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Ndrangheta-Clan: Der nette Bauarbeiter war die rechte Hand des Mafia-Bosses

Schweizer Ndrangheta-Clan: Der nette Bauarbeiter war die rechte Hand des Mafia-Bosses

Die Leute, die ihn kannten, hielten ihn für eine kleine Nummer, er war «ein ganz lieber Typ». Aber der unauffällige Bauarbeiter war für Ermittler die zentrale Figur eines kalabrischen Mafia-Clans in der Schweiz.
20.04.2025, 17:2220.04.2025, 17:24
Henry Habegger / ch media
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Wenige Schritte vom Polizeiposten entfernt: Die Pizzeria (im Hintergrund) war eine Art Schaltzentrale eines Mafia-Clans.
Wenige Schritte vom Polizeiposten entfernt: Die Pizzeria (im Hintergrund) war eine Art Schaltzentrale eines Mafia-Clans. bild: hay

Etwa einmal pro Monat, so steht es in italienischen Akten, reiste Rocco Anello, 64, aus der Kleinstadt Filadelfia in Kalabrien in die Schweiz. Anello war der Boss des mächtigen Ndrangheta-Clans der Anello-Fruci, und er hatte Geschäfte in der Schweiz zu beaufsichtigen und zu erledigen.

Etwa einmal pro Monat, so erzählen Personen in der Schweiz, kam es in einem Restaurant bei Baden im Kanton Aargau zu einem erstaunlichen Schauspiel. Eine Gesellschaft von Italienern schlug sich während Stunden die Bäuche voll, ein richtiges Gelage. Aber irgendwann erhoben sie sich, ohne zu zahlen. Im Gegenteil, der Wirt eilte ihnen hinterher und drückte einem von ihnen einen Umschlag in die Hand – darin befanden sich die Tageseinnahmen.

Manchmal kamen die Italiener auch mit Frauen und Kindern, 20 bis 30 Personen, auch da zahlten sie keinen Rappen. Stattdessen erschien der unterwürfige Wirt mit dem Umschlag.

Der Baggerfahrer war die rechte Hand des Bosses

Mit dabei in diesen Gesellschaften war jeweils ein untersetzter, harmlos wirkender Mann, 58. Als «todlieber Typ», als «ganz netter Kerl», wird er von Leuten beschrieben, die ihn kennen. Er lebte im Aargau, war offiziell Bauarbeiter, betrieb nebenbei ein kleines Unternehmen im Bereich Gartenbau, besass einen Bagger.

Ermittler in Italien und der Schweiz halten den zurückhaltenden Bauarbeiter jedoch für «den wichtigsten Ansprechpartner» von Rocco Anello in der Schweiz. Er habe seit je «engen und direkten Kontakt» mit dem gefürchteten Boss.

Der Anello-Clan wurde ab den Achtzigerjahren mit Drogenhandel reich, insbesondere mit Kokain, das er aus Kolumbien anschaffte. Die Macht sicherte er sich mit Waffen aus der Schweiz. Waffen, die vor allem der Baggerfahrer organisiert haben soll.

Der Clan investierte in grossem Stil in der Schweiz. In Restaurants, Nachtklubs, in die Bau- und Immobilienbranche, in Finanzvehikel. Er setzte Drogen und Falschgeld in Umlauf, arbeitete mit reihenweise dubiosen und kriminellen Akteuren zusammen. Dabei war es laut Ermittlern der Bauarbeiter, der «die wirtschaftlichen Interessen» der Bande in der Schweiz vertrat, «indem er die Einkünfte aus den illegalen Aktivitäten einkassierte». Er trieb auch Schulden und Schutzgelder ein. Er legte gegenüber dem Boss regelmässig «Rechenschaft» über die Einkünfte ab, transferierte Gewinne auch selbst nach Italien.

2020 wurde der Kleinunternehmer im Zug der grossen Anti-Mafia-Operation «Imponimento» verhaftet. Wie auch eine Hand voll weiterer Italiener in der Schweiz. Allen voran der Wirt, 58, einer Pizzeria in Muri AG, die dem Clan als eine Art Schaltzentrale diente.

Der Wirt fasste, wie rund 100 weitere Gangster, letztes Jahr in Italien eine Haftstrafe: In seinem Fall 17 Jahre. Der Bauarbeiter aber ist in der Schweiz und längst wieder auf freiem Fuss. Er wartet, falls er nicht noch abtaucht, auf seinen Prozess vor Bundesstrafgericht in Bellinzona: Die Bundesanwaltschaft hat gegen ihn soeben «Anklage wegen Beteiligung an respektive Unterstützung einer kriminellen Organisation» erhoben.

