Bevor Jan Fehr, Infektiologe und Leiter des Departements Public & Global Health an der Universität Zürich, für das Gespräch in sein penibel aufgeräumtes Büro bittet, führt er stolz durch das frisch renovierte Zentrum für Reisemedizin (ZRM). Das Personal läuft geschäftig durch die hellen Räumlichkeiten. Von den Decken baumeln Schlingpflanzen in Moos gehüllt.
Man könne sich dieses Jahr wieder etwas mehr auf die Reiseberatung fokussieren als noch im vergangenen Jahr, sagt Fehr. Hauptfokus am ZRM liege aber weiterhin auf dem Virus. Links neben dem Eingang steht ein weisses, beheiztes Zelt. Dort hätte Fehr sein ganzes Team gerne einmal nach Feierabend zum Weihnachtsapéro eingeladen. Die epidemiologische Lage lässt dies aber nicht zu. Stattdessen wird dort jetzt geboostert. Viele ältere Menschen sitzen auf Stühlen und warten auf die dritte Spritze.
Fehr läuft weiter, grüsst seine Mitarbeitenden mit Vornamen. Desinfiziert sich mehrfach die Hände. Vor der Pandemie war Fehr kaum jemandem ausserhalb der Forschung ein Begriff. Das Virus katapultierte ihn in die Öffentlichkeit – wie viele andere Fachexperten auch. Nun trifft Fehr Dutzende Medienschaffende zum Gespräch. Bevor er die Tür zu seinem Büro öffnet, blitzen seine Socken in Neon-Pink auf.
Herr Fehr, ich hab vor unserem Treffen nachgeschaut, wie häufig Ihr Name dieses Jahr in den Medien aufgetaucht ist. Raten Sie mal.
Jan Fehr: Keine Ahnung.
Sie wurden 286 Mal zitiert.
Nein!
Doch!
Hoppla.
An dieser Stelle möchte ich mich im Namen der Redaktion bei Ihnen bedanken. Dafür, dass Sie praktisch immer Antworten liefern, wenn wir von Ihnen etwas wissen wollen. Das ist ja nicht selbstverständlich.
Mir liegt es am Herzen, dass wir mit der Bevölkerung einen guten Dialog führen. Dazu trage ich bei, was ich kann. Die Hälfte der Medienanfragen lehne ich aber ab. Sonst komme ich am Abend gar nicht mehr aus dem Büro.
Und dennoch: Es ist nicht selbstverständlich. Es ist ja nicht so, als hätten Sie sonst nichts zu tun. Und wer öffentlich Auskunft gibt, exponiert sich. Wie fallen die Reaktionen aus?
Positiv und negativ. Es gibt viele, die loben unsere Arbeit und bedanken sich. An die versuche ich mich zu halten. Sie motivieren. Dann gibt es aber auch jene, die einfach ihren Frust irgendwo deponieren wollen.
Werden Sie auch bedroht?
Das kommt vor. Dafür haben wir den Rechtsdienst der Universität Zürich. Dieser leitet, wenn nötig, rechtliche Schritte ein.
Die Medienauskünfte sind ja nur ein kleiner Teil Ihrer Arbeit. Sie tragen viele Hüte. Sie sind Arzt, Infektiologe, leiten das Departement Public & Global Health an der Universität Zürich, forschen im Rahmen von Corona Immunitas und stehen regelmässig den Medien Red und Antwort. Welcher Hut wiegt am schwersten?
Es ist eher das Jonglieren der Hüte, das viel Zeit und Organisation braucht. Als Departementsvorsteher leite ich ein Team von unterdessen über 100 Leuten. Das ist anspruchsvoll. Zusätzlich bin ich im Pandemiestab des Kantons Zürich, wo wir uns zweimal in der Woche treffen, die aktuelle Corona-Lage beurteilen und Massnahmen diskutieren, mit dem Ziel, diese auch rasch umzusetzen. Und ich versuche weiterhin auch noch in der Forschung und Lehre tätig zu sein.
Kamen Sie in diesem Jahr überhaupt dazu, Ferien zu machen?
Zum Herbstbeginn liess es die Lage zu, ja. Dann bin ich mit meinem Rennvelo von hier aus nach Rom gefahren.
Sie holen sich die Erholung also beim Velofahren.
Das kann man so sagen. Die Fahrt war wunderschön, zuerst die Berge hoch über den Grossen Sankt Bernhard. Danach bis nach Turin in diese kulturell extrem elaborierte und schöne Stadt. Ein Marocchino unter den Arkaden und dabei dem Leben zuschauen. Das ist Balsam für Gaumen und Seele. Dazwischen Wolken, Wind, Natur. Das ist gefahrene Poesie. So kann ich auftanken.
