Es hat mal ein besonders frecher Filmkritiker vermutet, dass dies ein Film von reiferen Leuten für reifere Leute sei, nämlich für die 40- bis 60-Jährigen, denn genau diese Altersgruppe habe den Film massgeblich gefördert. Er stellte damit den Verdacht ins Land, dass es sich dabei um ein nostalgisches Projekt von ehemals Jugendbewegten handeln würde, die hier ihre Sicht auf die Achtziger noch einmal zelebrieren wollten. Es ist dies natürlich eine besonders absurde Argumentation, man muss nur einmal versuchen, sie auf noch weiter zurück spielende Retroprojekte anzuwenden.
Aber ja, sagen wir's so, Menschen über 35 werden in «Der Goalie bin ig» besonders glücklich, denn der Film, der die Schweizer seit Wochen begeistert, ist eine liebevolle Rückschau auf die Träumer und Herumhänger von einst, auf die Verliebten und Verlebten. Ein schöner, runder, wehmütiger Film über eine Hand voll Männer, 1988, irgendwo in der biederen Ereignislosigkeit der Berner Provinz.
Sie hadern über Jahrzehnte mit dem Erwachsenwerden und tun das Dümmste, was man sich als «Giel» mit einem verwundbaren berndeutschen Herzen ausdenken kann, sie versuchen sich in der Drogenabhängigkeit und in der Drogenkriminalität, und das stürzt dann einen um den andern ins selbstgebastelte Unglück. Das Schicksal «füdlet» sie alle so richtig.
Da ist der Ernst (Marcus Signer), der seit der Schulzeit Goalie heisst, so ein guter Tscholi, der sich schon immer als Sündenbock instrumentalisieren liess. Da ist der Ueli (Pascal Ulli), der die ganze Unberechenbarkeit einer Junkie-Existenz verkörpert, der vom lieben Bettler schnell zum bösartigen Intriganten wird. Und man muss Pascal Ulli, der in blutjungen Jahren als Alain Delon der Schweiz galt, einen Kranz winden dafür, dass er für seine Rolle 15 Kilos abgenommen hat, aber dass er trotz dieser radikalen Referenz ans amerikanische Method Acting kein dahingewürgtes Krampf- und Körpertheater aus seiner Rolle macht.
Da ist aber auch der Wirt des «Maison» (Michael Neuenschwander), feindselig und irgendwie schuldbewusst, und der Punk Stofer (Thomas Hostettler), der seltsamerweise zu Geld gekommen ist, als der Goalie ein Jahr lang in der Kiste sass. Und natürlich die schöne Regula (Sonja Riesen), die den Goalie so sehr beschäftigt, als wäre sie seine erste Liebe, und die das nicht so richtig erwidern kann, weil sie die Skeptischste von allen ist. Sie hat halt einfach keinen Grund, den Männern zu trauen.
Seit fünf Wochen läuft die Kriminal- und Liebesgeschichte, in der sich das Berndeutsch nicht nur in der Sprache äussert, sondern irgendwie auch in der kernig-melancholischen Nonchalance der Kamera. 71'000 haben den «Goalie» bis jetzt gesehen – vielleicht wollten sie ja heimlich «eifach e chli am kaputte Läbe schmöcke», wie der Goalie das einer Ex-Freundin vorwirft.
Der Film von Regisseurin Sabine Boss hatte letzte Woche in unseren Kinos mehr Zulauf als «Wolf of Wall Street», «Nymphomaniac» oder «Philomena», er hat insgesamt bereits jetzt so viele Schweizer Zuschauer wie der amerikanische Independent-Hit «Little Miss Sunshine» und mehr als der alte Vampirfilm «Interview with a Vampire», immerhin mit Brad Pitt und Tom Cruise, oder als die Teenie-Komödie «Legally Blonde 2».
Viele kennen in der Schweiz den berndeutschen Mundartroman von Pedro Lenz, 29'000mal hat er sich verkauft, er ist ins Hochdeutsche, Italienische, Litauische und Schottische übersetzt worden, und erscheint demnächst auf Französisch und Ungarisch. Aber am Ende sind das Buch und seine Geschichte halt eben doch eine kleinteilige Angelegenheit, die vor allem über den Sound und die Dichte der Sprache lebte. Fast mehr ein Lyrikband als ein Roman. Die Sache mit der Sprache hatte sich dann schnell erledigt: Pedro Lenz verarbeitete sie zu Filmdialogen, Marcus Signer nahm sie in den Mund und gab ihr seine Gestalt, und das passte, als wäre der Lenz über Nacht in den Signer geschlüpft.
Vielleicht liegt ein Stück des Erfolgs auch daran, dass sich um den 49-jährigen Marcus Signer, den man ausserhalb des Berner Stadttheaters erst als besonders aufregendes Spurenelement im Schweizer Film («Mary & Johnny») oder in ein paar «Tatort»-Folgen wahrgenommen hat, jetzt ein Star-Mythos zu spinnen beginnt. Ein schweizerisch bescheidener natürlich, aber schon ein Mythos. Der nämlich des ungezogenen Berner Buben, der klaut und von Bäumen «obenabe kacket», der mit dem Jugendgericht zu tun hat, der in der Berner Reithalle wohnt und arbeitet und eines Tages denkt, wenn er nur mit dem Töff nach Amsterdam fahren würde, fände er dort schon ein Schiff, das ihn nach Amerika bringen würde, und in Amerika würde er berühmt werden. Irgendwie. Mit dem Töff kommt er bis zur Genfer Grenze, dort wird er von der Polizei nach Hause geschickt.
Zuerst lernt er Hochbauzeichner, ein Velounfall bringt ihn zur Besinnung, er wird Schauspieler, und jetzt staunen alle, wo sich so viel Talent eigentlich so lange versteckt hat. Er ist eben ein bisschen durchs Leben mäandert, wie der Goalie. Aber heute, sagt Signer, sei er ein ganz normaler, ganz anständiger Schauspieler, sehr zuverlässig und mit einer Ordnung im Leben und einer sehr, sehr festen Freundin, aber das mit dem Bewegungsdrang, dem inneren Roadmovie, das ist ihm als Motto geblieben: «Glücklichsein ist kein Dauerzustand.»
Im Moment wird er noch ein bisschen Glück aushalten müssen: Kommende Woche ist «Der Goalie bin ig» für sieben Schweizer Filmpreisenominiert, und ganz besonders Signer, Ulli und Riesner wären sie zu gönnen, diesen drei Stars, die keine Allüren, sondern nur Hingabe kennen, ganz besonders an das Berndeutsche, diesen Dialekt der Herzen. Dass ausgerechnet Kuno Lauener den Film mit einem Song beschliesst und darin die offene Geschichte des Goalie gleich noch ein bisschen weiterspinnt, das ist besonders stimmig. Denn genau das ist «Der Goalie bin ig»: Ein besonders anrührender, ein besonders herber Züri-West-Song in Filmlänge.