Finden Sie, dass die Medien Sie fair behandeln?
Ich bin nicht empfindlich. Allermeistens ist es okay. Ab und zu gibt es Artikel, mit denen ich nicht einverstanden bin und bei denen ich denke: Das geht doch nicht!
Was machen Sie dann?
Nichts! Das gehört zur Vielfalt der Debatte.
Wir befinden uns mitten im Wahlkampf. Wie verändert er Ihre Arbeit?
Gar nicht. Das ist ein grosser Vorteil im Vergleich mit den meisten anderen Ländern, wo jedes vierte Jahr für den Wahlkampf drauf geht und die Regierung noch möglichst viele Vorlagen vor dem allfälligen Wechsel verabschieden will. Und die Nachfolgeregierung vieles rückgängig macht. Ich erlebe die ersten Wahlen als Bundesrat – und spüre bisher nichts davon.
Erstaunlich, schliesslich können sich nicht alle Bundesräte ihrer Wiederwahl sicher sein.
Ich habe schon bemerkt, dass bei den Parteien mehr Nervosität herrscht. Das ist völlig normal, das habe ich als Ständeratskandidat selber dreimal erlebt. Im Bundesrat ist es anders: Der Wahlkampf wirkt sich kaum auf unsere Arbeit aus.
Na ja, die Europadebatte wird mit angezogener Handbremse geführt.
Finden Sie?
Der Bundesrat hat drei Jahre zur Verfügung, um die Masseneinwanderungsinitiative umzusetzen. Die Hälfte der Zeit ist verstrichen – und wir sind keinen Schritt weiter.
Fast ein Jahr lang wollte seitens Europa niemand mit uns ernsthaft verhandeln. Man kann einen Partner nicht zu Verhandlungen zwingen, selbst dann nicht, wenn man es in die Verfassung schreibt. Die Initiative wurde im Februar 2014 angenommen – wenige Monate vor den Europawahlen. Auch nach den Wahlen war alles blockiert, weil zuerst die EU-Kommission neu besetzt werden musste. Die alte engagierte sich kaum mehr, und die neue musste sich erst formieren. Jetzt ist die bundesrätliche Vernehmlassung zur Umsetzung abgeschlossen, die Auswertung läuft und in einem nächsten Schritt werden wir Bilanz ziehen und zeigen, wie es weitergeht.
Vor den Wahlen passiert rein gar nichts.
Es geht nicht um vor oder nach den Wahlen. Zurzeit werden die Ergebnisse der Vernehmlassung analysiert, die Konsultationen mit Brüssel laufen.
Wie wird die Lösung aussehen? Kommt es zu einer Schutzklausel bei der Zuwanderung?
Dazu kann ich nicht viel sagen, da wir mitten in der Diskussion stecken. Wir müssen uns auch die Zeit nehmen, um die unterschiedlichen Varianten zu prüfen. Nur so viel: Wir waren immer in der Lage, mit Europa eine Lösung zu finden. Und noch nie wurde in der Schweiz so intensiv über unser Verhältnis zu Europa diskutiert, was doch positiv ist.
Euro-Krise, Flüchtlingswelle, Griechenland – die EU hat weit grössere Probleme als ihr Verhältnis zur Schweiz. Macht das die Verhandlungen einfacher?
Es ist schwieriger, mit jemandem zu verhandeln, der in einer schwierigen Situation ist. Wir haben alles Interesse, einen starken Partner zu haben.
Warum?
Weil man nur verhandeln kann, wenn jemand weiss, wo er steht, was er will, der bereit ist, Kompromisse einzugehen – oder auch nicht. Europa bewältigt zurzeit eine grosse Krise.
Ist es nicht eher so, dass sich Europa durchwurstelt?
Erinnern Sie sich an die Situation vor drei, vier Jahren? Hätten Sie damals auf der Strasse gefragt, ob es den Euro Ende Jahr noch geben würde, hätten sehr viele Leute mit Nein geantwortet. Doch der Euro ist weiterhin da und das Vertrauen ist gestiegen.
