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Wie Long-Covid: Als eine mysteriöse Schlafkrankheit die Schweiz erfasste

Spanische Grippe Schweiz
Lazarett für Patienten der Spanischen Grippe von 1918 in der Schweiz.Bild: ETH-Bibliothek

Rätselhaft wie heute Long Covid: Als eine mysteriöse Schlafkrankheit die Schweiz erfasste

Im Schatten der Spanischen Grippe grassierte in der Schweiz eine rätselhafte Schlafkrankheit. Ein Blick zurück könnte helfen, Long Covid besser zu verstehen.
09.06.2024, 07:37
Pascal Michel / ch media
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Als Fritz Steiner eines Morgens im Frühling 1922 aufsteht, zittern seine Knie so stark, dass er sich die Kleider nicht mehr anziehen kann. Die Anfälle, begleitet von steifen Armen, Kopfweh und Müdigkeit, halten über die nächsten Tage an. Die diffizile Handarbeit im väterlichen Betrieb als Präparator will ihm nicht mehr gelingen, auch wenn er mit grösster Mühe versucht, den zitternden Körper zu bändigen. Spätestens am Nachmittag ist Fritz zu erschöpft, um sich noch konzentrieren zu können.

Für den jungen Mann aus Amriswil TG sind die Anfälle ein Rätsel. Die Krankheit macht ihn still, raubt ihm die Lebensfreude. Dabei war der 18-Jährige stets munter und gesellig gewesen. Er engagierte sich bei den Pfadfindern, in der Schule gehörte er zu den Besten der Klasse. Auch körperlich galt Fritz, hochgeschossen und kräftig, als kerngesund. Sogar an der mörderischen Spanischen Grippe erkrankte er nur so leicht, «dass er davon nicht einmal ins Bett ging», erklärt sein besorgter Vater den Ärzten.

Als nach zwei Monaten keine Besserung eintritt, bringt ihn der Vater am 21. April in die «Irrenanstalt Münsterlingen», die heutige Psychiatrische Klinik. Dort stellen die Ärzte zuerst die Diagnose «Katatonie», eine Motorikstörung. Als sich der Vater allerdings daran erinnert, Fritz habe bereits vor zwei Jahren einmal drei Tage durchgeschlafen, ist für die Mediziner nach weiteren Abklärungen klar: Der junge Patient leidet an «Parkinsonismus nach encephalitis lethargica». So steht es in der Patientenakte, die heute im Staatsarchiv des Kantons Thurgau liegt.

Der Tod kam innert weniger Wochen

Die Krankheit, die Fritz Steiner befiel, beschrieb der Wiener Neurologe Constantin von Economo erstmals 1917. Als Militärarzt hatte er immer öfter Patienten vor sich, die an rätselhaften Symptomen litten. Die unbekannte Krankheit lähmte die Augen und Gliedmassen, verursachte Bewusstseinsstörungen und eine starke Schläfrigkeit. Oft fielen die Betroffenen im Stehen oder beim Essen in einen komatösen Zustand. Economo gab dem Leiden den Namen encephalitis lethargica, weil er bei Verstorbenen im Gehirn unzählige kleine Entzündungsherde feststellte. Wie dramatisch die «Europäische Schlafkrankheit» verlaufen konnte, beschrieb von Economo eindringlich am Beispiel einer 26-jährigen Frau:

«Von der Polizei auf die psychiatrische Klinik gebracht. Seit zwei Tagen verwirrt, schlafe, wo sie gehe und stehe, ein. Auf der Klinik geht Patientin mit geschlossenen Augen wie eine Schlafwandelnde, lebhaft delirierend und allerlei buntes Zeug redend, im Zimmer herum. Am Abend plötzlich Lungenödem und Exitus.»

Der Wiener Arzt beobachtete, dass ein Drittel der betroffenen Patienten innert weniger Wochen verstarb. Auffallend war die Spannweite der Symptome: Neben dem komatösen Schlaf beschrieb von Economo zwei andere typische Verlaufsformen. Eine war gezeichnet von unkontrollierten Zuckungen, von Angstzuständen oder Schlafproblemen. Die andere rief – wie bei Fritz Steiner – ähnliche Symptome wie Parkinson hervor.

