Wissen
Leben

Feministischer Streik: Schweizer Frauen-Geschichte in 28 Bildern

Lauterbrunnen, Sefinental, Bergsteigerin, Blick nach Nordosten (NE)

Originaltitel:
Berner Alpen
ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Lüscher, Heinrich
History Porn

History Porn Special: Schweizer Frauen-Geschichte in 28 Bildern

14.06.2024, 15:5914.06.2024, 16:52
Mehr «Wissen»

Weil heute feministischer Streiktag ist ...

... wollen wir ein bisschen kreuz und quer durch die Schweizer Frauenhistorie wandern.

Teilnehmende protestieren am Demonstrationsumzug des Frauenstreiks, am Mittwoch, 14. Juni 2023 in Zuerich..(KEYSTONE/Michael Buholzer).
Der feministische Streik vom 14. Juni 2023 in Zürich.Bild: keystone

Emilie Kempin-Spyri – oder wenn Frauen eben doch nicht mitgemeint waren

Emilie Kempin-Spyri
Emilie Kempin-Spyri: 1853 in Altstetten geboren, 1901 in Basel gestorben.Bild: wikimedia

Ihre Tante schrieb den Kinderbuchbestseller «Heidi» und noch ganz viele andere, extrem düstere Geschichten. Emilie hingegen will nicht schreiben, sie will Anwältin werden.

Und sie wird es. Sie immatrikuliert sich 1883 an der Uni Zürich als erste Schweizerin an der Juristischen Fakultät und ist vier Jahre später Europas erste Doktorin der Rechte.

Ihren Ehemann als Anwältin vor Gericht vertreten darf sie allerdings nicht. Sie darf überhaupt niemanden vor Gericht vertreten, weil die Zulassung zum Beruf ans Aktivbürgerrecht – also ans Wahlrecht – geknüpft war, das den Frauen in Zürich noch 83 Jahre verwehrt bleiben wird.

Und so zog sie vors Bundesgericht, argumentierte mit dem generischen Maskulinum, dass in anderen Gesetzen die Frauen ja auch stets mitgemeint seien, dann gelte dies ja wohl auch für den Artikel 4 der Bundesverfassung – «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich».

Doch das Gericht befand ihre Argumentation als «eben so neu als kühn» – und wies die Klage ab.

Beschwerde Emilie Spyri
Auzug aus dem BGE-Urteil: [...] «Allerdings schliessen weder die Bundes- noch die zürcherische Kantonsverfassung die Frauen vom Stimmrechte ausdrücklich aus; allein mit Rücksicht auf die gesammte geschichtliche Entwicklung ist doch ohne Weiteres anzunehmen, dass dieselben unter den Bürgern, welchen das Stimmrecht verliehen wird, nur Bürger männlichen Geschlechts, nicht auch Bürgerinnen verstehen. Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.»

Und Emilie kämpfte weiter um ihre Zulassung. Ihr ganzes Leben lang, bis sie darob krank wurde. 1896 kam die Scheidung von ihrem Mann. Ein Jahr später wurde sie wegen «Geisteskrankheit» in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, 1898 gar entmündigt.

1901 starb sie, einsam und verarmt, an Gebärmutterhalskrebs.

Ihr Kampf war nicht vergebens; 1898 wurde im Kanton Zürich ein neues Anwaltsgesetz eingeführt, das Frauen trotz fehlendem Aktivbürgerrecht erlaubte, den Anwaltsberuf auszuüben. Bundesweit durften Anwältinnen erst 1923 als solche arbeiten.

