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Die Schweiz steht kurz davor, eine gewaltige Ungleichheit zu beenden

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Damien Cottier plädiert für eine Abschaffung der Heiratsstrafe.Bild: watson
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Die Schweiz steht kurz davor, eine gewaltige Ungleichheit zu beenden

Am 20. Juni hat das Parlament die Steuergerechtigkeitsinitiative und ihren indirekten Gegenvorschlag angenommen. Damien Cottier, Nationalrat der FDP, erklärt, warum er diese Reform für einen wichtigen Schritt für die Gleichstellung von Mann und Frau hält.
29.06.2025, 05:2029.06.2025, 05:20
Damien Cottier
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Heute benachteiligt unser Steuersystem verheiratete Paare. Und das schon viel zu lange. Zwei Personen, die standesamtlich miteinander verbunden sind und doppelt verdienen, müssen aufgrund der Steuerprogression (die bei der Bundessteuer besonders stark ausgeprägt ist) oft mehr Steuern zahlen als ein unverheiratetes Paar, das gleich viel verdient.

Das darf so nicht sein. Und das Bundesgericht prangert dies schon seit 1984 an!

Die Volksinitiative «für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)», die von den FDP-Frauen mit Unterstützung anderer Parteien und Organisationen erfolgreich lanciert wurde, schlägt eine andere Vision der Gesellschaft vor: In Zukunft soll jeder Mensch für sich selbst besteuert werden, unabhängig von seinem Zivilstand und dessen Veränderungen im Laufe seines Lebens. So wird es aus steuerlicher Sicht irrelevant, ob man heiratet oder nicht. Umgekehrt hat das Steuersystem keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung, ob jemand heiraten will oder nicht.

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Mit dabei: Nicolas Feuz (Schriftsteller), Anne Challandes (Schweizer Bauernverband), Roger Nordmann (Berater, ehem. SP-Nationalrat), Damien Cottier (FDP), Céline Weber (GLP), Karin Perraudin (Groupe Mutuel, ehem. CVP), Samuel Bendahan (SP) und die QoQa-Otte.

Der Bundesrat schlug einen indirekten Gegenvorschlag vor, der es ermöglicht, diesen Grundsatz auf Gesetzes- und nicht auf Verfassungsebene zu verankern. Das Parlament nahm diese Idee mit einigen Anpassungen an. Am 20. Juni hat es sowohl den Gegenentwurf angenommen als auch die Initiative zur Annahme empfohlen, falls diese nicht zurückgezogen wird (dies wird wahrscheinlich der Fall sein, wenn der Gegenentwurf nach Ablauf der Referendumsfrist oder gegebenenfalls nach einem Referendum in Kraft tritt).

Die direkte Bundessteuer wurde 1941 eingeführt. In den letzten 80 Jahren hat sich die Gesellschaft stark verändert. Es ist an der Zeit, unsere Besteuerung daran anzupassen.

Die Abstimmung im Parlament war besonders knapp. Sie stellt einen beträchtlichen Schritt in Richtung Gleichstellung von Mann und Frau dar, einen der grössten in drei Jahrzehnten und dem Gleichstellungsgesetz von 1996. Sie stellte ein modernes, liberales Modell der Gesellschaft, in der Individuen als solche betrachtet werden, einer eher konservativen Vision gegenüber, die auf der Idee des verheirateten Paares und der traditionellen Familie beruht, auch wenn dieses Modell heute in der Minderheit ist.

Das erste (liberale) Modell wurde von den Abgeordneten der FDP, den Grünliberalen, den Sozialdemokraten und den Grünen getragen. Das zweite, konservative Modell wurde von den Vertretern der SVP und der Mitte vertreten.

Eine Person = eine Steuererklärung. Das ist ein einfaches, modernes und gerechtes Prinzip, das der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt, insbesondere der Tatsache, dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens mehrmals den Steuerstatus wechseln: vor der Ehe, während der Ehe, nach der Ehe (bei Scheidung oder Verwitwung), bei einer neuen Ehe usw.

Die direkte Bundessteuer wurde während des Krieges im Jahr 1941 eingeführt, damals als «Steuer zur Landesverteidigung». Das war 30 Jahre vor der Einführung des Frauenwahlrechts und zu einer Zeit, in der die Rollenverteilung in der Familie in den meisten Haushalten die gleiche war: Der Mann ist der Alleinverdiener der Familie, die Frau ist zu Hause, verantwortlich für die Kinder und den Haushalt.

Natürlich steht es all jenen frei, die weiterhin nach diesem Modell leben möchten, dies auch zu tun. Das ist eine individuelle Entscheidung. Aber die Politik muss berücksichtigen, dass solche Lebensentwürfe heute eine klare Minderheit darstellen. Zum Glück hat sich die Gleichstellung durchgesetzt. Und auch die Gesellschaft hat sich seither stark verändert: Von den vier Millionen Haushalten in der Schweiz sind heute weniger als 90'000 verheiratete Eltern mit Kindern (unter 25 Jahren) und nur einem Einkommen. Das entspricht laut BFS lediglich 2,2 Prozent aller Paare.

Alle anderen Paare, d. h. über 97 Prozent, leben nach einem anderen Modell. Und diese 97 Prozent dürfen durch das Steuersystem nicht bestraft werden.