In der Schweiz tauchten die ersten Fälle der rätselhaften Krankheit 1920 auf. Im Schatten der Spanischen Grippe, die sich in jenem Jahr zu einer letzten «verspäteten» Welle aufbäumte, stieg die Zahl der registrierten Enzephalitisfälle massiv an. Der Bundesrat erliess im Februar 1920 eine Meldepflicht, wie die drei Schweizer Forschenden Kaspar Staub, Tala Ballouz und Milo Puhan von der Universität Zürich in einem kürzlich publizierten Rückblick auf die postviralen Krankheiten der letzten 150 Jahre schreiben.

Patientenakte von Fritz Steiner im Staatsarchiv Thurgau.
Patientenakte von Fritz Steiner im Staatsarchiv Thurgau.Bild: Staatsarchiv Kanton Thurgau / mpa

Die amtlichen Daten zeigen, dass hiesige Ärzte im Jahr 1920 984 Fälle der Schlafkrankheit meldeten. Rund 290 der Erkrankten starben an der Gehirnentzündung. Gemäss Schätzungen infizierten sich weltweit rund eine halbe Million Menschen. Der Höhepunkt der Epidemie lag zwischen 1916 und 1927 – dann verschwand die Krankheit so plötzlich, wie sie gekommen war. Sie tauchte bisher nie wieder epidemisch auf.

In Münsterlingen geht es Fritz Steiner bald nach seiner Ankunft besser. Die Ärzte behandeln ihn mit Hyoscin, einem starken Beruhigungsmittel. In der Patientenakte heisst es: «Er freundet sich mit seiner kindlichen, zutraulichen Art mit vielen Patienten und Wärtern an. Körperlich geht es ihm so gut, dass (…) er als Erfolg der Hyoscinmedikation vorgestellt wird.»

Von der Influenza in den Dämmerschlaf?

War es die Spanische Grippe, die bei Fritz Steiner parkinsonähnliches Zittern hervorrief und Tausende in Tiefschlaf versetzte? Bereits der Neurologe Constantin von Economo vermutete einen Zusammenhang mit der Influenza, die zwischen 1918 und 1920 weltweit wütete und in der Schweiz rund 25'000 Todesopfer forderte.

Betrachtet man die Daten für die Schweiz, ist diese Beobachtung besonders augenfällig (siehe Grafik). Sogar der Bundesrat hielt 1921 in einem Bericht fest, dass «die Kurven der beiden Krankheiten praktisch identisch verlaufen. Das hat zur Erkenntnis geführt, dass die Enzephalitis eine Komplikation der Influenza ist.»

Die Epidemien von 1920 im Vergleich
Bild: Eidg. Gesundheitsministerium / AZ / let

Es gibt Patientenakten, die ebenfalls auf die Spanische Grippe hinweisen. Im Staatsarchiv Thurgau liegt das Dossier der vormals «gesunden Hausfrau» Julia Keller-Waller. Die Influenza legte die Frau aus Nottwil LU eine Woche lang ins Bett. Sie erholte sich zwar rasch. Doch ein Jahr später erfasste sie ein seltsamer «Halbschlaf», der sie derart aus der Bahn warf, dass sie nur noch vor sich hindämmerte. Sie kam in eine Heilanstalt in Zihlschlacht TG.

War bei ihr die Grippe ursächlich für den Dämmerschlaf? Dafür spricht, dass bereits bei der «Russischen Grippe» in den 1890er-Jahren eine ähnliche Welle einer mysteriösen postviralen Krankheit auftrat, vor allem in Italien. Sie wurde damals «Nona» genannt und führte ebenfalls zu komatösem Schlaf.

