Guido S., Zellennummer 307, bulliger Typ, kurz geschorene Haare, silberne Halskette, drückt die Hand kräftig zur Begrüssung. Der Mörder zeigt sich im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt Lenzburg von seiner freundlichen Seite. Er bietet das Du an – «Ich bin der Guido» – und später ein paar Münzen für den Kaffeeautomaten, als er das Gespräch für ein Telefonat mit seinem Anwalt kurz unterbricht.
Guido S. setzt sich an einen Tisch und breitet seine Akten aus, die er in bunten Registern geordnet hat. Der 34-Jährige will nachholen, was er in seinem bisherigen Leben verpasst hat: eine Berufslehre mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis. Lenzburg ist zwar eine der grössten Strafanstalten der Schweiz, doch dieser Abschluss ist hier nicht vorgesehen. Vollwertige Lehrstellen sind in Gefängnissen rar. In der Zürcher Anstalt Pöschwies gibt es neun Plätze. Guido S. hat aus dem Gefängnis heraus so viele Briefe verschickt und so viele Telefonanrufe gemacht, dass es ihm gelungen ist, Unterstützer für sein Vorhaben in der Verwaltung zu finden und eine Diskussion über eine Grundsatzfrage auszulösen: Welchen Stellenwert hat die Resozialisierung im Strafvollzug?
Die Suche nach einer Antwort führt zuerst zehn Jahre zurück, zum Schenkkreis-Mord von Grenchen. Die Tat sorgte schweizweit für Entsetzen. Eine dreiköpfige Familie wurde ausgelöscht. Der Tatort hätte überall sein können: ein grauer Wohnblock in einer Kleinstadt. Boris Banga war damals Stadtpräsident von Grenchen und nahm an der Beerdigung teil. Er erinnert sich: «Die Tat war ein schwerwiegender Eingriff in das Leben unserer Stadt.» Der Fall habe sich im kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Noch heute denke er oft an die Opfer. Ermordet wurden die Eltern Margrit und Pierre Dubey im Alter von 55 und 60 Jahren sowie ihre geistig behinderte Tochter Dania. Sie war 35-jährig. Banga sucht nach Worten und sagt: «Einfach wahnsinnig.»
Am Abend des 5. Juni 2009, es war der Beginn eines besonders heissen Sommers, überfielen Patric Suter und Guido S. die Familie Dubey in ihrer Wohnung. Suter war damals bekannt als bester Hammerwerfer des Landes, weshalb er in den Zeitungen mit vollem Namen genannt wurde. Guido S. war vor der Tat unbekannt. Deshalb erhielt er in der Berichterstattung einen Spitznamen: Güggeli-Guido. Einst hatte er nämlich am Poulet-Stand seines Vaters ausgeholfen. Der Einsatz als Grillmeister dauerte zwar nur einige Wochen. Doch weil es sonst nicht viel über ihn zu berichten gab und die Alliteration gut klang, setzte sich der Übername durch.
Bei zwei Tötungen war Guido S. der Assistent, bei der dritten legte er selber Hand an. Er erstickte die Tochter mit einem Kehrichtsack.
Nicht am Tatort war «der General». So nannten Patric Suter und Guido S. ihre Ideengeberin Ruth S. Diese ist 24 Jahre älter als Guido S. und wohnte im gleichen Haus wie er, als er ein Kind war. Nach der Trennung seiner Eltern wurde sie zu seiner Ersatz-Mutter. Sie lieh ihm Geld, um einen Pizza-Service aufzubauen und um in einen illegalen Schenkkreis zu investieren. Damit verlor er Zehntausende Franken. Um die Schulden zu tilgen, entwarf das Trio kriminelle Pläne. Nach gescheiterten Diebstählen und Raubüberfällen entschieden sie, dass Patric Suter und Guido S. das Geld bei der Familie holen sollten, von der sie einst durch das Schneeballsystem selber abgezockt worden waren. Durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen endete das Vorhaben mit dem schlimmstmöglichen Ausgang. Mit drei Toten.
Das Amtsgericht Solothurn-Lebern verhängte 2012 die höchstmögliche Strafe: lebenslänglich für alle drei. Obergericht und Bundesgericht bestätigten die Urteile 2014 und 2015.
