Herr Saxer, die Grünen-Nationalrätin Meret Schneider ist in einen grossen Shitstorm geraten, weil sie Plattformen wie X und Tiktok als Gefahr für die Demokratie bezeichnet hat. Hat sie recht?
Urs Saxer: Sie fangen mit einer schwierigen Frage an. Ich bin Jurist, hier geht es vor allem um eine politische Wertung.
Versuchen Sie es trotzdem.
Die Auffassung von Frau Schneider ist nachvollziehbar. Auf den Plattformen kommt es zu extremen politischen Auseinandersetzungen, die einseitig geführt werden können. Ich gebe aber zu bedenken, dass es in der Schweiz Faktoren gibt, die für eine Korrektur sorgen: Wir haben nach wie vor ein funktionierendes Mediensystem, wir haben einen öffentlich finanzierten Service public. Das bedeutet einen gewissen Schutz gegen allzu einseitige Darstellungen.
In der Schweiz beschäftigt sich derzeit der Bundesrat mit der Frage, wie soziale Medien reguliert werden sollen. Worauf kommt es dabei an?
Der Bundesrat kann noch lange an dieser Frage herumstudieren, das bringt wenig.
Warum?
Wir haben es hier mit global tätigen Unternehmen zu tun, die ihre Hauptsitze in den USA haben, in China, in Irland. Was kann die Schweiz als kleines Land ausrichten, welche Wirkung kann sie erzielen? Wie kann sie ihr Recht durchsetzen? Netzwerke müssen reguliert werden, aber der nationale Rahmen ist zu klein. Es gibt weltweit drei Ansätze im Umgang mit sozialen Medien.
Welche?
Erstens die USA. Die Plattformen sind nicht verantwortlich für die Inhalte, die sie verbreiten. Versuche für eine Regulierung sind im Kongress gescheitert – das geltende Gesetz stammt aus dem Jahr 1996. Die Plattformen können sich gegenüber dem Staat stets auf die Meinungsfreiheit berufen. Zweitens China und teilweise Russland: Die sozialen Medien sind unter staatlicher Kontrolle und werden gezielt für das Abschöpfen von Daten und für die Verbreitung von Propaganda genutzt.
Und drittens?
Die Regulierung der Europäischen Union mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act. Um was geht es? Bestehende Rechtsgüter gelten auch auf Online-Plattformen. Zum Beispiel die Persönlichkeitsrechte, die vor Diffamierung schützen und die Privatsphäre sichern. Gesetze gegen Rassismus werden angewandt wie auch Bestimmungen des Sexualstrafrechts. Die Nutzer der Plattformen haben Rechte und können sie bei den Betreibern der Plattformen einfordern. Und die Anbieter dürfen eine marktbeherrschende Stellung nicht ausnützen.
Sind Sie der Meinung, dass die Schweiz diese Regulierung übernehmen soll?
Natürlich. Es geht um einen Ausgleich zwischen der Freiheit und der Wahrung der Grundrechte einer jeden Person sowie von Rechtsgütern der Allgemeinheit. Weil die EU gross ist, kann sie ihre Regulierung durchsetzen. Auf sich allein gestellt hat die Schweiz in diesem Bereich wenig auszurichten.
Gibt die Schweiz nicht ihre Souveränität preis, wenn sie sich der Regulierung Brüssels anschliesst?
Welche Souveränität, bitte? Eine Regulierung auf nationaler Ebene funktioniert hier nicht. Entweder man schliesst sich einem grösseren Gebilde an und erreicht etwas – oder man lässt es ganz bleiben. Letzteres löst keine Probleme.
Der amerikanische Vizepräsident JD Vance warnt davor, die freie Meinungsäusserung in den sozialen Medien zu beschneiden.
Ja, warum tut er das? Er verteidigt vor allem die kommerziellen Interessen der amerikanischen Anbieter sozialer Plattformen. Sie sollen gegen Sanktionen immun sein, wenn die von ihnen verbreiteten Inhalte wichtige private oder öffentliche Interessen verletzen. Es geht hier vor allem um Business und sicher nicht um die Meinungsfreiheit der Nutzer. Wie sehr nationale Interessen im Vordergrund stehen, sah man auch am Umgang der USA mit Tiktok.
Wie meinen Sie das?
Es ist schwierig nachzuweisen, dass der chinesische Staat im grossen Stil die Daten der Nutzer dieser Plattform verwertet. Also brachten die USA flugs ein neues Gesetz auf den Weg, mit dem sich Tiktok verbieten lässt.
In Deutschland gab es eine Strafanzeige und eine Hausdurchsuchung, nachdem jemand einen Minister im Internet als «Schwachkopf» bezeichnet hatte. Da gehen die Behörden zu weit.
Ich kenne den Fall nicht im Detail, vermute aber, dass die Umstände auf eine mögliche Sicherheitsbedrohung hindeuteten. Wäre es nur um diese eine Aussage gegangen, wäre das Vorgehen nicht verhältnismässig gewesen.
Es gibt die Gefahr, dass der Staat missliebige Meinungsäusserungen abzuklemmen versucht.
Mir scheint, dass die Abgrenzungen vor allem im Bereich der sogenannten Fake News manchmal schwierig sind. Was ist offensichtlich falsch oder nur verkürzt? Die Grenze zu ziehen, ist zuweilen nicht einfach. Darum empfiehlt sich hier eine grosszügige Auslegung.
Finden Sie es richtig, dass die Schweiz den Sender «Russia Today» nicht verboten hat?
Ja. Zum Beispiel in den baltischen Staaten mit ihren grossen russischsprachigen Minderheiten ist es eine Frage der nationalen Sicherheit, ob man die Desinformation des russischen Regimes laufen lässt oder nicht. In der Schweiz ist das Problem weniger virulent, daher drängt sich ein Verbot nicht auf.
Anbieter von sozialen Medien wie Elon Musk fördern mit der Programmierung der Algorithmen Inhalte, die ihrer Weltanschauung entsprechen. Andere werden hingegen unterdrückt. Muss man das hinnehmen?
Das ist ein grosses Problem. Es wird derzeit darüber diskutiert, dass die Anbieter offenlegen sollen, wie sie ihre Algorithmen programmieren. Sie wehren sich natürlich dagegen.
Die US-Regierung will die Europäische Union dazu bringen, ihre Regulierung der Online-Plattformen zurückzunehmen.
Das wird die EU nie tun. Warum sollte sie? Sie hat Regeln formuliert, die ihrem Rechtsverständnis entsprechen und welche die Rechte der Nutzer und der Allgemeinheit schützen. Aus Sicht der EU gibt es keinen Grund, davon abzukommen. Besser eine supranationale Regelung als ein ineffektiver Wildwuchs auf der Ebene der Mitgliedstaaten.
Und was dieses Thema betrifft: Es braucht dringend eine gute open-source Alternative! Vielleicht auch eine öffentlich finanzierte?