Felix Stern, ein deutscher Neurologe und weiterer Pionier der Forschung, sympathisierte in seinem 1922 erschienenen Standardwerk mit der Idee, die Europäische Schlafkrankheit könnte ein Nebenprodukt der Spanischen Grippe sein. Die Zeitgenossen sprachen deshalb oft von der «Gehirngrippe». Später verwarf Stern die These allerdings wieder. Es gab zu viele Widersprüche, zu vieles passte nicht zusammen. Tatsächlich tauchten die ersten Fälle bereits einige Zeit vor dem verheerenden Ausbruch der Spanischen Grippe auf, nämlich im Jahr 1915. Und bis heute konnten in konservierten Hirnproben von Enzephalitis-Opfern keine RNA-Spuren der Influenza nachgewiesen werden.

Es bleiben viele Rätsel

Hundert Jahre später gibt die encephalitis lethargica der Medizin immer noch Rätsel auf. Derzeit stehen zwei weitere Thesen zur Diskussion, mit der Forscherinnen und Forscher zu erklären versuchen, warum die Krankheit so plötzlich auftauchte und wieder verschwand.

Die erste These lautet: Es war gar nicht ein Virus selbst, das die Gehirnentzündung auslöste. Sondern eine fehlgeleitete Immunantwort unseres Körpers. Eine solche Autoimmunenzephalitis wurde vor wenigen Jahren erstmals beschrieben. Die Symptome ähneln jenen der Europäischen Schlafkrankheit in frappanter Weise. Sie lassen ebenfalls das zentrale Nervensystem der Patienten kollabieren und können tödlich enden.

Eine ähnliche Spur verfolgen Forscherinnen und Forscher derzeit bei Long Covid. Dort wird vermutet, dass das sogenannte Komplementsystem – ein Teil des Immunsystems – überreagiert und gesunde Körperzellen zerstört. Zudem wird darüber diskutiert, ob auch ein Coronavirus vor 100 Jahren der Auslöser der Schlafkrankheit gewesen sein könnte. Diese Vermutung lancierte letztes Jahr eine italienische Professorin in einem Aufsatz.

Die zweite These lautet: Ein Enterovirus, vermutlich Polio, steckt hinter der mysteriösen Epidemie. Das jedenfalls glauben drei Forscher, die vier Hirnproben aus den Jahren 1917 bis 1926 sowie Einzelfälle aus jüngerer Zeit untersucht haben. Da die Studie bisher nicht wiederholt wurde, bleibt es bei einem Verdacht. Die Untersuchung der historischen Proben verdeutlicht, wie schwierig es ist, den Ursachen der Schlafkrankheit auf die Spur zu kommen. Die Zahl und die Qualität der noch vorhandenen Proben ist begrenzt. Ohne eine neue Epidemie, glauben Forscher, werde man wohl nie erfahren, was wirklich hinter der Krankheit steckt.

Dennoch ist der Blick zurück nicht vergebens. Er zeigt, dass Krankheitsbilder, die Long Covid ähneln, keineswegs neu sind. So tauchte der bei Long Covid vielfach beschriebene «Hirnnebel» bereits vor 100 Jahren bei Enzephalitispatienten auf. Gleichzeitig grassierte im Schatten der Spanischen Grippe nicht nur die Schlafkrankheit, sondern eine Vielzahl an postviralen Leidensgeschichten: Nicht wenige Überlebende der Grippe plagten noch monatelang Müdigkeit, Kreislaufschwäche oder Herzrasen.

«Wir wissen schon lange, dass Viren ins Hirn vordringen und dort Schäden anrichten können, die jahrelang anhalten», sagt Jürg Kesselring, einer der renommiertesten Neurologen der Schweiz. Dies habe sich bei der Coronapandemie erneut gezeigt, als unzählige Erkrankte nichts mehr schmecken und riechen konnten. Das Virus griff jenen Teil des Gehirns an, der für die Geruchserkennung zuständig ist.

Jürg Kesselring ist überzeugt, dass auch bei der encephalitis lethargica ein Virus die Hauptrolle spielte. Er glaubt, dass man aus den früheren Pandemien und ihren rätselhaften Begleiterscheinungen lernen könnte. «Wir wissen immer noch viel zu wenig über unser Gehirn. Deshalb sollten wir auch frühere Pandemien genau in den Blick nehmen und uns fragen: Gibt es etwas, das wir heute bei Long Covid übersehen?»