Gleichzeitig geben Euro-Krise und Flüchtlingswelle den EU-Kritikern in der Schweiz mächtig Aufschub.
Es war ja nicht die EU, welche die steigende Zahl Asylsuchender verursacht hat. Die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene ist die einzige Möglichkeit, dieser Herausforderung zu begegnen. Ich jedenfalls sehe keine Alternative. Die EU ist in der Flüchtlingsfrage nicht das Problem, sondern Teil der Lösung.
Die EU schafft es nicht mal, die Flüchtlinge gerecht auf ihre Mitgliedsstaaten zu verteilen.
Wir sind nicht in der Position, der EU Lehren zu erteilen. Ich stelle nur fest: Wir sind an einer gesamteuropäischen Lösung genauso interessiert und sollten uns an einem gemeinsamen Weg beteiligen. Die Flüchtlingssituation ist einer der Gründe, weshalb es in den Wahlen zu einem Rechtsrutsch kommen könnte.
Bereitet das Ihnen als Sozialdemokrat Sorgen?
Was mir auffällt: Mehr Bürgerinnen und Bürger denn je wollen sich politisch engagieren und stellen sich zur Wahl. Das zeigt, dass wir in bewegten Zeiten leben. In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Welt enorm gewandelt: Damals gab es noch kein Internet und keine Globalisierung, die Berliner Mauer stand noch und es herrschte eine Blockpolitik. In weniger als einer Generation hat sich die Welt stark entwickelt, das stellt auch die Schweiz vor schwierige Fragen über die Zukunft. Die vielen Kandidaturen zeigen, dass die Bürger Lust haben, mitzugestalten.
Trotzdem geht nicht mal die Hälfte der Berechtigten an die Urne.
Die Wahlbeteiligung hat in den vergangenen 20 Jahren stetig zugenommen. Immer wieder wird über die tiefe Stimm- und Wahlbeteiligung geklagt. Dabei sind wir oft bei 40 oder 50 Prozent. Und das in einem Land, wo die Bevölkerung viermal im Jahr über drei, vier Vorlagen abstimmen muss, die ab und zu sehr kompliziert sind. Ich halte das für eine beachtliche Beteiligung. Besonders wenn man sich vor Augen hält, dass innert vier Jahren gegen 80 Prozent der Stimmbürger mindestens einmal an die Urne gehen. Das ist in etwa so hoch wie in Ländern, wo nur alle vier Jahre Wahlen sind.
Hat die Schweiz das richtige Führungsmodell für schwierige Zeiten – mit einem Gremium ohne Chef, mit sieben gleichberechtigten Bundesräten? Angela Merkel hingegen kann einen Minister entlassen, wenn er nicht spurt.
Das ist auch für Merkel nicht so einfach, schliesslich führt sie eine Koalitionsregierung an ... Unser System ist aber sicher viel stärker auf Kompromisse angelegt, auch in der Regierung. Wir sprechen vier Landessprachen, kennen grosse regionale und religiöse Vielfalt, unterschiedliche Traditionen und Kulturen. Es liegt in unserer Natur, dass wir uns einigen müssen.
Kein Unternehmen der Welt wird so geführt. Dort entscheidet ein Chef und trägt die Verantwortung.