Nach über 80 Jahren ist es also höchste Zeit, unser Steuersystem anzupassen. Und insbesondere die steuerliche Heiratsstrafe abzuschaffen, die übrigens seit mehr als vierzig Jahren vom Bundesgericht als verfassungswidrig angeprangert wird.

Die Individualbesteuerung ist auch ein starker Hebel für konkrete Gleichheit und eine Bereicherung für die Gesellschaft. Indem die Reform die Elemente beseitigt, die Paare davon abhalten, ein zweites, hoch besteuertes Einkommen zu erwerben – häufig das der Frauen –, ermöglicht sie es jeder und jedem Einzelnen, nach Lust und Laune und entsprechend den eigenen Fähigkeiten voll am Wirtschaftsleben teilzunehmen und Kompetenzen und Ausbildung bestmöglich zu nutzen. Dies trägt zur beruflichen Verwirklichung jeder und jedes Einzelnen und zum kollektiven Wohlstand der Gesellschaft bei.

Sie ist auch eine konkrete Antwort auf den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in unserem Land, der heute nur noch mit Migration beantwortet werden kann. Die Individualbesteuerung wird 40'000 bis 60'000 Vollzeitstellen und noch viel mehr Teilzeitstellen ermöglichen.

Natürlich ist sie, wie jede Reform, mit Kosten verbunden: rund 600 Millionen Franken, die in der Bundeskasse fehlen.

Aber zum einen ist das die kostengünstigste der vorgeschlagenen Reformen zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Alle anderen, einschliesslich des Vollsplittings, kosten mehr.

Andererseits ist es eine Investition in die Gleichstellung und in eine Gesellschaft, die die Berufstätigkeit und Ausbildung von Frauen wertschätzt und gleichzeitig für die öffentlichen Finanzen tragbar ist. Der Steuertarif wird korrigiert (niedrigere Steuersätze für niedrige und mittlere Einkommen und leicht erhöhte Steuersätze für sehr hohe Einkommen), um eine gleichmässigere Verteilung der Entlastung zu gewährleisten und zu hohe Kosten für die öffentlichen Haushalte zu vermeiden.

Bei einer Annahme (der Initiative oder des indirekten Gegenvorschlags) werden auch die Kantone das Prinzip der Individualbesteuerung einführen müssen. Für sie hängen die Kosten stark davon ab, wie sie dies tun und ob sie die Steuertarife anpassen.

Die Abstimmung vom 20. Juni im Parlament war von grosser Bedeutung: ein kleiner Schritt für die Parlamentarier, ein grosser Fortschritt für Gleichstellung und Steuergerechtigkeit. Die Gegner, die an einem konservativen Gesellschaftsbild festhalten (Typ: Papa arbeitet, Mama ist zu Hause), kündigen ein Referendum an. Ob es zustande kommt?

Wetten wir, dass die Schweizer Bevölkerung ein wesentlich moderneres Verständnis von Gesellschaft und Gleichstellung hat als sie!

Nationalrat Damien Cottier, FDP-NE, am Dienstag, 19. September 2023 im Bundeshaus in Bern. (PARLAMENTSDIENSTE / KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Damien Cottier.Bild: PARLAMENTSDIENSTE / KEYSTONE
Damien Cottier ist ...
... Historiker mit Schwerpunkt internationale Beziehungen und studierte an den Universitäten Neuchâtel und Berlin sowie am Genfer Institut für Höhere Internationale Studien (HEI). Seit 2019 ist er Nationalrat (FDP/NE) und seit 2022 Präsident der FDP-Fraktion in den eidgenössischen Räten. Er ist Mitglied der Finanzkommission sowie der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen. Zudem gehört er der parlamentarischen Delegation an, die die Schweiz im Europarat vertritt. Er präsidiert unter anderem die Neuenburger Union des Handwerks und Gewerbes (UNAM), VignobleSuisse (Schweizerischer Winzerverband), den Verein OuestRail zur Förderung des Bahnsystems in der Westschweiz sowie die parlamentarische Gruppe Schweiz–USA.
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Verbesserer
29.06.2025 08:32registriert Mai 2020
Ich lese hier nichts davon, dass ein Ehepaar bei der Pensionierung 2 volle AHV Renten erhalten soll statt 1.1/2 Renten, obwohl beide auf ihre Einkommen volle AHV Beiträge bezahlen mussten. Wann wird diese Ungerechtigkeit abgeschafft?
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Schneider Alex
29.06.2025 06:43registriert Februar 2014
Die Familienrealitäten sind heute nicht richtig abgebildet. Ehepaare werden benachteiligt; das ist verfassungswidrig. Viele Kantone kennen ein Splitting-Modell. Das wäre die einfachste Lösung für die heutige ungerechte Besteuerung der Ehepaare.
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MyPersonalSenf
29.06.2025 06:12registriert Mai 2018
Wir sind seit 11 Jahren zusammen und haben 2 Kinder mit Konkubinatsvertrag, gegenseitigen Lebensversicherungen, patientenverfügungen, usw usw.. beide arbeiten, beide mit gutem Job. Eine Berechnung hat ergeben dass wir ca. 8k CHF mehr Steuern zahlen müssten wenn wir verheiratet wären.. darum unterlassen wir es bislang.. ja es war zum aufsetzen ein bisschen kompliziert aber es macht einfach Sinn in der aktuellen Steuerlandschaft. Ich begrüsse diesen entscheid. Jedoch frage ich mich wie es sich dann mit der AHV verhält. Denn auch dort sind verheiratete enorm benachteiligt.
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