Eine Lektion aus der Geschichte steht fest. Diese sei simpel, sagt Kaspar Staub, Historiker und Epidemiologe: «Postvirale Symptome gibt es schon lange. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn sie wieder auftauchen, gerade im Kontext einer Pandemie. Im besten Fall sind wir dann besser vorbereitet». Die Ausgangslage dafür ist vielversprechend. Keine Pandemie ist so gut dokumentiert wie Covid-19. Nun gilt es, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Eine zweite Lektion aus der Geschichte: «Es gibt Hoffnung für Betroffene», sagt der Neurologe Kesselring. «Das Gehirn ist wandlungsfähig. Es kann sich spontan komplett erholen, besonders unter geeigneter Therapie – von Long-Covid-Schäden heute, von Gehirnentzündungen früher. Je besser wir diese Prozesse verstehen, desto wirkungsvoller können wir Patienten helfen.»

Zürcher Behörden kannten keine Gnade

Fritz Steiner kann die Klinik Münsterlingen am 16. Juli 1922 verlassen. Er muss sich wöchentlich melden und seine Medikamente abholen. Sein Vater schreibt nach der Entlassung an den behandelnden Arzt: «Es geht ihm gleich. Es ist nicht schlimmer geworden.»

Nicht alle Patienten hatten so viel Glück wie Fritz Steiner. Sie warteten nicht nur vergeblich auf Besserung, sondern wurden zusätzlich von den Behörden drangsaliert.

In Zürich ist ein besonders tragischer Fall dokumentiert. Zwar bleiben die Patientenakten im Staatsarchiv unglaubliche 120 Jahre unter Verschluss. Dank eines einsehbaren Regierungsratsprotokolls ist das bewegende Schicksal von Katharina Rigling dennoch ansatzweise fassbar.

Die gebürtige Deutsche war 1920 an der «Kopfgrippe» erkrankt und konnte nicht mehr arbeiten. Im Dezember 1924 kam sie zur Behandlung in die Klinik Burghölzli. Die Ärzte diagnostizierten bei der Mutter von sieben Kindern «Parkinsonismus nach encephalitis». Da die Familie mittellos war und die Eltern keinen Schweizer Pass besassen, konnte Rigling nicht in der Klinik bleiben. «Unter diesen Umständen sind die Voraussetzungen für die Heimschaffung gegeben», befand die Zürcher Polizeidirektion. Der Regierungsrat stimmte dieser Einschätzung zu. Sofern der Beschluss umgesetzt wurde, was nicht immer der Fall war, schaffte die Polizei die schwer kranke Frau nach Deutschland aus.

Keine Gnade: Die kranke Katharina Rigling liess die Zürcher Regierung ausweisen.
Keine Gnade: Die kranke Katharina Rigling liess die Zürcher Regierung ausweisen.Bild: Staatsarchiv Kanton Zürich

Den Antrag für diese Ausweisung hatte die Zürcher Direktion des Armenwesens gestellt. Die Behörde fürchtete, die «geisteskranke» Katharina Rigling werde dem Staat auf der Tasche liegen. Was aus der damals 48-Jährigen geworden ist, ist nicht bekannt. Die Akten sind noch 20 Jahre lang gesperrt.

Wer heute an einer postviralen Krankheit leidet und keinen Schweizer Pass besitzt, muss zwar nicht mehr mit der Ausweisung rechnen. Dennoch stellen sich die Behörden oft quer. Sie befürchten noch immer, dass die postviralen Pandemieopfer die Sozialwerke überfordern könnten. Die Invalidenversicherung lehnte bisher die meisten Unterstützungsgesuche von Long-Covid-Patienten ab. Eine Rente bekommen lediglich knapp 4 Prozent der Betroffenen, die einen Antrag stellen. (aargauerzeitung.ch)

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13 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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future--?
09.06.2024 09:09registriert November 2023
Oha! nur 4% erhalten eine Rente wegen Long-Covid?
Zum Glück erhält ein Freund von eine IV Rente. Er ist 100% Arbeitsunfähig, ein tragischen Schicksal.
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