In den Berner Alpen

Lauterbrunnen, ca. 1940:

Lauterbrunnen, Sefinental im Nebelmeer, Wasenegg, Bergsteigerin, Blick nach Ostnordosten (ENE). Hinten: Eiger, Mönch und Jungfrau (angeschnitten); Aufnahmestandort wahrscheinlich Hundschnubel oder Hor ...
Das Sefinental im Nebelmeer, im Hintergrund Eiger, Mönch und die angeschnittene Jungfrau. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Lauterbrunnen, Sefinental, Poganggen, Bergsteigerin, Blick nach Südwesten (SW)

Originaltitel:
Berner Alpen

Beschreibung:
Mitte rechts: Hundsflue, Hundshoren, Aufnahme vom Bergweg zwischen Rotstockhü ...
Aufnahme vom Bergweg zwischen Rotstockhütte und Sefinenfurgge.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Lüscher, Heinrich

Frauenstreik 1991

Plakat zum landesweiten Frauenstreik vom 14. Juni 1991. Das Sujet stammt von Grafikerin Agnes Weber.
Das Plakat hat Grafikerin Agnes Weber designt.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Das Plakat hat Grafikerin Agnes Weber designt. Zehn Jahre alt war der Gleichstellungsartikel zu diesem Zeitpunkt, und viel mehr als die Bundesverfassung zieren tat er nicht.

Frauenstreiktag 14. Juni 1991, Zürich
In Zürich.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich)

Deshalb hatte der Schweizerische Gewerkschaftsbund zum Protest aufgerufen. Auf dass die Umsetzung endlich voranschreite, auf dass die anhaltenden Ungleichheiten in zahlreichen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik endlich, endlich eingeebnet würden.

Stans, Frauenstreiktag, 1991.
In Stans.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich)

Die Hauptforderung war gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit.

Frauenstreiktag Bern 1991
In Bern.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich)

Es war nach dem Landesstreik von 1918 der grösste Streik, den die Schweiz je erlebt hatte.

On the Swiss women's strike of 14 June 1991, hundreds of thousands of women took part in strike and protest actions throughout the country, as here in Basel, where women ask by means of posters & ...
In Basel.Bild: KEYSTONE

Die Schnecke

Bern, 1928:

Frauen an der Saffa (Schweizerischnen Ausstellung für Frauenarbeit) zeigen sich 1928 kämpferisch. Mit der überdimensionierten Schnecke prangerten sie die ständig verzögerte Einführung des Frauenstimmr ...
Bild: Schweizerisches Sozialarchiv

Das Schneckentempo in Frauenbelangen war schliesslich nichts Neues. Bereits an der ersten Saffa, der schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit, prangerten die Frauen die ständig verzögerte Einführung ihres Stimmrechts symbolisch mit dem lahmen Tier an.

Ziel jener Ausstellung war es, die Leistungen der Frauen aufzuzeigen, ihren Anteil an der gesellschaftlichen, aber auch der volkswirtschaftlichen Arbeit sichtbar zu machen, blieb und bleibt doch noch immer ein grosser Teil der Haus- und Familienarbeit im Schatten. Würde man sie gebührend anerkennen, sollte dies, so die Logik der Organisatorinnen, längerfristig zur politischen Gleichstellung und zum Recht auf Erwerbsarbeit führen.

Der lange Weg

Doch das sollte noch eine ganze Weile dauern. Frauen zogen mit Fackeln durch die Nacht, mit Ballonen und Pins durch den Tag ...

1 February 1963 Fackelumzug für Frauenstimmrecht Zürich
Fackelumzug in Zürich, Februar 1963.Bild: wikimedia
Bahnhofstrasse Zürich, Propaganda für Frauenwahlrecht 1969
Ballone fürs Frauenstimmrecht an der Bahnhofstrasse in Zürich, September 1969.Bild: wikimedia
11/1970 Frauenstimmrechtskampagne
Zürich, November 1970.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich)

... bis sie nach und nach an die Urne treten durften.

Zürich, Kindergartenlokal, Nordheimstrasse, Victoria Merz, Schweizer Bürgerin aus Ghana an der Wahlurne

Gemeindewahlen Zürich, Frauen bei Urnengang in Oerlikon


01.02.1970
Gemeindewahlen Zürich, Frauen beim Urnengang in Oerlikon, Februar 1970.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Vogt, Jules

Ab dem 30. April 1989 auch im Kanton Appenzell Ausserrhoden.