Eine lebenslängliche Freiheitsstrafe kann lebenslänglich dauern. Doch nach 15 Jahren wird eine Entlassung von Amtes wegen geprüft. Die Bedingung ist, dass ein Verurteilter nicht mehr als Gefahr für die Gesellschaft eingestuft wird. Bei Guido S. steht die erste Prüfung in fünf Jahren an.
Hinter dem Stacheldraht der Lenzburger Strafanstalt gilt Guido S. nicht als Gefahr. Mit dem Reporter dieser Zeitung darf er sich ohne Aufsicht in einem Zimmer treffen, wo es nicht einmal Überwachungskameras hat. Einige Bereiche des Gefängnisses sind auf dem neusten Stand der Technik, zum Beispiel die Türöffnungssysteme mit Iris-Scanner. Das Besprechungszimmer hingegen, in dem Guido S. seine Geschichte erzählt, ist noch auf dem Stand jener Zeit, in der graue Spannteppiche als ideale Bodenbeläge angesehen wurden.
Guido S. holt tief Luft und sucht nach Worten. Dann sagt er: «Ich bereue zutiefst, was ich getan habe. Ich weiss, dass ich es nie mehr gutmachen kann.»
Für eine Ausbildung hatte sich Guido S. früher nie interessiert. Mit 16 brach er eine Lehre als Elektromonteur ab. «Ich bin ganz ehrlich», sagt er heute, «ich war damals zu faul.» Eine Gipserlehre gab er danach auf, weil er sich mit dem Chef verkracht hatte. So hangelte er sich von Job zu Job, arbeitete als Kundenmaurer, Ladenbauer und Aushilfselektriker. Seit sieben Jahren ist er nun im Hausdienst des Gefängnisses tätig. Es ist eine interne Praxisausbildung, für die er aber kein allgemein anerkanntes Diplom erhält. Auf diesem Gebiet will er nun seine Lehrabschlussprüfung absolvieren.
Ich werde nie mehr so viel Zeit haben wie jetzt, um zu lernen. Wieso sollte man mir das verwehren?
In einem Arbeitszeugnis schreibt die Justizvollzugsanstalt, Guido S. erbringe eine «hervorragende Leistung», seine fachlichen Kenntnisse seien «ausgezeichnet» und sein persönliches Verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kollegen sei «immer vorbildlich». Die Erwartungen habe er «teilweise sogar übertroffen».
Im Gefängnis hat Guido S. die Freude an der Bildung entdeckt. In seiner Zelle stehen zwölf Ordner zum Thema Gebäudereinigung und ein Computer ohne Internetzugang. Darauf hat er 1200 Lernkärtchen geschrieben, die er in der gefängnisinternen Druckerei anfertigen liess; von Arbeitssicherheit bis Schädlingsbekämpfung. Wie jeder Lehrling hat er zudem eine schriftliche Arbeit verfasst. Sein Thema: Bildung im geschlossenen Strafvollzug. Auf 116 Seiten dokumentiert er seinen Fall. Darin zitiert er Artikel 82 des Strafgesetzbuches: «Dem Gefangenen ist bei Eignung nach Möglichkeit Gelegenheit zu einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Aus- und Weiterbildung zu geben.» Das Ziel ist, die Insassen auf ihr künftiges Leben in der Freiheit vorzubereiten. Guido S. schreibt dazu: «Das Gehirn ist wie ein Muskel, der verkümmert, wenn man ihn nicht trainiert.» In seiner Arbeit dokumentiert er die Telefonate und den Briefverkehr, die er mit Ämtern und Verbänden bisher geführt hat.
Die Bildungsfachleute hat Guido S. auf seiner Seite. Der Leiter des Erwachsenenbildungszentrums in Olten freut sich über das Engagement eines Gefangenen für die Berufslehre. Für ihn ist er sogar zu einem Sondereinsatz bereit. In drei Wochen wird er nach Lenzburg fahren und die mündliche Prüfung in Allgemeinbildung allein mit ihm in der Justizvollzugsanstalt durchführen.