Hätten Sie gedacht, dass sich die Lage noch einmal so zuspitzt, wie das jetzt der Fall ist?
Hätten Sie mich das Anfang Jahr gefragt, hätte ich wohl verneint. Aber als ich im Sommer von meiner Velotour zurückkehrte, dämmerte es mir. In Italien war das Zertifikat bereits eingeführt und es wurde sehr streng kontrolliert. Bei der Einreise in die Schweiz musste man zwar ein Formular ausfüllen, aber überprüft hat das niemand. Das, in Kombination mit dem schleppenden Impftempo, machte mir klar: Das kommt nicht gut. Bald darauf konnte man dann beobachten, wie die Fallzahlen wieder anstiegen.
Es ist frustrierend. Wir hätten es mit der Impfung in der Hand, wir könnten aktuell an einem anderen Punkt sein.
Wir haben den Sommer nicht genügend genutzt. Es ist bedauernswert, dass die Schweiz zusammen mit Österreich und Deutschland zu den Impf-Schlusslichtern von ganz Westeuropa zählt. Wir haben uns zu wenig auf die kälteren Tage vorbereitet. Es wäre der Moment gewesen, Lücken weitgehend zu schliessen.
Aber woran liegt das? Man hätte ja erahnen können, dass sich die epidemiologische Lage wieder zuspitzt, wenn sich nicht genügend Menschen impfen lassen und die Tage wieder kürzer werden.
Wenn die Fallzahlen zum wiederholten Mal steigen, weiss man langsam, was das bedeutet. Ich und viele andere Fachleute haben bereits im Spätsommer darauf hingewiesen, dass wir bei ungenügender Durchimpfung schlecht gegen eine nächste Welle gewappnet sind. Unterdessen ist es allen klar. Nun ist es Sache der Politik.
Ziehen Sie sich damit nicht aus der Verantwortung?
Wir im Kanton und auch am Referenzimpfzentrum sind über Monate wirklich sehr weit gegangen, die Menschen zur Impfung einzuladen. Wir waren das erste Impfzentrum im ganzen Kanton, das schon im Januar begann, gegen Covid zu impfen. Der Ansturm war riesig. Wir impften 800 bis 900 Menschen pro Tag. Wir behandelten auch das Grosi, das eine Stunde zu früh vor dem Zentrum stand, wir liessen niemanden in der Kälte warten. Als im Spätsommer nur noch 60 Leute pro Tag reintröpfelten, fassten wir uns im Team ein Herz und sammelten Ideen.
Was kam dabei heraus?
Wir schlugen der Zürcher Gesundheitsdirektion das Impftram vor. Wir impften Menschen, die in Asylzentren wohnen, organisierten Übersetzerinnen, machten im Kanton Impftage in verschiedenen Sprachen. Wir arbeiteten mit verschiedenen Religionsgemeinden zusammen. Wir setzen ganz stark auf Niederschwelligkeit und etablierten den Impfbus und fuhren damit in sämtliche Zürcher Gemeinden. Es wurden Grümpelturniere durchgeführt und Würste mit der Impfung verschenkt. Ich war Redner an Podiumsdiskussionen, hielt Informationsvorträge, stand während der langen Nacht des Impfens an der Zürcher Europaallee Red und Antwort, während meine Apotheker-Kollegin Menschen direkt nach dem Ausgang impfte. Und das alles wurde gratis und mit viel Aufwand zur Verfügung gestellt. Die ganze Infrastruktur, der Impfstoff, das Personal: Das kostet Milliarden von Franken. Langsam bin ich schon etwas ernüchtert und mit meinem Latein am Ende.
Wenn Sie sagen, alle Möglichkeiten seien ausgeschöpft, liegt es dann einfach an der Kommunikation von Bund und Behörden?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wandte sich im Juli per Fernsehansprache an das französische Volk und sagte klar, dass die Impfung der einzige Weg zurück in ein normales Leben sei. Er nahm die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht und sagte klar, was er von ihnen erwartet. Bundespräsident Guy Parmelin rang sich erst Mitte Dezember zu einer ähnlichen Aussage durch, als er sagte, dass ungeimpfte Personen eine lange Durststrecke erwarte. Da wurde kostbare Zeit verspielt.
Sie wünschen sich also klare Ansagen vom Bundesrat.
Man kann nicht Selbstverantwortung predigen ohne klar zu sagen, was von jedem Einzelnen erwartet wird. Erwartungen zu kommunizieren, schafft Orientierung. Und gerade in einer Pandemie sind wir zuweilen sehr orientierungslos. Mit klar kommunizierten Ansagen können wir uns auseinandersetzen und uns darauf einstellen.