Vor 30 Jahren, am 30. April 1989, beschloss die Landsgemeinde des Kantons Appenzell Ausserrhoden in Hundwil das Frauenstimmrecht.
Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Erleichterte Gesichter, nachdem die Landsgemeinde in Hundwil das Frauenstimmrecht beschlossen hatte. Zwar nicht mit überwältigendem, aber immerhin mit erkennbarem Mehr stimmten die Ausserrhoder Männer Ja.

18 Jahre nach dem Schweizer Stimmvolk war Ausserrhoden der zweitletzte Kanton, der das Stimmrecht für Frauen auf Kantonsebene einführte.

Das Schlusslicht bildete sein Halbbruder, Appenzell Innerrhoden, der mittels einer Beschwerde ans Bundesgericht dazu gezwungen werden musste, seine Frauen in den Ring steigen zu lassen.

Und zwei Jahre später, am 26. April 1992, sah man auch schon das erste Paar Frauenbeine auf dem Podest der Innerrhoder Landsgemeinde: Kaethi Kamber wurde als erste Frau ins Kantonsgericht gewählt.

MILESTONES CATALOGUE - Boys at "Landsgemeinde", Switzerland - The "Landsgemeinde" - cantonal assembly - of the canton of Appenzell Innerrhoden elected two new members of government ...
Bild: KEYSTONE

Die Fürstäbtissinnen von Zürich

Codex Manesse Elisabeth von Wetzikon
Elisabeth von Wetzikon (um 1235 – 1298) mit Schosshündchen und einem vor ihr niederknienden Pilger.Bild: wikimedia

Doch gab es davor auch schon Zeiten, in denen zumindest die Stadt Zürich von Frauen regiert wurde. Von adligen Frauen. Von Fürstäbstissinnen. Elisabeth von Wetzikon war eine von ihnen. Sie stand von 1270 bis 1298 dem Fraumünsterkloster vor – und war somit die Herrin der Stadt und ihre oberste Richterin. Als solche verfügte sie über das Begnadigungsrecht, hatte also die Macht, Urteile aufzuheben. Jegliche Verfassungs- und Gesetzesänderungen bedurften ihrer Zustimmung. Sie ernannte den Bürgermeister und die Pfarrer der Stadtkirchen. Sie verlieh das regionale Münzrecht und entschied über Mass und Gewicht der Münzen.

So kam es auch, dass sich nicht allein die Stadtheiligen Felix und Regula auf den Pfennigen befanden, sondern auch die Porträts der Fürstäbtissinnen selbst.

Money Museum: Elisabeth von Wetzikon, Silber Pfennig, ca. 1285 n. Chr.
Elisabeth von Wetzikon auf einem Silberpfennig, ca. 1285.bild: money museum

Elisabeth von Wetzikon verpachtete die Zölle von Zürich, kaufte und verkaufte Höfe und ganze Dörfer und empfing selbst den König des Heiligen Römischen Reiches, Rudolf von Habsburg, höchstpersönlich.

Die Frage ist also eher: Was tat diese Elisabeth von Wetzikon eigentlich nicht?

Die städtische Kanzlei führen? Nope. Auch das lag im Aufgabenbereich des Fraumünsters, da es keinen Stadtschreiber gab.

Die Gotik nach Zürich bringen eventuell? Nein, auch das tat sie, ersichtlich im Querschiff des Fraumünsters, wo in einem der Chorpfeiler die folgende Inschrift prangt:

«(FROW EB)TISCHENNE ELI/S(ABETH VO)N WEZZINGKON/ I(N DEM IAR) NACH GOTTES GE/B(URT IM) MCCXCVIII IAR.»