Kalaschnikows aus Lugano in Pneuladung versteckt

Ein Kronzeuge erzählte den Ermittlern in Italien, wie einst eine Ladung Waffen, die der Bauarbeiter besorgt haben soll, nach Italien geliefert wurde. Eingespannt wurde ein Pneuhändler namens Franco, der regelmässig Reifen aus Lugano bezog und sie in Süditalien verkaufte. Mit einem Kilo Kokain, das er von Boss Anello erhalten und das im Reserverad seines roten VW Golf verstaut war, fuhr Franco in die Schweiz.

Mit dem Koks zahlte er beim Bauarbeiter die Waffen. Diese kamen danach per Eisenbahn nach Kalabrien, versteckt in einem Güterwagen voller Pneus. «Es waren eine Menge Gewehre und Kalaschnikows und Pistolen Kaliber 38 und .357 Magnum», erinnerte sich der Kronzeuge. Auch sehr viel Munition sei mitgeliefert worden.

Der Kronzeuge identifizierte den Baggerfahrer später als den Verkäufer der Waffen. Er hatte ihn in Kalabrien gesehen, als eine zweite, grössere Lieferung angedacht wurde, die aber dann nicht zustande kam, weil der Pneuhändler kalte Füsse bekam.

In einem anderen Fall, es war im Jahr 2016, bestellte Boss Rocco Anello beim Bauarbeiter «Schläuche». Dieser beauftragte einen Italiener, der eine Transportfirma in Domat/Ems betrieb, zwei Packungen Munition «9mm kurz» nach Kalabrien zu bringen. Die gegen 100 Patronen kamen offenbar aus einem Depot, das ein zum Clan gehörender italienischer Bauunternehmer in der Schweiz angelegt hatte. Der Kurier wurde später an der Grenze von der italienischen Polizei abgefangen.

Für Morde und für Einschüchterungen

Auf die Frage der Ermittler, wofür der Clan die Waffen gebraucht habe, antwortete ein reumütiger Mafioso: «Offensichtlich wurden sie entweder zur Begehung von Morden oder zur Einschüchterung zwecks Erpressung verwendet.» Der Mann hatte den Bauarbeiter auf einem Foto als jenen wiedererkannt, der für den Clan die Waffen aus der Schweiz importierte.

Auch in der Schweiz gehörten Waffen für die Bande zum Alltag. Der Wirt, früher Türsteher in Basel, bewahrte ein ganzes Sortiment auf. Er bot einem verdeckten Ermittler der Schweizer Bundespolizei ein «neues Sturmgewehr» für 1500 Franken zum Kauf an. In einem Migros-Sack bewahrte er einen Revolver Kaliber 7.5 auf und eine Walther PPK, zudem die passende Munition.

Er zeigte dem V-Mann auch eine schwarze SIG-Pistole und einen Mini-Revolver 22LR der Marke North American Arms. Der sei praktisch, den könne man am Knöchel tragen, er habe fünf davon. Einer der Revolver fehlte, wahrscheinlich habe sein Sohn die Waffe an sich genommen, sagte der Wirt zum Agenten.

Dem Bauarbeiter kaufte der V-Mann schliesslich eine Schweizer Armeewaffe ab – er bezahlte die 2000 Franken in markierten Scheinen. Es zeigte sich: Das Sturmgewehr war in einem Schützenhaus in Worben BE gestohlen worden.

Das Geld mit Autos und Frauen verjubelt

Er sei 1982 in die Schweiz gekommen, sagte der Bauarbeiter einmal, er habe viel Geld gemacht, es aber mit Autos und Frauen verjubelt. Mit zwei Nachtklubs habe er 300'000 Franken verloren.

Auch die Firma des Bauarbeiters gehörte anscheinend zum Clan. Rocco Anello schaute sich gegen Ende 2015 im Aargau Occasions-Baumaschinen an, die der Baggerfahrer anschaffen wollte, um die eigene Firma zu gründen. Finanziert wurden die Maschinen, das geht aus abgehörten Gesprächen hervor, aus Anellos Kasse. Die Bagger dienten aber auch als Tarnung für anderes schweres Gerät, mutmasslich Waffen. Am Telefon forderte Rocco Anello den Baggerfahrer, den er «Bistecca» (Beefsteak) nannte, einmal auf: «Schick mir alle Teile des Baggers, nicht nur die Hälfte», er wolle ihn «zusammenbauen».

2018 wurde ein ganzer Hitachi-Bagger Raupenbagger Zaxis 85 aus dem Aargau per Camion nach Kalabrien transportiert. Einen Zwischenhalt machte die Baumaschine auf einem Grundstück in Collina d'Oro bei Lugano, das vom Cousin des Bauarbeiters genutzt wurde. In Rho bei Mailand wurde ein weiterer Zwischenhalt eingelegt, der Bagger parkiert in der Nähe eines Mannes, der zum Clan gehörte. Zwei Monate später wurde das Baugerät auf einer Bauparzelle im Heimatdorf Filadelfia von Rocco Anello wieder gesichtet. Auf der Parzelle, auf der der Boss seiner Tochter, die ziemlich frisch verheiratet war, ein Haus bauen liess.

