. Die Temperatur untertags ist immer gleich: rund 7 Grad, jahrein, jahraus.
In die Höhle steigen vier Personen am 28. Januar ein, ein Freitag. Tief unter der Erde stürzt dann eine Forscherin mehrere Meter ab. Sie bricht sich einen Arm mehrmals, den linken Fuss, das Becken und das Schlüsselbein. Ihre Kollegen versuchen sie warm zu halten, und einer klettert eine Stunde zurück zum Höhleneingang, um zu alarmieren: Zwei Schächte muss er am Seil hinaufsteigen, einen hinunter, oft kriechen, kein Ort für eine schnelle Rettung.
«Ich bin so froh, dass du da bist», sagt die Verletzte, als die Ärztin sie um Mitternacht erreicht. Sie kennen sich, die Szene der Höhlenforscher und -taucherinnen ist klein. «Sie war optimistisch und vertraute uns», sagt Wagner. Dabei sind seit dem Unfall schon fünf Stunden vergangen, am Ende sollte es 40 Stunden dauern, bis die Verletzte wieder am Tageslicht war.
«Es ist unmöglich, eine verunfallte Person auf anderem Weg aus der Höhle zu schaffen, als über den, den sie hereinkam», schreibt die Speleo-Secours auf der Website. Kein Krankenauto, kein Helikopter kommt da hin. Und der Rettungsarzt nur gerade bis zum Höhleneingang. Es gibt keinen Natelempfang.
Für die drei Schächte bis zum Höhlenausgang müssen Seilzüge für die Bahre eingerichtet werden. In Gängen, die zu eng sind, um die Bahre beidseitig tragen zu können, wird eine Art Seilbahn installiert. Der Durchschlupf am Eingang muss vergrössert werden. Im Einsatz sind 60 Retterinnen und Retter, die meisten von Speleo-Secours, aber auch die Crew der Rega und die Alpine Rettung Schweiz.
Je weiter unter der Erde im riesigen Höhlenreich, desto länger dauert die Rettung. Die längste bekannte dauerte 2014 zwölf Tage in der Risending-Schachthöhle in Deutschland. Ein Forscher hatte sich durch Steinschlag am Kopf verletzt, als er sich zwölf Stunden vom Eingang entfernt befand.
Bis zum Ende der Rettung in Habkern am Sonntagmittag lösen sich die Retter immer wieder ab, in einer perfekten, eingespielten Teamarbeit.
Am Samstagmittag kann Sarah Wagner in einem nahen Hotel duschen und sich ein paar Stunden hinlegen. Dort wurde auch die Einsatzzentrale eingerichtet, bei der die Helfer ihre Aufträge holen. Mit einem Schneemobil werden sie zur Höhle gefahren. «Die Verunfallte erhielt immer wieder Schmerzmittel und döste ab und zu ein», sagt Wagner. Danach wird sie direkt ins Spital geflogen und die Brüche operiert. Inzwischen ist sie in der Reha.
Ist es vermessen, sich an Orte zu begeben, wo ein Unfall derartige Konsequenzen hat? Die Ärztin antwortet: «Wir sind es uns heute gewohnt, dass wir rund um die Uhr den Rettungsdienst rufen können und der in 20 Minuten vor Ort ist. Als Höhlenforschende bewegen wir uns in anderen Dimensionen. Jeder von uns ist sich bewusst, was ein Unfall zur Folge hat. Und jeder, der bei der Rettung hilft, weiss: Ein anderes Mal könnte er oder sie selber froh sein darum.» Ein Grund, das Höhlenforschen zu lassen, sei es nicht. «Das ist unsere Leidenschaft.»
Auch nach einem tödlichen Unfall und der Bergung vor bald einem Jahr war Wagner wieder in Höhlen getaucht. Sie sagte damals, die Gefahr sei jetzt präsenter. Aber das Höhlentauchen bleibe ihr Element. Wir hatten sie an einem Nachmittag im April am Ufer des Thunersees getroffen. Sie hatte ihre ganze Ausrüstung dabei: Pressluftflaschen, ein Trockenkanister, Klettergurt, Sicherungsgeräte, Helm, Taucherbrille.
Unter den Schweizer Höhlentauchern und -forschern sind wenige Frauen. Aber Wagner sagt: «Frauen können das mindestens so gut, es gibt keinen Grund, es nicht zu tun.» Der Chef ihrer Rettungskolonne, Florian Maurer, sagt: «Sie zählt zu den besten der Schweiz.»
Sarah Wagner weiss, dass andere ihr Hobby nicht verstehen, aber sie wehrt sich dagegen ein Adrenalin-Junkie zu sein:
Der Notfall wird regelmässig geübt. 2018 wurde eine Übung plötzlich zum Ernstfall: Sarah Wagner spielte das Opfer und wurde in einer Bahre einen Schacht hochgezogen, als sich ein Stein löste und auf ihr Gesicht prallte. Sie erlitt einen offenen Nasenbeinbruch.
Zwar befand sie sich schon ausserhalb der Höhle, doch diese lag in einer schwer zugänglichen Schlucht. «Zum Glück waren alle Seile schon installiert, an der die Bahre hinausgefahren werden konnte, aber es dauerte dennoch eine volle Stunde, bis wir die Ambulanz am Ende der Schlucht erreicht hatten», erinnert sich Wagner.
Sie hat klein angefangen. Als Kind tauchte sie im Dorfbach mit der Taucherbrille, bis sie die Eltern mit blauen Lippen rauszogen. Mit 14 machte sie das Tauchbrevet, mit 23 Jahren kam sie über Tauchfreunde in die Szene der Höhlentaucher. Sie taucht in ganz Europa und auch auf Galapagos.
Sie hat vor, einmal untertags zu übernachten, tief im Fels. «Man verliert das Gefühl für die Zeit», sagt sie. Und doch bleibt Zeit extrem wichtig: Wenn die Höhlentaucher nicht wie verabredet zurückkehren, zieht ein Suchtrupp los. (aargauerzeitung.ch)
Selber war ich als jugendlicher, in kleinen Höhlen, trotz leichter Klaustrophobie war dies immer tolle Momente, wenn man nach einem engen Durchgang in einer Kammer war.