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Hospiz-Leiter erzählt, welche Dinge Sterbende am meisten bereuen

Das Lighthouse ist das einzige Sterbehospiz im Kanton Zürich.
Das Lighthouse ist das einzige Sterbehospiz im Kanton Zürich.Bild:zVg

Hospiz-Leiter erzählt, welche Dinge Sterbende am meisten bereuen

02.10.2023, 07:06
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In der Eingangshalle des Lighthouse läuft an diesem sonnigen Herbstmorgen beruhigende Jazzmusik. Kinderlachen hallt durch den Gang, denn im selben Gebäude, aber mehrere Partien weiter, befindet sich ein Kindergarten.

Die Szenerie erinnert an den Anfang und das Ende zugleich – Alpha und Omega – denn das Lighthouse ist ein Palliativzentrum. Hier kommt man hin, um zu sterben.

Die Schiebetüre öffnet sich. Eine Pflegerin bringt einen Patienten im Rollstuhl in die Empfangshalle. Sie wirken beide gelassen. Rollstühle sieht man hier oft, denn viele Bewohner und Bewohnerinnen können nicht mehr selbst gehen.

Zur Ruhe kommen

Im ersten Stock befindet sich das Büro von Horst Ubrich. Er führt das Sterbehospiz seit zehn Jahren. Wie wird man Leiter vom Lighthouse? «Indem, dass mich der Stiftungsrat vor zehn Jahren angefragt hat», schmunzelt Ubrich. Es sei nie auf seinem Lebensentwurf gewesen, jemals in einem Palliativzentrum zu arbeiten, geschweige denn, dieses zu leiten.

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In solchen Zimmern leben die Bewohnerinnen und Bewohner des Lighthouse.Bild: zVg

Ubrich selbst ist gelernter Pflegefachmann, hat Health Administration in St.Gallen studiert und ebenfalls ein sozialbetriebswirtschaftliches Studium in Frankfurt am Main abgeschlossen.

Horst Ubrich.
Horst Ubrich.Bild: zVg
«Nach einigen Tagen bei uns kommen die Bewohnerinnen und Bewohner zur Ruhe, obwohl sich an der Tragödie nichts ändert.»

«Heute bin ich froh, dass ich hier gelandet bin», sagt Ubrich. Seine Arbeit empfindet er als sinnvoll. «Nach der Spital-Odyssee, die unsere Bewohner oft erlebt haben, sind alle nervös: sie selbst, die Familie und die Freunde. Nach einigen Tagen bei uns kommen die Bewohnerinnen und Bewohner zur Ruhe, obwohl sich an der Tragödie nichts ändert.»

Ubrich erklärt weiter: «Manchmal haben wir auch Menschen hier, die sagen: ‹So seltsam es klingen mag, das war die beste Zeit meines Lebens.› In solchen Momenten läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Da mag ich mir das Leben dieser Menschen gar nicht vorstellen.»

Bietet Raum für Austausch: die Cafeteria.
Bietet Raum für Austausch: die Cafeteria. Bild: zVg

Würdevolles Sterben

Seit diesem Jahr ist das Lighthouse zur Miete in einem Neubau in der Nähe der Zürcher Hardbrücke eingemietet. Die Stiftung existiert seit 35 Jahren, ihr früherer Standort war in Zürich Hottingen. Es ist das einzige Sterbehospiz im Kanton Zürich.

Die Schweiz sei rückständig, was den finanztechnischen Aspekt der Palliative Care angehe, sagt Ubrich. «Deshalb bin ich froh, dass wir hier in der Stiftung auch Rücksicht nehmen können auf die Menschen, die sich selbst keine würdevolle Sterbebegleitung leisten könnten. Wir bieten in dieser schwierigen Zeit auch Sans-Papiers oder Flüchtlingen ein Zuhause.»