Unser System beruht darauf, breit abgestützte Lösungen zu finden. Wir brauchen Zeit, um zu diskutieren, zu konsultieren, um das Land zu spüren, bevor wir entscheiden. Dafür kommt es zu weniger Schnellschüssen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, wie es in Deutschland läuft: Im März 2014 traf ich Sozialministerin Andrea Nahles. Sie hatte gleich nach ihrem Amtsantritt eine Altersreform aufgegleist. Sie sagte mir, vor Ostern wolle sie die Regierung konsultieren, vor dem Sommer gehe die Reform ins Parlament, in vier Monaten sei die Reform durch. Ich habe erklärt, dass wir nur schon gut zwei Jahre einrechnen, um unsere Rentenreform auszuarbeiten. Da gibt es Verwaltungsarbeit, Vernehmlassungen, Überarbeitungen, Diskussionen im Bundesrat. Ein Jahr später habe ich Nahles wieder getroffen. Sie sagte, alles sei wie geplant verlaufen, jetzt hätte sie mit den Korrekturen begonnen. Das heisst, innerhalb eines Jahres hat sie bereits eine Reform der Reform entwickelt. Die Risiken einer solchen Stop-and-go-Politik existieren bei uns nicht. Langsam ist manchmal schneller.
Apropos Altersreform. Vergangenen Montag hat die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit Ihre Vorlage etwas modifiziert, aber einstimmig angenommen. Haben Sie eine Flasche Champagner geöffnet?
Keine Champagnerflasche, nein. Aber ich war sehr froh, den Willen zu sehen, ein mehrheitsfähiges Projekt zu entwerfen. Es hat mich beeindruckt, wie die Kommission gearbeitet hat, wie sie neue Wege gesucht, zusätzliche Berechnungen und Berichte verlangt hat. Ich habe selbst viel Neues gelernt und wurde mit Fragen konfrontiert, an die ich zuvor nicht gedacht hatte.
Aber wird die Vorlage am Ende vor dem Volk bestehen?
Das ist das Ziel. Als der Bundesrat 2012 die ersten Eckwerte festlegte, fielen die Reaktionen vernichtend aus: Die erste und die zweite Säule zusammen reformieren – chancenlos. 65 als Referenzrentenalter für alle – unmöglich. Den Umwandlungssatz stark senken – wird nie funktionieren. Die Skeptiker waren in der Mehrzahl, doch drei Jahre danach lebt das Projekt, es wird weiterentwickelt und erhielt nun in der ersten vorberatenden Kommission Unterstützung ohne Gegenstimme. Der Bundesrat ist nach wie vor überzeugt: Ein ausgewogenes Paket ist mehrheitsfähig, eines, das die erste und zweite Säule gemeinsam betrachtet und das Rentenniveau hält.
Die Geschichte lehrt etwas anderes: Da verwarf das Volk vergleichsweise kleine Reformen in Bausch und Bogen.
Ja, aber bei diesen ging es immer nur um einen Aspekt. Das jetzige Reformvorhaben ist ausgewogen und bringt mehrere Vorteile. Erstens: Indem wir die erste und die zweite Säule gemeinsam reformieren, schaffen wir Transparenz. Es liegt alles auf dem Tisch. Wir haben nicht die Ungewissheit, dass wir die erste Säule reformieren und nicht wissen, was mit der zweiten Säule passiert. Zweitens: Wir brauchen eine Reform, die umfassend ist. Wir versprechen, dass die Verluste kompensiert werden. Das Rentenniveau bleibt. Drittens: Der demografische Wandel konnte bisher problemlos bewältigt werden. Alle wissen aber, dass wir an einem kritischen Punkt stehen. Ab 2020 gehen die Babyboomer in Pension. Also schnüren wir nun eine Reform, die die Situation zumindest mittelfristig klärt. Oder wir machen es nicht. Dann verschlechtern sich in einigen Jahren die Finanzen rapid und wir müssen Rettungsprogramme verabschieden.
Sie wollen mit Ihrer Reform die Renten bis 2030 sichern – auch das ist nicht nachhaltig. Hatte Pascal Couchepin eben doch recht, als er Rentenalter 67 forderte, um die Finanzierungsprobleme zu lösen?
Auf wessen Kosten?
Auf Kosten von uns allen, weil wir länger arbeiten müssten.
