Es gibt steilere Berge. Ewig lange Alpenpässe. Strassen mit noch mehr Kehren. Und doch kann man es drehen und wenden, wie man will: Es gibt keinen berühmteren Anstieg als jenen rund 13 Kilometer langen hinauf nach Alpe d'Huez. Muss ein durchschnittlicher Sportfan, der sich nicht ausgiebig mit dem Radsport befasst, den mythischsten aller Anstiege nennen – dann ist die Chance gross, dass seine Antwort «Alpe d'Huez» heisst.
Entsprechend prestigeträchtig ist ein Sieg in diesem Wintersportort in den französischen Alpen. Ende der 70er-Jahre ist dieser Mythos jedoch gerade erst am Entstehen. Nach Fausto Coppis Sieg bei der Premiere 1952 folgt der zweite Besuch erst 1976, Joop Zoetemelk holt sich den Sieg. 1977 doppelt mit Hennie Kuipers ein Landsmann nach, bald ist vom «Berg der Holländer» die Rede.
Kuipers Name steht auch als Etappensieger 1978 in den Büchern. Aber er überquert den Zielstrich der 16. Etappe der Tour de France nicht als Erster. Er erbt den Erfolg, weil sich Solosieger Michel Pollentier bei der Dopingkontrolle als Betrüger erwischen lässt.
Als Gesamtsieger des Giro d'Italia 1977 ist der belgische Meister eine grosse Nummer. 241 lange Kilometer stehen an diesem Tag auf dem Programm, es geht von Saint-Étienne hinauf nach Alpe d'Huez. Pollentier, im gepunkteten Trikot des Führenden der Bergwertung, setzt sich frühzeitig ab und hat am Fuss der Schlusssteigung rund zwei Minuten Vorsprung auf das Feld. Er teilt seine Kräfte gut ein, nutzt das Zeitpolster und kann im Ziel die Arme in die Höhe recken.
Sein Solosieg bringt Pollentier auch gleich die Führung im Gesamtklassement ein. Nur noch vier Flachetappen und ein 72 Kilometer langes Einzelzeitfahren trennen ihn davon, in wenigen Tagen als grosser Triumphator auf die Champs-Élysées in Paris einzufahren.
Doch dazu kommt es nicht. Denn im Ziel muss Pollentier zur Dopingkontrolle. Und wird dort dabei erwischt, wie er die Fahnder vermeintlich besonders raffiert reinlegen will. In einem Kondom befindet sich sauberer Fremdurin, Pollentier versteckt es unter der Achselhöhle. Er verbindet es mit einem dünnen Schlauch, um den Anschein zu erwecken, zu pinkeln.
Es ist sein Pech, dass er nicht der einzige ist, der mit diesem Trick versucht, die Dopingjäger zu narren. Auch der Franzose Antoine Gutierrez probiert es so – aber irgendwie klappt es nicht richtig. So wird der Arzt skeptisch, er schaut genau hin und entdeckt Kondom und Schlauch. Er reisst auch Pollentier das Trikot hoch. Aus und vorbei. Der gefeierte Etappensieger wird sofort aus der Tour ausgeschlossen. Später wird festgestellt, dass er sich mit Amphetaminen aufgeputscht hatte.
Der Ausschluss schmerzt Michel Pollentier. Das Gelbe Trikot, das er errungen hat, darf er nie im Rennen zeigen. Doch zu seinem Glück ist der Sport damals noch gnädiger mit seinen Sündern. Die Strafe sind eine zwei Monate lange Sperre und eine Busse von 5000 Franken. Noch in der gleichen Saison gewinnt er die Escalada a Montjuïc, ein Rennen für Kletterer am Hausberg von Barcelona. Und 1980 siegt er in jenem Velorennen, das für jeden Belgier das wichtigste der Welt ist, noch wichtiger als die Etappe hinauf nach Alpe d'Huez: Die Flandern-Rundfahrt.
Auch Pollentiers Erben scheitern: Noch nie ist es einem Fahrer aus der stolzen Radsport-Nation Belgien gelungen, eine Etappe in Alpe d'Huez zu gewinnen. Bis Ende der 80er-Jahre bleibt es beim «Berg der Holländer», zu je zwei Siegen von Joop Zoetemelk und Hennie Kuiper kommen auch zwei Erfolge von Peter Winnen und je einer von Steven Rooks und Gert-Jan Theunisse hinzu.
Seit 1989 wartet aber auch Belgiens Nachbarland auf den nächsten Sieger. Ein Schweizer jubelt nach 1130 Höhenmetern von Bourg d'Oisans hinauf ins Ziel ebenfalls: Der St.Galler Beat Breu feiert 1982 einen glorreichen Solosieg.