Doch dann kam die Reformation. In Zürich in Gestalt Huldrych Zwinglis, der 1522 mittels eines Räucherwurstessens bei seinem Buchdruckerfreund Christoph Froschauer demonstrierte, dass man nicht gleich von Gottes Zorn niedergestreckt wurde, wenn man das katholische Fastengebot missachtete. Es war am Ende nur eine der vielen katholischen Scheinheiligkeiten, mit denen man die Leute in klerikaler Leibeigenschaft hielt. Zwingli wollte da raus. Und jene Provokation half ihm dabei. Denn während der Bischof von Konstanz tobte, schlug sich der Zürcher Rat am Ende auf seine Seite.

Der Katholizismus hatte ausgedient. Er hatte mit dem schmutzigen Geschäft des Ämterkaufs, dem sündigen Ablasshandel und dem Schacher der Päpste den Herrn zu lange in irdische Geschäfte verstrickt.

Katharina von Zimmern (1478 – 1547) wusste das. Und so beschloss sie am 8. Dezember 1524, nach 28 Jahren als Äbtissin, ihr Amt aufzugeben. Damit legte sie das über Jahrhunderte von fürstlichen Frauenhänden regierte Kloster mitsamt seinen dazugehörigen Rechten, Ämtern und Einkünften in die Hände der reformierten Stadt. Und sie tat dies aus freiem Willen, wie sie selbst betonte. Ihr Gewissen gebe ihr diesen Entscheid ein, um Zürich und seinen Bürgern «grosse Unruhe und Ungemach» zu ersparen.

Der Frau, die ihr Privatgemach mit eigenwillig frivolen Flachschnitzereien dekorieren liess, gelang es, frei von Eitelkeiten, im Sinne des Ganzen zu politisieren.
Der Frau, die ihr Privatgemach mit eigenwillig frivolen Flachschnitzereien dekorieren liess, gelang es, frei von Eitelkeiten, im Sinne des Ganzen zu politisieren.bild: Landesmuseum Zürich

Die Verwaltung der Stadt solle vor Gott rechtens sein, vor niemandem sonst, schrieb sie und ging fort, um mit 47 noch einmal ein ganz neues Leben anzufangen: Sie heiratete einen in Zürich in Ungnade gefallenen Ritter und brachte zwei Kinder zur Welt.

Fussball-Amazonen

Zweikampf um den Ball zwischen der Alpnacherin Trix Fischer, links, und der Bernerin Helga Fischer vor dem Berner Tor, aufgenommen am 22. Juni 1975 in Buochs. Der DFC Alpnach gewinnt das Finalspiel um ...
Zweikampf um den Ball zwischen der Alpnacherin Trix Fischer, links, und der Bernerin Helga Fischer vor dem Berner Tor, aufgenommen am 22. Juni 1975 in Buochs. Der DFC Alpnach gewinnt das Finalspiel um die Frauen-Fussballmeisterschaft gegen den DFC Bern mit 3 zu 0 Toren. Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Die Schweizerische Damen-Fussball-Liga (SDFL) wurde erst 1970 gegründet. Was aber natürlich nicht heisst, dass die Schweizerinnen davor keinen Fussball spielten. Sie mussten es einfach inoffiziell tun, nicht in organisierten Clubs, sondern in zusammengewürfelten Trüppchen an Grümpelturnieren und «mit Humor gewürzten Veranstaltungen».

Erstes Damenfussball-Turnier der Schweiz
Das wahrscheinlich erste Frauenfussball-Turnier in der Schweiz. Bild: seit1968.ch

Frauenfussball gehöre schon «eher in die Kategorie einer Schaustellung oder Zirkusdarbietung» und dürfe nicht in Basel stattfinden, hiess es in der Schweizer Zeitung «Sport» vom 28. August 1957. Und wenn man sich dann doch dazu herabliess, ein solches Spiel zuzulassen oder gar darüber zu berichten, so wie über jenes in Wohlen im Frühling 1967, dann lautete die Schlagzeile: «Fussball-Amazonen machen ernst» (Sport). Und ja, der Aargauer FC Goitschel machte ernst. Und gewann gegen ein gemischtes Zürcher Team mit 6:0. Muss wohl an den «besonders Hübschen, Grossgewachsenen und Kleingewachsenen, Jüngeren und Älteren, Schlanken und Vollschlanken, Schwarzen und Blonden» (Sport) gelegen haben.

