Die Medienkonferenz geriet zum Fiasko. Bundespräsident Ignazio Cassis verurteilte an jenem 24. Februar, als die russische Invasion in der Ukraine begann, vor einem Stehpult die «militärische Intervention Russlands aufs Schärfste». Nach 7:30 Minuten war er wieder weg.
Schlecht vorbereitete Fachleute des Bundes stellten sich dann den Fragen der Medienschaffenden. «Was haben Sie dem Bundesrat gesagt?», wollte ein Journalist von Jürg Bühler wissen, dem Chef ad interim des Nachrichtendienstes (NDB). Dazu könne er nichts sagen, erwiderte Bühler. Konter des Journalisten: «Weshalb sind Sie dann hier?»
Die Hauptfrage aber war: Weshalb trägt der Bundesrat die Sanktionen der EU gegen Russland nicht mit? Erwin Bollinger, Delegierter des Bundesrates für Handelsverträge aus dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), schaffte mit seinen Aussagen grosse Verwirrung.
Es war offensichtlich: Bundesrat und Verwaltung wurden total überrumpelt von Russlands Invasion in der Ukraine. Der Nachrichtendienst hatte den Bundesrat offenbar nicht entsprechend vorgewarnt. Inhaltlich waren Aussenministerium (zuständig für die Neutralität) und Wirtschaftsdepartement (zuständig für die Sanktionen) schlecht auf einen solchen Fall vorbereitet.
Das Frühwarnsystem der Schweiz hatte versagt. Liest man den Sicherheitsbericht 2021 des Bundesrats, kommt das nicht überraschend. Das Verteidigungsdepartement (VBS) hat ihn erstellt, der Nationalrat debattiert ihn am Mittwoch. Der Bericht macht die Früherkennung von Bedrohungen zum Ziel Nummer eins.
Dank Beteiligungen an Satellitenaufklärungssystemen soll die Früherkennung künftig besser funktionieren. Der Bundesrat will auch die Kapazitäten erhöhen, um grosse Datenmengen auszuwerten. Vor allem aber schlägt er vor, die Schweizer Botschaften in aller Welt zu verstärken. Knapp drei Dutzend Stellen sollen aus der Zentrale der Bundesverwaltung in fremde Länder verlagert werden, um relevante Entwicklungen vor Ort besser mitzubekommen.
Nicht einig sind sich der Bundesrat und die sicherheitspolitische Kommission (SIK) des Nationalrats, ob es einen ständigen operativen Führungsstab des Bundes braucht. Das zumindest erwägt die SIK. Sie ortet Verbesserungsbedarf beim Ad-hoc-Krisenmanagement.
Der Bundesrat sieht das anders. «Ein ständiger übergeordneter Stab, der inhaltlich für alle Ereignisse zuständig wäre, eignet sich nicht, da die Fachkenntnisse fehlen würden und er zu weit weg von der Departementsführung und ausserhalb der eingespielten Entscheidungsabläufe wäre», schreibt er im Bericht.
Von aussen betrachtet scheint es auch Klärungsbedarf zu geben über die Rolle der Bundeskanzlei. In Stabsübungen ist sie jeweils Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Sie organisiere mit dem Präsidialdepartement die wöchentlichen Sitzungen des Bundesrates und sorge dafür, dass die Geschäfte «minutiös vorbereitet» seien, steht auf der Homepage der Bundeskanzlei.
Auch der Sicherheitsbericht hält explizit fest, die Krisenfrüherkennung der Bundeskanzlei solle die Fähigkeit der Regierung verbessern, Krisen zu erkennen. Doch auch das scheint nicht funktioniert zu haben: Die Bundeskanzlei unternahm vor Kriegsausbruch offenbar keine Versuche, Aussen- und Wirtschaftsdepartement proaktiv zu Berichten zu drängen.
Ein grosses Problem gibt es aber auch beim Sicherheitsbericht des Bundesrats selbst: Er erwähnt die Invasion Russlands, das sicherheitspolitisch relevanteste Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg, mit keinem Wort. Die letzte Fassung des Berichts stammt vom 24. November 2021.
Das zeigt: Es ist ein «Schönwetterbericht», auch wenn er in der Pandemie entstand und stark von dieser geprägt ist. «Vor der Covid-19-Pandemie hatten viele europäische Staaten ihre Verteidigungsausgaben erhöht», heisst es da etwa. «Es ist noch offen, ob nicht mindestens ein Teil der Nato-Staaten im Zuge der Pandemie ihre Rüstungs- und Verteidigungsbudgets temporär wieder reduzieren werden.»
Heute, nach zwei Wochen Krieg, weiss man: Diese Beurteilung ist falsch. Deutschland investiert 2022 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr.
Zwar thematisiert der Bericht, dass ein «schwerwiegender Krisenfall an der Nato-Ostgrenze» zu einer grossen Herausforderung für Europa würde. Und er sagt auch: «Russland hat sein militärisches Potenzial deutlich verstärkt und strebt an, im Westen Krieg gegen einen starken konventionellen Gegner führen zu können.»
Doch es ist ein Krieg, den das VBS und der Bundesrat – wenn überhaupt – als ferne Bedrohung sahen. Damit gibt der Bericht auch keine Antworten auf zentrale Fragen, die sich seither stellen.
Russland-China: Wie verändert eine Achse zwischen Russland und China die globale geopolitische Lage? Im Ukraine-Krieg ist sie – zumindest vorübergehend – Realität geworden.
Atomkrieg: Dass Russland Atomwaffen auch gegen den Westen einsetzt, muss inzwischen als Szenario ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Wie ist die Schweiz hier vorbereitet?
Rolle der Schweiz: Der Schweizer Ex-Botschafter Tim Guldimann bringt die Situation auf den Punkt. «Die Schweiz muss sich generell Gedanken darüber machen, wie sie sich auf einer radikal veränderten politischen Landkarte in Europa neu verortet», sagt er. «Wir stehen vor einer grundsätzlichen Debatte über unsere europäische Identität.» Wird ein EU-Beitritt plötzlich zum Thema? Oder ein Nato-Beitritt? Das neutrale Österreich jedenfalls diskutiert diesen inzwischen.
Armee: Muss sie besser ausgerüstet oder gar umgerüstet werden? Braucht es mehr Panzer, Kampfjets, Abwehrlenkwaffen?
Immerhin hat das Verteidigungsdepartement der SIK versprochen, bis Ende Jahr einen ergänzenden Bericht im Zusammenhang mit möglichen Bedrohungslagen gegen die Schweiz abzuliefern.
Schon am 15. Mai steht der Schweiz ein politischer Ernstfall bevor. Die Volksabstimmung zur Weiterentwicklung der EU-Grenzschutzagentur Frontex hat mit dem Krieg eine fundamental neue Bedeutung erhalten. Kann sich die Schweiz der Weiterentwicklung entziehen? Die möglichen Folgen müssen – mit dem Krieg im Hintergrund – genau evaluiert werden. (aargauerzeitung.ch)