Das ist das Problem: Ein höheres Rentenalter hat keine Chance! Der Bundesrat wollte kein dogmatisches Projekt, sondern ein realistisches. Bereits jetzt steht im Gesetz Rentenalter 65 für Männer geschrieben. Aber in der Realität liegt es heute bei durchschnittlich etwa 64. Wichtig ist, dass die Leute auch wirklich so lange arbeiten.
Andere Staaten haben das Rentenalter längst auf 67 erhöht.
Ja, zum Beispiel Deutschland, Italien oder gewisse skandinavische Staaten. Doch viele Norweger gehen mit 62 in Rente. Entscheidend ist das reale Rentenalter. Dieses gilt es zu heben.
Wenn wir immer länger leben, folgt es einer gewissen Logik, dass wir auch länger arbeiten müssen.
Es ist schon heute möglich, länger zu arbeiten. Was es braucht, ist eine Flexibilisierung des Rentenalters und einen funktionierenden Arbeitsmarkt. Die Welt, in der man 35 Jahre lang in derselben Unternehmung arbeitete, gibt es nicht mehr. Es ist einfach, zu sagen, niemand soll vor 65 in Pension gehen. Doch was machen wir mit jenen, die mit 55 arbeitslos werden und Mühe haben, eine Stelle zu finden? Und wie erklären wir das den Gemeinden, die dann mehr Sozialhilfe zahlen müssen?
Gegenfrage: Wo bleibt die Solidarität zwischen den Generationen? Heute finanzieren die Jungen die Renten der Alten – auch in der beruflichen Vorsorge, wo das eigentlich nicht vorgesehen ist.
Gerade deswegen wollte der Bundesrat eine Lösung präsentieren, die überzeugend ist, mit der wir eine Volksabstimmung gewinnen können. Wir arbeiten nicht für die Galerie. Nach zwanzig Jahren Stillstand braucht es Bewegung, um eines der wichtigsten Sozialwerke der Schweiz zu reformieren.
Ihre Vorgänger haben sich die Zähne an diesen Dossiers ausgebissen. Ihnen hingegen scheint es Spass zu machen.
Politik macht mir Spass! Sonst würde ich etwas anderes tun. Ich bin überzeugt, dass die Reform gut ist für die Bevölkerung.
Liegt nicht die grosse Schwierigkeit darin, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg immer allen besser ging – und jetzt muss erstmals eine Generation Abstriche machen?
Das stimmt. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir eine Blüte erlebt, es ging vor allem darum, die Früchte des Wachstums zu verteilen. Die Situation hat sich verändert mit der Babyboom-Generation, die pensioniert wird, und mit den sinkenden Renditen auf den Anlagemärkten. Die Leute verstehen das und sind bereit für einen Reformschritt, wenn sie diesen gerecht finden. Aber man muss vorsichtig und pragmatisch vorgehen, um keinen Schock zu verursachen.
Ebenfalls immer teurer wird das Gesundheitswesen ...
Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens können wir durch den medizinisch-technischen Fortschritt immer mehr Krankheiten erkennen und behandeln. Das ist erfreulich, kostet aber. Niemand ist bereit, seinen Krebs mit veralteten Methoden behandeln zu lassen, nur weil er sich bewusst ist, dass die neue Therapie sehr viel mehr kostet. Zweitens leben wir immer länger und die Zahl älterer Menschen nimmt zu. Im Alter ist man häufiger krank und muss behandelt werden.
Wie viel darf ein zusätzliches Lebensjahr kosten?
Diese Frage lässt sich nur im Einzelfall beantworten. Ich traue den Ärzten und dem Fachpersonal zu, dass sie zusammen mit ihren Patienten die richtige Antwort geben.
Ist diese Frage unethisch?
Nein, aber es geht bei den Behandlungen am Lebensende nicht allein um die Kosten. Mindestens so wichtig ist, dass nur Eingriffe gemacht werden, die auch im Sinn des Patienten sind und seine Lebensqualität verbessern. Das Machbare ist nicht immer das Gewünschte oder Beste.