Sie gilt gerade noch knapp als Künstlerin der Moderne, einer Kunstepoche, die von etwa 1850 bis 1950 andauerte und mitunter die berühmtesten und auf dem Kunstmarkt am teuersten gehandelten Künstlerinnen und Künstler hervorbrachte. Während Ferdinand Gehrs’ (1896-1996) Spätwerk, welches er in den Nachkriegsjahren begann, oder die Werke von Alberto Giacometti (1901-1966) und Sophie Täuber Arps (1889-1943) ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind, bleiben Judith Müllers (1923-1977) Kunstwerke im wahrsten Sinne des Wortes versteckt – obwohl sie 1923 in Lugano zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Kaspar in ein bekanntes Schweizer Kunstmilieu geboren wurde.
Ihr Vater war der bekannte Expressionist Albert Müller (1897-1926), sein engster Freund kein geringerer als Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938). Müller und andere, die zum Kreis von Kirchner gehörten, gründeten nur ein Jahr nach Judiths Geburt die gesellschaftskritische Künstlervereinigung «Gruppe Rot-Blau» in Basel und prägten die Kunstszene in nicht geringem Masse mit.
Als die kleine Judith drei Jahre alt war, starb ihr Vater an Typhus. Später wurden seine in Deutschland ausgestellten Bilder von den Nationalsozialisten in der Aktion «Entartete Kunst» beschlagnahmt. Das eine wurde vernichtet, das andere bleibt bis heute verschollen. Judith wird später seinen Nachlass verwalten.
Auch Albert Müllers Kinder und seine Frau Anna (geborene Hübscher) steckten sich an der tödlichen Krankheit an. Anna, Judiths Mutter, erlag der Krankheit nur ein paar Wochen nach ihrem Mann und verstarb 1927. Die Kinder überlebten, waren nun Vollwaisen und wuchsen fortan bei ihrer Tante in Bern auf.
1940 besuchte Judith die Gewerbeschule und ein Jahr später die Malschule von Max von Mühlenen in Bern. Von 1947- 48 liess sie sich zur Glasmalerin bei Paul Wüthrich, ebenfalls in Bern, ausbilden. Ein ungewöhnlicher Umstand für die damalige Zeit – nicht viele Frauen befanden sich in einer künstlerischen Ausbildung, denn diese Fächer wurden von Männern dominiert.
Bereits 1941/42, mit 19 Jahren, stellte sie ihre Bilder zum ersten Mal an der jährlich stattfindenden Ausstellung «Weihnachtsausstellung bernischer Maler und Bildhauer» aus. Ihre Bilder waren danach drei Dekaden lang fast jährlich zu sehen.
Judith Müllers Werke waren zusammen mit denen berühmter Schweizer Künstlerinnen und Künstler in der Kunsthalle Bern zu sehen. Mit Margrit Linck-Daepp und Meret Oppenheim stellte sie dort beispielsweise an der «Ausstellung der Sektion Bern der Gesellschaft Schweizerischer Malerinnen, Bildhauerinnen und Kunstgewerblerinnen» 1953 und 1971 aus.
Die Schweizer Künstlervereinigung GSMBA existierte seit 1866 und bestand nur aus Männern – Frauen wurden nicht aufgenommen, es herrschte eine frauenfeindliche Haltung. Ferdinand Hodler, ein einflussreiches Mitglied der Vereinigung, meinte: «Mir wei kener Wyber!»
Der Ausschluss der Frauen aus der offiziellen Künstlervereinigung hatte zur Folge, dass sie nicht Teil der offiziellen nationalen Ausstellungen waren. Aus dieser existentiellen Not gründeten die Frauen 1902 in der Romandie unter der Gründungspräsidentin Berthe Sandoz-Lassieur die Societé romande des femmes peintres et sculpteures. Weitere regionale Sektionen kamen dazu, die Vereinigung wurde später in Gesellschaft Schweizerischer Malerinnen, Bildhauerinnen und Kunstgewerblerinnen GSMBK (heute SGBK) umbenannt. Sie besteht bis heute, obwohl die GSMBA mit der Einführung des Frauenstimmrechts genötigt war, auch Künstlerinnen aufzunehmen.
Judith Müller war seit 1953 Mitglied der GSMBK. Um ein Zeichen für die Sache der Frau zu setzen und auch weil sie mit vielen anderen Künstlerinnen und Frauen vernetzt war, stellte Müller an der zweiten Schweizer Ausstellung für Frauenarbeit 1958 aus. Das Bild hiess «Le Poète» und stellt wohl eines ihrer schönsten Werke dar.
Judith Müller hat nicht nur klassische Bilder gemalt, sondern auch diverse Wände von öffentlichen Gebäuden bemalt. Die meisten Murale existieren nicht mehr, wie zum Beispiel jenes im früheren Schuhgeschäft Fremo in Bern. Noch vorhanden, aber versteckt, ist das eindrückliche, riesengrosse Wandbild «Elftausend Jungfrauen» in der Hauptpost in Basel. Die Imposanz des Gemäldes lässt sich nur noch erahnen.
Judith Müller entschied sich 1977, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Die Tragik, die bereits früh in ihr Leben Einzug hielt, blieb damit bis zum Schluss Bestandteil ihrer Biografie.
In Anbetracht ihrer bewegten und tragischen Familienbiografie, ihres vielseitigen Werks und ihres Engagements in der Schweizer Frauenbewegung ist ihre Unsichtbarkeit nur schwer nachvollziehbar.