Heute benachteiligt unser Steuersystem verheiratete Paare. Und das schon viel zu lange. Zwei Personen, die standesamtlich miteinander verbunden sind und doppelt verdienen, müssen aufgrund der Steuerprogression (die bei der Bundessteuer besonders stark ausgeprägt ist) oft mehr Steuern zahlen als ein unverheiratetes Paar, das gleich viel verdient.
Die Volksinitiative «für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)», die von den FDP-Frauen mit Unterstützung anderer Parteien und Organisationen erfolgreich lanciert wurde, schlägt eine andere Vision der Gesellschaft vor: In Zukunft soll jeder Mensch für sich selbst besteuert werden, unabhängig von seinem Zivilstand und dessen Veränderungen im Laufe seines Lebens. So wird es aus steuerlicher Sicht irrelevant, ob man heiratet oder nicht. Umgekehrt hat das Steuersystem keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung, ob jemand heiraten will oder nicht.
Der Bundesrat schlug einen indirekten Gegenvorschlag vor, der es ermöglicht, diesen Grundsatz auf Gesetzes- und nicht auf Verfassungsebene zu verankern. Das Parlament nahm diese Idee mit einigen Anpassungen an. Am 20. Juni hat es sowohl den Gegenentwurf angenommen als auch die Initiative zur Annahme empfohlen, falls diese nicht zurückgezogen wird (dies wird wahrscheinlich der Fall sein, wenn der Gegenentwurf nach Ablauf der Referendumsfrist oder gegebenenfalls nach einem Referendum in Kraft tritt).
Die Abstimmung im Parlament war besonders knapp. Sie stellt einen beträchtlichen Schritt in Richtung Gleichstellung von Mann und Frau dar, einen der grössten in drei Jahrzehnten und dem Gleichstellungsgesetz von 1996. Sie stellte ein modernes, liberales Modell der Gesellschaft, in der Individuen als solche betrachtet werden, einer eher konservativen Vision gegenüber, die auf der Idee des verheirateten Paares und der traditionellen Familie beruht, auch wenn dieses Modell heute in der Minderheit ist.
Das erste (liberale) Modell wurde von den Abgeordneten der FDP, den Grünliberalen, den Sozialdemokraten und den Grünen getragen. Das zweite, konservative Modell wurde von den Vertretern der SVP und der Mitte vertreten.
Eine Person = eine Steuererklärung. Das ist ein einfaches, modernes und gerechtes Prinzip, das der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt, insbesondere der Tatsache, dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens mehrmals den Steuerstatus wechseln: vor der Ehe, während der Ehe, nach der Ehe (bei Scheidung oder Verwitwung), bei einer neuen Ehe usw.
Die direkte Bundessteuer wurde während des Krieges im Jahr 1941 eingeführt, damals als «Steuer zur Landesverteidigung». Das war 30 Jahre vor der Einführung des Frauenwahlrechts und zu einer Zeit, in der die Rollenverteilung in der Familie in den meisten Haushalten die gleiche war: Der Mann ist der Alleinverdiener der Familie, die Frau ist zu Hause, verantwortlich für die Kinder und den Haushalt.
Natürlich steht es all jenen frei, die weiterhin nach diesem Modell leben möchten, dies auch zu tun. Das ist eine individuelle Entscheidung. Aber die Politik muss berücksichtigen, dass solche Lebensentwürfe heute eine klare Minderheit darstellen. Zum Glück hat sich die Gleichstellung durchgesetzt. Und auch die Gesellschaft hat sich seither stark verändert: Von den vier Millionen Haushalten in der Schweiz sind heute weniger als 90'000 verheiratete Eltern mit Kindern (unter 25 Jahren) und nur einem Einkommen. Das entspricht laut BFS lediglich 2,2 Prozent aller Paare.
Nach über 80 Jahren ist es also höchste Zeit, unser Steuersystem anzupassen. Und insbesondere die steuerliche Heiratsstrafe abzuschaffen, die übrigens seit mehr als vierzig Jahren vom Bundesgericht als verfassungswidrig angeprangert wird.
Die Individualbesteuerung ist auch ein starker Hebel für konkrete Gleichheit und eine Bereicherung für die Gesellschaft. Indem die Reform die Elemente beseitigt, die Paare davon abhalten, ein zweites, hoch besteuertes Einkommen zu erwerben – häufig das der Frauen –, ermöglicht sie es jeder und jedem Einzelnen, nach Lust und Laune und entsprechend den eigenen Fähigkeiten voll am Wirtschaftsleben teilzunehmen und Kompetenzen und Ausbildung bestmöglich zu nutzen. Dies trägt zur beruflichen Verwirklichung jeder und jedes Einzelnen und zum kollektiven Wohlstand der Gesellschaft bei.
Sie ist auch eine konkrete Antwort auf den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in unserem Land, der heute nur noch mit Migration beantwortet werden kann. Die Individualbesteuerung wird 40'000 bis 60'000 Vollzeitstellen und noch viel mehr Teilzeitstellen ermöglichen.
Aber zum einen ist das die kostengünstigste der vorgeschlagenen Reformen zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Alle anderen, einschliesslich des Vollsplittings, kosten mehr.
Andererseits ist es eine Investition in die Gleichstellung und in eine Gesellschaft, die die Berufstätigkeit und Ausbildung von Frauen wertschätzt und gleichzeitig für die öffentlichen Finanzen tragbar ist. Der Steuertarif wird korrigiert (niedrigere Steuersätze für niedrige und mittlere Einkommen und leicht erhöhte Steuersätze für sehr hohe Einkommen), um eine gleichmässigere Verteilung der Entlastung zu gewährleisten und zu hohe Kosten für die öffentlichen Haushalte zu vermeiden.
Bei einer Annahme (der Initiative oder des indirekten Gegenvorschlags) werden auch die Kantone das Prinzip der Individualbesteuerung einführen müssen. Für sie hängen die Kosten stark davon ab, wie sie dies tun und ob sie die Steuertarife anpassen.
Die Abstimmung vom 20. Juni im Parlament war von grosser Bedeutung: ein kleiner Schritt für die Parlamentarier, ein grosser Fortschritt für Gleichstellung und Steuergerechtigkeit. Die Gegner, die an einem konservativen Gesellschaftsbild festhalten (Typ: Papa arbeitet, Mama ist zu Hause), kündigen ein Referendum an. Ob es zustande kommt?
Wetten wir, dass die Schweizer Bevölkerung ein wesentlich moderneres Verständnis von Gesellschaft und Gleichstellung hat als sie!