Das ungelöste Problem ist die praktische Abschlussprüfung. Es gäbe zwei Möglichkeiten. Entweder erhält Guido S. Urlaub und absolviert die Prüfung im Beisein zweier Kantonspolizisten. Oder die Prüfungsexperten des Verbands der Schweizer Reinigungsunternehmen kommen zu ihm und testen seine Fähigkeiten im Gefängnis. Beide Varianten sind bisher gescheitert. Die Urlaubsgesuche wurden abgelehnt. Und der Ausbildungsverband wehrt sich gegen eine Prüfungsatmosphäre mit Polizeipräsenz. Zudem warnt er vor Kosten von bis zu 20 000 Franken, falls die Prüfung wegen eines einzigen Kandidaten extra hinter Gittern durchgeführt werden müsste.
In dieser Auseinandersetzung stellen sich die Bildungsdepartemente der Kantone Aargau und Solothurn auf die Seite von Guido S. Dies geht aus E-Mails hervor, die er seiner Abschlussarbeit beigelegt hat. Der zuständige Sektionsleiter des Aargauer Bildungsdepartements schreibt: «Man muss hier wirklich an die spätere Wiedereingliederung von Herrn Guido S. denken. Es macht wenig Sinn, ihm den Abschluss zu verwehren und dann später zu erwarten, er würde sich problemlos wieder in die Gesellschaft integrieren.» Aus dem Solothurner Bildungsdepartement heisst es, man werde «alles daransetzen», dass die Prüfung stattfinden könne.
Doch die Sicherheitsbehörden sind dagegen. Das Solothurner Amt für Justizvollzug schreibt in einer Verfügung, weshalb es dem Gefangenen keinen Ausgang für die Prüfung gewährt. Guido S. erfülle die Kriterien nicht, da er keine Therapie absolviere. Diagnostiziert wurde eine «schizoid-dissoziale Persönlichkeitsstörung mit hoher Gefühlskälte». Guido S. habe keine Konfliktlösungsstrategien erlernt, die ihn von der Begehung weiterer Straftaten abhalten würden. Deshalb sei es zu früh für Vollzugsöffnungen.
Guido S. hat sich fast zehn Jahre lang einer Therapie verweigert. Er sieht keinen Therapiebedarf. Dissozial sei im Gefängnis jeder, sonst wäre er nicht hier, meint er. Um die Chancen für seine Ausbildung zu erhöhen, besuche er seit kurzem aber trotzdem Therapiestunden.
Das Regime des geschlossenen Strafvollzugs ist strikt. Nicht jeder Gefangene erhält Urlaub. Das war nicht immer so. Eine Zäsur hat ein anderer Insasse von Lenzburg ausgelöst: Erich Hauert. Wegen zwei Morden und elf Vergewaltigungen wurde er in den 80er-Jahren zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dennoch konnte er sich regelmässig in Freiheit bewegen. Über hundert Urlaube wurden ihm gewährt. Dann beging er 1993 den Mord am Zollikerberg. Auf einem unbegleiteten Ausgang brachte er eine 20-jährige Pfadfinderführerin um und verscharrte sie nackt im Waldboden. «Das war die Stunde null des modernen Justizvollzugs in der Schweiz», schreibt die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr in einem Rückblick. Der Vollzug wurde professionalisiert, die Sicherheit erhöht.
Hauert ist «heute ein altes Männlein, das kaum mehr die Treppe hochgehen kann», wie ein anderer Mitinsasse berichtet. Guido S. meint: «Weil er einen Fehler gemacht hat, werden wir alle bestraft.»
Guido S. kündigt an, durch alle Instanzen für seinen Lehrabschluss zu kämpfen, wenn nötig bis vor Bundesgericht. Soeben hat er eine Beschwerde beim Kanton eingereicht. Bevor er zurück in Zelle 307 geht, sagt er: «Ich werde nie mehr so viel Zeit haben wie jetzt, um mich auf das Lernen zu konzentrieren. Wieso sollte man mir das verwehren?»
(aargauerzeitung.ch)
Aber auch ein Mörder soll, wenn er dazu bereit ist, wieder Teil der Gesellschaft werden können. Und einen Lehrabschluss soll ihm ermöglicht werden.