Denn Palliative Care ist alles andere als günstig: Ein Tag im Zürcher Lighthouse kostet rund 1000 Franken. Ubrich erklärt die Kostenaufteilung und zeichnet die verschiedenen Punkte auf. Hier arbeiten viele diplomierte Pflegefachpersonen, Assistenzpersonal, zwei Ärzte, eine Psychoonkologin, eine Gesangstherapeutin und eine Kunsttherapeutin. Die Krankenkassen und Wohngemeinden der Bewohnerinnen und Bewohner bezahlen nur einen Bruchteil davon. Kurzum: Ohne Stiftungsgelder würde es nicht funktionieren.

Den «Raum der Stille» suchen die Bewohnerinnen und Bewohner auf, um zur Ruhe zu kommen.
Den «Raum der Stille» suchen die Bewohnerinnen und Bewohner auf, um zur Ruhe zu kommen.

Das Lighthouse verfügt über insgesamt 28 Betten. Von diesen sind 14 für Akutfälle vorgesehen, wobei die Aufenthalte im Durchschnitt etwa 30 Tage dauern. Die verbleibenden 14 Betten sind für die begleitete Langzeit-Palliativbetreuung gedacht.

Ubrich erklärt: «Wir möchten jüngere Menschen ansprechen, die beispielsweise an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder Multipler Sklerose (MS) leiden. Sie sind zwar krank, aber voraussichtlich noch mehrere Jahre am Leben. Unser Ziel ist es, ihnen ein Zuhause zu bieten, wenn sie nicht in ein Pflegeheim mit 70- bis 80-jährigen Menschen wollen.»

Die Warteliste für ein Bett im Lighthouse sei lang. Ubrich erklärt, dass man die Betten nach Bedürftigkeit verteile. Die Menschen, die beim Besuch von watson im Lighthouse leben, stehen nicht für Gespräche zur Verfügung. Viele von ihnen seien verwirrt und könnten keine klaren Gespräche mehr führen.

«Hast du gelernt, besser zu sterben?»

Seit 2012 gibt es in den meisten Schweizer Spitälern eine Palliativabteilung. Auf die Frage, was er von diesen halte, sagt Ubrich selbstironisch: «Ich bin ein älterer, weisser Mann – wir haben immer viele Geschichten zu erzählen. Haben Sie Zeit dafür?»

Er holt aus und erklärt: «Die Abrechnung im Spital funktioniert nach diagnosebezogenen Fallgruppen. Das bedeutet, dass die Spitäler die Patienten eigentlich nach 26 Tagen wieder aus der Palliativstation entlassen möchten, denn dann sind die Fallpauschalen aufgebraucht. Danach kommen die Menschen zu uns.»

Balsam für die Seele: Musiktherapie.
Balsam für die Seele: Musiktherapie.Bild: zVg

Es sei ein politisch falscher Ansatz, Palliative Care in Spitälern anzubieten, denn diese seien auf das Kurative, also auf die Heilung, ausgelegt. Im Spital sei es zudem hektisch, was die Menschen stresse. Ubrich führt aus: «Ich denke, dass man sich das neu überlegen sollte. Kompetenzzentren, wie wir es sind, könnten diese Arbeit übernehmen und sich stärker spezialisieren.»

«Du arbeitest jetzt schon so lange im Hospiz. Hast du gelernt, besser zu sterben?»

Die 13-jährige Tochter seiner Bekannten habe ihn gefragt: «Du arbeitest jetzt schon so lange im Hospiz. Hast du gelernt, besser zu sterben?» Doch Ubrichs Verhältnis zum Tod habe sich während seiner Zeit als Leiter des Hospizes wenig verändert.

Aber er habe andere Schwerpunkte gesetzt: «Ich traue mich jetzt, mehr Dinge zu tun, die ich eigentlich schon lange wollte. Beispielsweise habe ich mir einen Oldtimer gekauft. Ich hatte vorher immer geglaubt, ich sollte noch viel mehr Geld sparen, bevor ich mir das leisten kann. Aber dann dachte ich: ‹Was, wenn das Sparen zu lange dauert und es irgendwann zu spät ist?›»

Über das Bereuen

Im Lighthouse wurde noch nie eine Bewohnerin oder ein Bewohner wie durch ein Wunder geheilt. Wenn man hier hinkommt, dann stirbt man. Pro Jahr sind es durchschnittlich 60 bis 80 Menschen. Was bereut man, wenn man weiss, dass man bald sterben wird?