Kleinlaster des Bauarbeiters, Fahrzeug des Wirts. So präsentierte sich der Parkplatz der Pizzeria in Muri im Herbst 2020. Die Fahrer sassen damals seit Monaten in Haft.
Kleinlaster des Bauarbeiters, Fahrzeug des Wirts. So präsentierte sich der Parkplatz der Pizzeria in Muri im Herbst 2020. Die Fahrer sassen damals seit Monaten in Haft. bild: hay

Dem Bauarbeiter war anscheinend nicht immer sehr wohl in seinem Job. Manchmal nahm er das Telefon tagelang nicht ab. So einmal im Herbst 2015, als Anello ihn suchte, weil er einen auf den Baggermann eingetragenen Ford Mustang verkaufen wollte. Der Wagen war in Deutschland bei einem Türken stationiert.

Der Wirt der Pizzeria in Muri versuchte, aus der Situation Kapital zu schlagen. «Bistecca» verhalte sich «in letzter Zeit seltsam», sagte er dem Boss. Der Wirt, ein Ferrari-Fahrer, bot an, den Fiat 600, den der Boss sich anstelle des Mustangs zulegen wollte, auf seinen Namen eintragen zu lassen.

Wie stark der Clan auf die Schweiz fokussiert war, zeigte sich auch darin, dass sich die 59-jährige Schwester des Bosses seit Jahren hier aufhielt, getarnt als Serviertochter in Restaurants, in denen der Clan die Finger drin hatte. Sie reservierte manchmal Hotelzimmer, wenn ihre kriminelle Verwandtschaft anreiste. Ihr verstorbener Mann war ein gefürchteter Mafioso. Sie wurde von der Bundesanwaltschaft kürzlich wegen Geldwäscherei per Strafbefehl verurteilt. Weil sie die Strafe nicht akzeptieren will, kommt auch ihr Fall vor Bundesstrafgericht.

Auch der 65-jährige nahe Verwandte des Bauarbeiters war im Clan aktiv. Die beiden sind offenbar Cousins und gemäss einem Kronzeugen jedenfalls Jugendfreunde des Clan-Bosses Rocco Anello und dessen Bruder Tommaso. Was ihre besondere Vertrauensstellung erklären dürfte. Sie seien in die Schweiz ausgewandert und hätten jedes Mal, wenn sie nach Kalabrien kamen, «Waffen und Munition mitgebracht», sagte der Zeuge schon im Jahr 2006 in einer Befragung.

Der Cousin des Bauarbeiters lebte zunächst im Aargau, war in den Neunzigerjahren Teilhaber einer Maurerfirma im Kanton Zug. Später zog er ins Tessin. Dort arbeitete er zuletzt halbtags als Gemeindearbeiter, bezog eine IV-Teilrente. In Italien kreuzte er jeweils im Mercedes auf. Er wurde 2021 an Italien ausgeliefert und mittlerweile zu elf Jahren Haft verurteilt. Er ging «Bistecca» insbesondere im Waffengeschäft zur Hand, so die Ermittler. Zusätzlich trat er in Italien als Strohmann für den Boss auf: Immobilien und Landgüter, die Rocco Anello gehörten, waren auf ihn eingetragen.

Es gilt die Unschuldsvermutung. (aargauerzeitung.ch)

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53 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Yolanda Hecht
20.04.2025 17:45registriert Juni 2022
Verurteilt per Strafbefehl! D.h. entweder Geldstrafe oder max. ein halbes Jahr Gefängnis. Kein Wunder kommen diese Leute gerne in die Schweiz. Sogar ihre Immobilien dürfen sie behalten.
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Oliver01
20.04.2025 18:14registriert Februar 2023
Wir sind einfach zu blauäugig. Ist doch ganz klar, dass hier das organisierte Verbrechen schon seit Jahrzehnten Fuss gefasst hat. Hier kann man in Ruhe ‚arbeiten‘ ohne gestört zu werden und die Banken und Treuhänder nahmen (und nehmen?) das Geld gerne an. Alles Andere würde überraschen.
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raab23@gmail.com
20.04.2025 17:34registriert Mai 2022
Wie in den mafia-filmen. Die al capones tragen teure Anzüge, fahren teure autos, sind bestens bekannt mit den Politikern, Justiz, Presse und geben sich als normale geschäftsmänner in der Öffentlichkeit Aus.
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