Der Zürcher Freisinnige Jehuda Spielman hat am Sonntag die Sensation geschafft: Der 26-jährige politische Quereinsteiger und Immobilienbewirtschafter wurde überraschend mit 2671 Stimmen in den Gemeinderat gewählt und wird demnächst den Zürcher Kreis Wiedikon im Stadtparlament vertreten. Das wäre an sich noch keine grosse Sensation: Spielman gehört jedoch zur orthodox-jüdischen Gemeinde an, die in der Zürcher Politik in jüngster Zeit kaum sichtbar war.
Für die Repräsentation ist das wichtig, wie Spielman am Morgen nach der Wahl zu watson sagt. Die Lokalpolitik habe in seiner Gemeinde keinen grossen Stellenwert gehabt, an diesem Wahlabend hätten aber viele seiner Freunde die Resultate mitverfolgt: «Das Interesse war gross und sorgte dafür, dass sich insbesondere junge Gemeindemitglieder mit der Stadtpolitik befasst haben. Mit meiner Kandidatur konnte ich zudem aufzeigen, dass man auch gewählt werden kann – sofern man es überhaupt versucht.»
In seiner Nachbarschaft hängte er stolz Wahlplakate in der schweizweit anerkannten Minderheitssprache Jiddisch auf («.אייעד פרייהייט. מיין עסק»: «Eyer freyheyt. Meyn Eyssek.»). Er hofft nun, Vorurteile abbauen zu können. Frei nach dem Motto: Leben und leben lassen. Diese Einstellung dürfte aber bei ihm politische Konsequenzen haben: Spielman respektiert den Ruhetag Sabbat und will es weiterhin tun, auch wenn sich das Stadtparlament gelegentlich am Samstag trifft.
Der freisinnige Politiker machte das zwar schon während des Wahlkampfs transparent. Gross thematisiert wurde es aber nicht: Die linksgrünen Parteien hatten bislang eine satte Mehrheit im Parlament. Diese ist aber mit der gestrigen Wahl auf nur eine Stimme geschrumpft, was aus bürgerlicher Sicht spannend werden könnte: Sie haben bald eine grössere Chance, linke Anliegen zu kippen oder bürgerliche Anträge durchzubringen. Dafür braucht es aber bei knappen Abstimmungen jede einzelne Stimme – die der Freisinnige Jehuda Spielman nicht immer garantieren kann, wenn er am Samstag sein Grundrecht der religiösen Selbstbestimmung ausübt.
Im Bundeshaus stellen sich solche Fragen nicht: Dort gilt die sogenannte «Sitzungsteilnahmegarantie». Diese wird derart streng ausgelegt, dass eine Politikerin selbst als Tatverdächtige während einer Strafverfolgung oder während einer Covid-Isolation im National- oder Ständerat mitentscheiden darf. Notfalls per E-Voting, wie es zeitweise während der Pandemie möglich war. Zudem gab es seit Jahrzehnten keine Parlamentssitzung an einem Wochenende oder an hohen Feiertagen.
In Zürich gibt es hingegen keine solche streng gelebte Garantie. Im Gesetz zum Parlamentsbetrieb wird lediglich festgehalten, dass die Sitzungen «im Normalfall» am Mittwoch stattfinden: So bleiben in der Regel die Ruhetage im Islam (Freitag), Judentum (Samstag) oder Christentum (Sonntag) sitzungsfrei.
Der Normalfall wird auch meist gelebt, nur eben nicht immer: Die rund neun Milliarden Franken schweren Stadtfinanzen werden vom Parlament auch an langen Samstagssitzungen entschieden. Knappe Abstimmungen gibt es da oft. Das weiss auch Spielman – er fordert aber getreu seiner liberalen Haltung keine Verschiebung der Samstagssitzungen. Im Gespräch mit watson wünscht er sich lediglich, dass «kreative Wege» dazu geprüft werden.
Möglich wären zwei Optionen: Entweder verzichtet das Stadtparlament auf Sitzungen an religiösen Ruhetagen. Dafür wäre keine Gesetzesänderung notwendig, da schon heute alle Parlamentssitzungen «in der Regel» an Mittwochen stattfinden müssten. Oder es entsteht die Gepflogenheit, dass bei äusserst knappen Abstimmungen generell auf besondere Abwesenheitsgründe Rücksicht genommen wird. So wäre es beispielsweise kaum politisch vertretbar, wenn ein Parlament am Sonntagmorgen tagen würde, um Abstimmungen gegen den Willen von katholischen Gottesdienstgängern gewinnen zu können. Spielman sagt zu solchen Überlegungen nur kurz: «Ich bin nicht zur Wahl angetreten, um an den Sitzungsabläufen etwas zu ändern.»
Erfahrungswerte dazu aus anderen Kantonen gibt es kaum. «Uns ist soweit kein Fall bekannt, wo die Vereinbarkeit von Sabbateinhaltung und Parlamentsarbeit ein Thema war», sagt Christian Götz, Sprecher des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Ein Beispiel aus dem Jahr 2013 zeigt jedoch, dass zumindest Bundesparlamentarierinnen die Sonn- und Feiertage heilig sind.
Der Nationalrat diskutierte damals, ob Ladenöffnungszeiten liberalisiert werden sollten, sprich: ob Arbeiterinnen und Arbeiter auch an Wochenenden und Abenden arbeiten sollten. Das Parlament unterbrach die Debatte – ironischerweise, damit die Volksvertreter pünktlich ins Wochenende durften.
Der damalige SP-Nationalrat und Gewerkschafter Corrado Pardini erzürnte sich derart über diese fehlende Sensiblilität gegenüber der arbeitenden Bevölkerung, dass er schlicht und zynisch die Wochenend-Arbeit für Parlamentarier erlauben wollte. Seine Begründung: «Dies würde in der Bevölkerung als Signal verstanden, den politischen Betrieb an aktuelle Bedürfnisse anzupassen.» Pardini scheiterte mit dem Antrag und zog ihn schliesslich zurück.
Die Posse blieb aber in Erinnerung als Beispiel dafür, dass Parlamentarier die eigenen Ruhezeiten hoch gewichten. Offen bleibt, ob diese Ruhetage auch berücksichtigt werden, wenn es andere Konfessionen betrifft. Die wählerstarken Sozialdemokraten zeigen sich aber in einer Stellungnahme offen gegenüber Anpassungen. «Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass es wichtig wäre im Parlament eine Stellvertreterlösung zu haben», sagt Davy Graf, Fraktionschef der Zürcher SP. Er erwähnt dabei auch die Ausfälle aufgrund von Elternschaft oder weil Angehörige an Wochenenden gepflegt werden.
Zwar nicht genau dasselbe, doch sei daran erinnert, dass Wahlen und Abstimmungen seit jeher am Sonntag stattfinden. Die Stimmabgabe ist vorher möglich, doch tausende von Wahlhelfern in der ganzen Schweiz sind im Einsatz, um das funktionieren der Demokratie sicherzustellen. Hat meines Wissens noch nie jemanden gestört.