Ab Dienstag lebt die Schweiz auf Pump. Am Swiss Overshoot Day hat sie ihr natürliches Ressourcenkonto für das Jahr 2021 geplündert. «Würden alle so leben wie die Schweizer Bevölkerung, wären die Ressourcen von drei Planenten notwendig», schreibt der WWF. Als «Gegenmittel» empfiehlt er unter anderem ein Ja zum CO2-Gesetz am 13. Juni.
Für die Gegner der Vorlage sind die Treibhausgasemissionen der Schweiz hingegen nicht der Rede wert. Es ist neben den Kosten ihr Lieblingsargument: Die Schweiz sei für das weltweite Klima «unbedeutend», weil sie nur 0,1 Prozent zum globalen CO2-Ausstoss beitrage. Rein rechnerisch und auf die inländischen Emissionen bezogen ist die Rechnung korrekt.
Die jährlich 41 Millionen Tonnen entsprechen rund einem Promille der globalen Emissionen. Doch die Gegner blenden dabei zwei Aspekte aus: Ein grosser Teil des schweizerischen CO2-Ausstosses entfällt auf das Ausland, durch den internationalen Luftverkehr sowie die Produktion und den Transport von Gütern, die in unser Land importiert werden.
Das CO2-Gesetz wirkt sich darauf nur punktuell aus, doch hier kommt ein weiterer Punkt ins Spiel: Die Schweiz hat ihr CO2-Konto in der Vergangenheit überzogen. Sie hat eine eigentliche «Emissionsschuld» auf sich geladen. Von Mitte der 1950er Jahre bis und mit 2013 war der Emissionsanteil der Schweiz grösser als ihr Anteil an der Weltbevölkerung.
Errechnet hat dies der Umweltökonom Reto Schleiniger, Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Publiziert hat er seine Erkenntnisse im Magazin «Die Volkswirtschaft» des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Seine Zahlen stammen aus der Datenbank Our World in Data der britischen Universität Oxford.
Damit konnte Schleiniger die Emissionsschuld der Schweiz bis 1858 berechnen. Die meiste Zeit war sie teilweise deutlich im Minus. Eine bemerkenswerte Ausnahme war der Zweite Weltkrieg, «da die Schweiz damals als nicht Krieg führendes Land vergleichsweise wenig Emissionen verursachte». Seit 2014 befindet sie sich ebenfalls im positiven Bereich.
Deshalb wagt Reto Schleiniger auch einen Blick nach vorne. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 hat das Ziel, den globalen Temperaturanstieg gegenüber dem vorindustriellen Niveau auf 1,5 Grad, höchstens aber 2 Grad Celsius zu begrenzen. Dieses Ziel könnte die Schweiz erreichen, das amitioniertere aber verfehlen, hält der Winterthurer Ökonom fest.
Voraussetzung dafür ist die Klimastrategie des Bundesrats. Sie strebt ein Netto-Null-Ziel bis 2050 an. Vieles ist noch offen. «Gesetzlich fixiert ist nur das Ziel, den CO2-Ausstoss bis 2030 zu halbieren», sagt Schleiniger im Gespräch mit watson. Damit erfülle die Schweiz die Pariser Verpflichtung, sofern das CO2-Gesetz im Juni angenommen wird.
Wie aber sieht die Rechnung konkret aus? Basierend auf Schätzungen des Weltklimarats IPCC verfügt die Schweiz für das 2-Grad-Ziel über ein Emissionsbudget von 1205 Millionen Tonnen CO2 ab 2018. Beim 1,5-Grad-Ziel sind es nur 437 Millionen Tonnen. Mit dem bundesrätlichen Klimaziel käme die Schweiz laut Schleiniger auf 715 Millionen Tonnen.
Darin enthalten sind die direkten Inland-Emissionen sowie jene aus dem Luftverkehr. Diese seien statistisch erfasst und könnten etwa anhand des verkauften Treibstoffs berechnet werden, sagt Schleiniger. Die Rechnung ist simpel: Das 2-Grad-Ziel würde die Schweiz locker erreichen. Sie könnte sogar einen Teil ihrer historischen Schuld tilgen.
Das 1,5-Grad-Ziel, das nach Ansicht vieler Wissenschaftler zur Vermeidung einer Klimakatastrophe notwendig ist, würde die Schweiz hingegen auch mit der Netto-Null-Strategie des Bundesrats klar verfehlen. Mit einem «Defizit» von 277 Millionen Tonnen würde sie ihr Budget erneut überschreiten und ihre Emissionsschuld erhöhen.
Die meisten der im Ausland verursachen Emissionen sind dabei ausgeklammert. «Wenn das CO2 einen Preis bekäme, müssten wir als Konsumenten auch für die Emissionen im Ausland bezahlen», sagt Reto Schleiniger. Die Schweiz bliebe «nicht ungeschoren». Möglich wären Zertifikate oder eine globale CO2-Steuer, die jedoch unrealistisch erscheint.
Schleiniger ist sich bewusst, dass seine Berechnungen angreifbar sind. So verweisen Kritiker auf die positive Leistung der Schweiz etwa im Bereich Innovation. Nicht widerlegen lässt sich, dass die Schweiz lange über ihre Verhältnisse gelebt hat. «Letztlich ist es eine Gerechtigkeitsfrage», meint der Ökonom. Diese müsse politisch beantwortet werden.
Die nächste Gelegenheit dazu hat das Schweizer Stimmvolk in knapp fünf Wochen.
Eine Vorbildfunktion der reichen Schweiz & Europa ist absolut nötig, damit andere Länder mitziehen. Wenn nicht Wir, wer dann?