Schweiz
Frauenstreik

Broschüre erzählt Geschichte der Schweizer Demokratie – ohne Frauen

Frauenstreik

Broschüre erzählt Geschichte der Schweizer Demokratie – Frauen kommen aber nicht vor

Der Bund und die Universität Bern verfassen einen Leitfaden zur Schweizer Demokratie – und vergessen die Frauen. Wie konnte das passieren?
21.09.2021, 19:2421.09.2021, 19:25
Nina Fargahi / ch media
Mehr «Schweiz»

Eine neue Broschüre über das politische System der Schweiz sorgt derzeit für rote Köpfe. Das Handbuch erzählt die Geschichte der Schweizer Demokratie und lässt die Frauen ausser Acht. Und das ausgerechnet im Jubiläumsjahr des Frauenstimmrechts.

Der 56-seitige Leitfaden mit einem Vorwort von Bundesrat Ignazio Cassis wurde mit der Unterstützung der Universität Bern und des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) erstellt. Wie konnte es passieren, dass der über 100 Jahre andauernde Kampf der Frauen in der Schweiz für politische Teilhabe und Gleichberechtigung mit keinem Wort gewürdigt wird - auch nicht im Kapitel «175 Jahre of Swiss Popular Votes»? In einem Satz erwähnt die Broschüre zwar die späte Einführung des Frauenstimmrechts, nennt den rechtelosen Status der Schweizerinnen bis 1971 allerdings ein «Dilemma der Demokratie». Pikant: Alle Autoren sind Männer. Nur unter den Co-Editoren sind Frauen ausgewiesen.

Swiss Democracy Passport
Bild: screenshot

Verteilung stoppen und Broschüre neu verfassen?

«Diese Broschüre ist der grösste Skandal im Jubiläumsjahr 2021», sagt die Berner Politologin Regula Stämpfli. In keinem anderen europäischen Land hätten sich Wissenschaftler der Universität und Regierungsmitglieder gewagt, sich derart offen in Frauenfeindlichkeit zu äussern. Die Universität Bern betreibe sexistische Wissenschaft.

Marc Bühlmann, einer der Hauptautoren der Broschüre und Direktor von Année Politique Suisse an der Universität Bern, kann die Kritik nachvollziehen, sagt aber: «Die Gleichstellung war nicht Thema des Leitfadens; wir wollten lediglich das politische System der Schweiz möglichst einfach erklären.» Im Fokus des Handbuchs sei die Funktionsweise der Schweizer Demokratie gestanden.

Diese Erklärung kritisiert Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin des Frauendachverbands Alliance F. Thema des Leitfadens sei ja die Demokratie gewesen. «Die Tatsache, dass wir eigentlich erst seit 50 Jahren eine Demokratie sind, die diese Bezeichnung auch verdient, hätte wohl mehr Platz verdient.»

Das EDA möchte die Broschüre weltweit verteilen. Sie zeige, dass die Schweiz eine Referenz für die Demokratie in der Welt sei, wie das Departement von Bundesrat Cassis die Publikation lobt. Doch Stämpfli fordert, dass das Handbuch sofort zurückgezogen und neu verfasst werden müsse. Alle öffentlichen Gelder, die für die Broschüre eingesetzt worden seien, müssten gestoppt werden. «Stellen Sie sich vor, die Schweiz verteilt Broschüren in alle Welt und die Frauen kommen darin als kleine Nebensache, unwichtig für das politische System, zur Erwähnung?»

Aussendepartement distanziert sich inhaltlich

Der Herausgeber der Broschüre, Bruno Kaufmann, wehrt sich: «Wir hatten von Anfang an nicht die Absicht, den Schwerpunkt auf das Frauenstimmrecht zu legen. Der Fokus liegt klar auf dem heutigen Zusammenwirken direkter und indirekter Entscheidungsprozesse.» Er räumt aber ein: «In einer nächsten Ausgabe werden wir diesem Sündenfall der Schweizer Demokratie auch aufgrund der vielen Rückmeldungen mehr Gewicht geben: die viel zu späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz soll und muss in Erinnerung bleiben.»

Federal Councillor Ignazio Cassis holds the opening remarks next to Martina Hirayama, Swiss State Secretary for Education, Research and Innovation, during a meeting to plan the "South East Europe ...
Bundesrat Ignazio Cassis durfte ein Vorwort drin haben.Bild: keystone

Wird die Publikation gestoppt? «Nein, wir wollen den Demokratiepass weiterentwickeln und zwar gemeinsam mit den Nutzerinnen und Nutzern - und künftig gerne auch in weiteren Sprachen herausgeben», sagt Kaufmann. Man habe mit der Bundeskanzlei die Publikation abgesprochen, der Bund habe 8'000 Franken für die Broschüre aufgewendet, die restlichen Mittel stammten von der «Schweizer Demokratie Stiftung».

Und diese Stiftung sei denn auch verantwortlich für den redaktionellen Inhalt, für die Gewichtung der Themen sowie für die allgemeine Aufmachung des Dokuments, schreibt das EDA auf Anfrage. Es distanziert sich damit inhaltlich von der Publikation: «Das Aussendepartement war nur mit dem Vorwort an der Broschüre beteiligt.» (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
1 Jahr nach dem Frauenstreik gehen Tausende auf die Strasse
1 / 8
1 Jahr nach dem Frauenstreik gehen Tausende auf die Strasse
Frauen demonstrieren anlässlich des Frauenstreik-Jubiläums in der ganzen Schweiz, hier in Zürich.
quelle: keystone / ennio leanza
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Streikende Parlamentarierinnen Frauenstreik 2019
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
66 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
techiesg
21.09.2021 19:46registriert März 2018
Peinlich. Einfach peinlich. Und das sag ich als Mann.
8017
Melden
Zum Kommentar
avatar
Geischtli
21.09.2021 19:40registriert März 2015
Tja… der Beweis wie modern die Schweiz ist…
Beschämend
6311
Melden
Zum Kommentar
avatar
denkpause
21.09.2021 19:32registriert April 2021
Und ich dachte bei der Headline erst, dass der Bund etwas sinnvolles zur jetzigen Lage, zum Demokratieverständnis und zu Medienkompetenz erarbeitet hat … weit gefehlt 😂🤣
499
Melden
Zum Kommentar
66
Schweizer ESC-Hoffnung Nemo leidet unter Online-Hass
Nemo reist für die Schweiz an den ESC nach Schweden – und hat reelle Chancen, das Ding zu gewinnen, wenn man den Umfragen Vertrauen schenkt. Doch dem musikalischen Multitalent macht derzeit etwas zu schaffen: Nemo leidet unter Online-Hass.

Nemo ist non-binär. Das gab der aus Biel stammende Musikstar im vergangenen November bekannt. Und genau aus diesem Grund erhält die Schweizer ESC-Hoffnung im Netz offenbar immer wieder Hassnachrichten. In einer Mitteilung auf Instagram wandte sich Nemo nun an die Öffentlichkeit.

Zur Story