Da würden Ihnen viele Massnahmen-Skeptiker aber widersprechen.
Ich verstehe, dass es viele verschiedene Partikularinteressen gibt. Dass die Gastro- und Tourismusbranche andere Wünsche hat als die Spitäler und dass sich viele Menschen eingeschränkt fühlen. Aber am Ende des Tages verfolgen wir ja alle das gleiche Ziel: Wir wollen, dass diese Pandemie endlich vorbei ist.
Manchmal geht das vergessen. Dass wir alle eigentlich den gleichen Wunsch haben.
Absolut! Das ist das, was mir aktuell am meisten Sorgen bereitet. Nicht das Virus, sondern die gesellschaftliche Diskussion darüber lässt mich manchmal nachts nicht schlafen. Wie kann es sein, dass wir alle das Gleiche wollen, aber stets aneinander vorbeireden?
Ich weiss es auch nicht, Herr Fehr.
Was mich zuweilen irritiert, ist das Unvermögen, sich in andere Personen hineinversetzen zu können. Wenn eine Pflegefachperson seit bald zwei Jahren im Einsatz ist, jeden Tag alles dafür gibt, dass Covid-Patienten wieder gesund werden und sich dabei ja gleichzeitig einer hochinfektiösen Person aussetzt, dann verstehe ich einfach nicht, wie man dieser Pflegefachperson keinen Glauben schenken will. Will man ihr vorwerfen, dass sie nur übertreibt oder einfach mehr Lohn will? Das Verständnis für das Gegenüber und der Glaube an das Gute im Menschen werden gerade sehr auf die Probe gestellt und der «Kredit» für den anderen schmilzt gerade wie ein Schneemann an der Costa Brava.
Glauben Sie, dass wir das als Gesellschaft wieder irgendwie hinkriegen?
Ich hoffe es. Und wir müssen es hinkriegen. Es wird nicht die letzte Krise sein. Wenn Sie mich vor zwei Jahren gefragt hätten, welches die nächsten grossen Herausforderungen für die westliche Welt wären, hätte ich auf das Klima oder die Cybersicherheit gewettet. Diese Krisen kommen vielleicht noch, genauso wie nächste Pandemien. Und auch diese – das ist meine tiefste Überzeugung – werden wir nur meistern, wenn wir alle am gleichen Strick ziehen. Koste es, was es wolle.
Vielleicht liefert uns die Bewältigung dieser Pandemie Instrumente für zukünftige Krisen.
Das wäre wünschenswert. Aber auch hier frage ich mich, ob wir wirklich etwas daraus lernen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man so schnell wie möglich alles hinter sich bringen will. So, wie wenn Besuch kommt und man in Windeseile das Chaos beseitigen muss. Dann stopft man alles in den Schrank. Bis zum nächsten Mal, wenn man etwas davon braucht. Dann fällt einem alles unkontrolliert entgegen.
Sie fürchten sich davor, dass wir keine Lehren aus der Krise ziehen?
In der Wissenschaft ist die Lernkurve steil. Am Anfang wussten wir ja nicht einmal, ob man auch ansteckend ist, wenn man noch keine Symptome hat. Unterdessen haben wir unglaublich viel dazugelernt. Wir wissen viel mehr über Immunität, über Impfungen, über deren Nebenwirkungen und, und, und … gesellschaftlich weiss ich ehrlich gesagt nicht, wie viel hängen bleibt. Ich befürchte, dass sich niemand mit den Aufräumarbeiten beschäftigen will, sobald die Pandemie vorbei ist. Das wäre tragisch.
Was ist denn bis jetzt bei Ihnen hängen geblieben?
Die Erkenntnis, dass wir einen anderen Modus finden müssen, um diese Krise zu bewältigen. Wir dürfen uns nicht ständig gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe schieben. Dieses Ping-Pong-Spiel zum Beispiel zwischen Bund und Kantonen führt ins Leere. Wir müssen die gesellschaftliche Dimension mit in die Diskussionen einbinden. Und wir müssen uns schleunigst darum kümmern, wie wir diese vielen Menschen, die uns inmitten der Pandemie verloren gingen, wieder in die Gesellschaft eingliedern können.
Wäre ein Modus nicht einfach die Einführung einer Impfpflicht?
Eine Impfpflicht holt uns die Menschen, die uns verloren gingen, sicherlich nicht einfach zurück. Da müssen wir grundsätzlicher ansetzen. Es ist ein längerer Prozess, welcher weit über die aktuelle Krise hinaus angegangen werden muss.
Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Braucht es eine Impfpflicht?
Ich finde, es besteht eine moralische Pflicht, sich impfen zu lassen. Wenn wir eine höhere Impfquote hätten, wären wir auch besser in diesem Winter unterwegs. Das heisst nicht, dass alles gelöst wäre, denn es gibt ja immer noch die globale Pandemie. Anfang Pandemie hätte ich mich geweigert, über eine Impfpflicht zu reden. Doch nun, wo wir mit offenem Dialog, Informationen und Niederschwelligkeit alles versucht haben, um die Leute zum Impfen zu bewegen, bin ich der Meinung, dass wir wenigstens über die Impfpflicht sprechen müssen. Denn es gibt hunderte Fragen zum Thema. Die beantworten wir nicht im stillen Kämmerchen, sondern nur mit einer offenen und ehrlichen Debatte.
Wann müssen wir uns nicht mehr mit diesen Fragen rumschlagen? Wann ist die Pandemie vorbei?
Vorbei ist die Pandemie erst, wenn wir aufhören, die Wellen zu zählen. Oder noch konkreter: Wenn alle Menschen und deren Immunsysteme einmal Kontakt mit dem Coronavirus hatten – sei es genesen oder geimpft. Dann kann es in Zukunft zwar noch zu Infektionen kommen, aber das führt nicht mehr zur Überbeanspruchung des Gesundheitssystems und einer Einschränkung des öffentlichen Lebens. Vieles davon hängt nun von der neuen Variante Omikron ab.
Das heisst?
Bei der Omikron-Variante zeichnet sich ab, dass sie ansteckender ist als die Delta-Variante. Und dass sie sich dem Immunsystem entziehen kann. Die grosse Frage ist nun, wie schwer sie krank macht.
Wann kann man diese Frage beantworten?
Es gibt zwar Daten aus Südafrika, aber die sind schwierig mit unserer Situation zu vergleichen. Sehr wahrscheinlich wird Omikron bereits in diesen Tagen bei uns die vorherrschende Variante sein. Omikron wird uns Anfang 2022 sehr beschäftigen. Das Virus wird uns auch noch im Januar beschäftigen. Denn aufgrund der schieren Menge an neuen Ansteckungen werden auch die Spitaleinweisungen zunehmen und das Gesundheitssystem belasten. Selbst dann, wenn Omikron keine besonders schweren Verläufe verursacht. Denn die Spitäler sind aktuell ja noch sehr belastet durch Delta. Die Ausgangslage ist angespannt.
Das klingt nicht gerade hoffnungsvoll.
Für den Moment gerade nicht. Für die weitere Zukunft könnte uns Omikron aber helfen. In der unmittelbaren Situation ist die Booster-Impfung das Gebot der Stunde. Sie kann den verminderten Schutzeffekt gegenüber Omikron deutlich verbessern. Und die dritte Impfung schützt uns nicht nur, sondern kann hoffentlich auch die andere Bereiche des öffentlichen Lebens funktional halten.
Kommen Sie bei dieser angespannten Lage überhaupt dazu, die Festtage zu geniessen?
An den eigentlichen Feiertagen, die dieses Jahr ja aufs Wochenende fallen, versuche ich nicht im Büro zu sein. Aber viel Zeit durchzuatmen habe ich nicht.
Und was wünschen Sie sich für das kommende Jahr?
Dass wir als Gesellschaft gemeinsam einen Weg finden, mit der Krise besser umzugehen. Und dass wir einen Weg finden, sie zu beenden. Das Virus kann nicht einfach so besiegt werden. Wir müssen lernen damit zu leben und ich hoffe, dass es mit der Zeit zu einem zahmen Haustier wird und sich dieses in die Reihe anderer Infektionskrankheiten wie beispielsweise die Grippe einreiht. Das schaffen wir nur gemeinsam. Und zu guter Letzt: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Pandemie erst im Griff ist, wenn die Situation weltweit einigermassen unter Kontrolle ist. Wir leben in einer vernetzten Welt. Spätestens seit dem Frühjahr 2020 wissen wir, dass Wuhan näher ist, als wir dachten.
"Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (...) sagte klar, dass die Impfung der einzige Weg zurück in ein normales Leben sei. Er nahm die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht und sagte klar, was er von ihnen erwartet (...) Man kann nicht Selbstverantwortung predigen ohne klar zu sagen, was von jedem Einzelnen erwartet wird. Erwartungen zu kommunizieren, schafft Orientierung."
Wer keine klare Erwartungen kommuniziert, übernimmt keine (politische) Veranwortung. Die fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernhemen, ist brand gefährlich.