Nicht alle Sterbenden würden bereuen, sagt Ubrich. Aber bei denen, die es täten, seien es immer ähnliche Themen: «Sie denken, sie hätten sich zu wenig Zeit für die Familie genommen, zu viel gearbeitet und die Freundschaften nicht ausreichend gepflegt. Es gibt auch einige Menschen, die bereuen, zu sehr für das Aussen gelebt zu haben. Sie hätten lieber das gemacht, was sie glücklich macht, anstatt sich darauf zu konzentrieren, was die Gesellschaft von ihnen erwartet.» Lächelnd fügt er hinzu: «Einige wünschen sich auch, mehr verbotene Dinge getan zu haben.»

Das Pflegepersonal versucht, sich viel Zeit für die Menschen zu nehmen.
Das Pflegepersonal versucht, sich viel Zeit für die Menschen zu nehmen. Bild: zVg

Schaut man eher auf die schönen Dinge zurück oder auf das, was hätte besser sein können? Das sei so individuell wie die Menschen selbst. Doch der Krankheitsverlauf spiele eine grosse Rolle: «Es gibt Menschen, die in die Ferien fahren und nicht wissen, dass sie schwer krank sind. Sie kommen nach Hause, gehen wegen Rückenschmerzen zum Arzt und erfahren dort, dass sie Krebs im Endstadium haben. Diese werden von der Krankheit völlig überwältigt.»

Bei Menschen, die schon länger von ihrer Diagnose wissen, sei dies anders: «Sie können die Krankheit oft besser akzeptieren und sagen, dass sie ein gutes Leben gehabt hätten. Andere hängen aber krampfhaft an ihrem Leben.»

«Diese Frau wollte ihren Tod für ihre zwei Kinder möglichst lange herauszögern, auch wenn es nur Tage waren.»

Spielt das Alter eine Rolle? Nein, meint Ubrich. Die Bewohnerinnen und Bewohner seien zwischen 19 und 86 Jahre alt. Hauptsterbegrund: Krebs.

Ubrich erinnert sich an ein besonders tragisches Schicksal einer 44-jährigen Frau, die mit der Diagnose Krebs ins Hospiz kam. Der Mann dieser Frau sei in demselben Jahr, rund acht Monate zuvor, ebenfalls an Krebs verstorben: «Diese Frau wollte ihren Tod für ihre zwei Kinder möglichst lange herauszögern, auch wenn es nur Tage waren. Die Kinder sind leider innerhalb von einem Jahr zu Vollwaisen geworden durch diese Krankheit. Diese Geschichte geht mir bis heute nahe.»

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102 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Punktlandung
01.10.2023 07:32registriert September 2023
Guter Artikel, danke!

Erinnert daran, das Leben nicht aufzuschieben, sondern jetzt zu leben und sich immer wieder bewusst zu werden, was wirklich wichtig ist.
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WatSohn?
01.10.2023 08:05registriert Juni 2020
Ich wünsche mir mehr Artikel wie diesen, denn unsere Gesellschaft hat das Thema „Sterben und Tod“ völlig verdrängt. Die Folge davon ist, dass man- wie im Artikel gut beschrieben wird- völlig überrumpelt wird, wenn man plötzlich mit dem nahen Ende konfrontiert wird, und dass man sich von den Spitalärzten oft instrumentalisieren lässt. Ich habe selber drei Jahre in einem Hospiz gearbeitet und befasse mich sehr oft mit dem Thema. Das wirkt sich bei mir nur positiv aus.
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Bananenrepublikaner
01.10.2023 07:40registriert August 2020
Echt traurig, dass viele bereuen zu viel gearbeitet zu haben. Ein wohl gutbeschriebenes Spiegelbild unserer aus dem Gleichgewicht geratenen Leistungsgesellschaft. Spätestens am Ende des Lebens merken es fast alle und bereuen nicht mehr gelebt für sich und seine Nächsten zu haben. Auf dem Grabstein wird höchstwahrscheinlich auch nicht stehen: Hat immer hart und gut gearbeitet
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