Migrationsexperte Eduard Gnesa glaubt nicht an den Kollaps des Schweizer Asylsystems: «Bund, Kantone, Gemeinden und Private schaffen das.» Aus früheren Krisen habe man viel gelernt, sagte er im Interview mit der «NZZ am Sonntag».
Allerdings sei es möglich, dass auch in der Schweiz Zelte aufgestellt werden müssen, wenn noch mehr Menschen kommen. «Wichtig ist, dass die Menschen untergebracht und betreut werden», sagte der ehemalige Direktor des Bundesamts für Migration. Es gelte nun, für den Winter bereit zu sein – fallen in der Ukraine Strom und Wasser aus, würden mehr Leute fliehen.
Nachbarländer wie Moldawien beherbergten heute schon Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer, weswegen diese an ihre Grenzen kämen und die Flüchtenden anschliessend vermehrt nach Westeuropa weiterziehen würden.
Zudem glaubt der Migrationsexperte, dass nicht alle Ukrainerinnen und Ukrainer die Schweiz wieder verlassen werden. Im Kosovokonflikt sei etwa ein Drittel der Geflüchteten geblieben. «Generell gilt: Je länger der Krieg dauert, desto eher werden die Menschen bei uns bleiben», so Gnesa. Künftig müsse man darauf vorbereitet sein, dass Flüchtlinge öfter als Waffe eingesetzt würden. «Das gehört übrigens auch zu Putins Strategie. Er will Europa mit Flüchtlingen destabilisieren.»
Gleiches hat in der Vergangenheit auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko versucht. Beiden sei es bisher nicht gelungen; die Zahl der Asylsuchenden sei bisher zu bewältigen gewesen. Aber: «Irgendwann könnte die Zahl der Flüchtlinge so gross sein, dass die Aufnahmekapazität an ihre Grenzen stösst», sagt Gnesa.
Er ist zudem der Meinung, dass die Migrationsthemen auch nach dem Ukraine-Krieg keineswegs an Relevanz verlieren. Der Grund dafür: der Klimawandel und seine Folgen, welcher mehr und mehr für Klimamigrantinnen und -migranten sorge. «Das sind keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention. Sie werden nicht politisch verfolgt oder bedroht», sagt Gnesa.
Schon heute gebe es Diskussionen darüber, wie man mit Menschen, die wegen der klimatischen Bedingungen aus ihrem Heimatland fliehen, umgehen soll. «Die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Klimawandel und Vertreibung ist erkannt», so Gnesa.
Derweil sieht sich die Schweiz Kritik aus Deutschland ausgesetzt. Dies aufgrund ihres Umgangs mit afghanischen Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich im St.Galler Rheintal. Jede Woche erreichen rund 1000 Menschen aus Afghanistan die Schweizer Grenze in Buchs. Sie wollen allerdings zumeist nicht in der Schweiz bleiben, sondern nach Deutschland oder Frankreich weiterreisen.
Während die Schweizer Behörden zu Beginn versuchten, die Migranten nach Österreich zurückzuführen, erlauben sie aufgrund der hohen Zahl an Menschen mittlerweile formell die Durchreise, wie Florian Schneider, Mediensprecher der Kantonspolizei St.Gallen, gegenüber der «NZZ am Sonntag» bestätigt.
Das sorgt im Nachbarland für Unmut, teils wird der Schweiz vorgeworfen, die Flüchtlinge «durchzuwinken» und damit gegen Richtlinien des Dublin-Abkommens zu verstossen. Die illegalen Einreisen nach Deutschland hätten derart zugenommen, dass es zu erheblichen Problemen komme.
Der Sprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM), Daniel Bach, weist die Vorwürfen gegenüber der «NZZ am Sonntag» zurück. Man winke nicht durch und verstosse auch nicht gegen Dublin. Man habe schlicht keine Rechtsgrundlage, diese Menschen festzuhalten. (con/sda)
Auch wenn der Krieg heute vorbei wäre, wohin sollten Sie zurückkehren? An Orte ohne fliessend Wasser, ohne Strom, zerstörter Häuser, Felder und Strassen voller gefährlicher Munition und Tretminen. Man kann auf den Feldern nichts mehr anbauen ohne Lebensgefahr und keiner Strasse entlanggehen ohne Lebensgefahr.
Daher, meine realistische Einschätzung ist, auch wenn heute der Krieg zu Ende wäre, die Ukraine wäre erst in 2-3 Jahren wieder lebenswert.