In den Schweizerischen Fussballverband wurden sie dennoch nicht aufgenommen. Aber die Frauen durften sich fortan als Schiedsrichterinnen ausbilden lassen, während ein zwölfjähriges Mädchen am 15. September 1965 Fussballgeschichte schrieb.

Als sie mit den C-Junioren des FC Sion das Vorspiel des UEFA-Cup-Spiels gegen Galatasaray Istanbul bestritt. Und mit 5:1 siegte.

Das Mädchen, das weder singen noch etwas in der Kirche machen wollte und darum mit den Jungs Fussball spielte, mit ihnen zum Training ging – und eine Lizenz erhielt. Weil der zuständige Sachbearbeiter sie für einen Jungen hielt.

Und plötzlich kannten alle Madeleine Boll.

Ausriss aus dem «Blick» vom 22. September 1965: Die erste Lizenz von Madeleine Boll.
Ausriss aus dem «Blick» vom 22. September 1965: die erste Lizenz von Madeleine Boll.bild: zvg

Der SFV reagierte mit dem sofortigen Rückzug der Spielerlizenz und es sollte noch weitere 28 Jahre dauern, bis der Frauenfussball in den SFV integriert wurde.

Erstes Frauenfussballnationalteam
Das Schweizerkreuz mussten sie eigenhändig aufnähen: «Mannschaftsfoto» des ersten weiblichen Schweizer Fussballnationalteams, 1970.bild: Keystone / Str

Marie Heim-Vögtlin (1845-1916)

Originalbeschreibung von Arnold Heim: Frau Dr. med. Marie Heim in der Kinderstube der Pflegerinnenschule Carmenstr. 40 in Hottingen
Frau Dr. med. Marie Heim (rechts) in der Kinderstube der Pflegerinnenschule Carmenstr. 40 in Hottingen, Anfang 20. Jahrhundert.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Ein ganz anderes männlich dominiertes Feld betrat Marie Vögtlin ein Jahrhundert früher. Jenes der Medizin. Das ging nur mit der Fürsprache ihres Vaters, eines Pfarrers in Bözen, für den sie den Haushalt besorgte, nachdem die Mutter gestorben war. Und der Vater sagte Ja zu den Plänen seiner Tochter, die sie, von der Liebe zu ihrem Cousin Fritz Erismann erfasst, gefasst hatte. Er war Arzt und Sozialist und das wollte auch sie sein. Die beiden verlobten sich, doch als Marie an Typhus erkrankte, ging Fritz zurück nach Zürich und lernte da die Russin Nadeschda Sulslowa kennen. Sie wird die erste Frau sein, die an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich promoviert. Und sie wird 1868 Fritz' Frau.

Mit gebrochenem Herzen lernt Marie Latein, Mathematik und Naturwissenschaften. Immatrikuliert sich und schliesst sieben Jahre nach Nadeschda, als erste Schweizerin, ihr Medizinstudium ab. Ihre Dissertation schreibt sie «über den Befund der Genitalien im Wochenbett».

«Weshalb sollen Frauen einen Männerberuf ausüben, da ihre körperlichen Kräfte doch viel geringer sind …»
NZZ, 1874
Heim-Vögtlin, Marie in Richisau, Kanton Glarus

Originaltitel:
Heim-Vögtlin, Marie in Richisau, Kanton Glarus

Beschreibung:
Im Hintergrund: Ochsenkopf

Datierung:
ca. 1885
Marie Heim-Vögtlin in Richisau, Glarus, ca. 1885.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Heim, Albert

Dann, endlich, kann sie ihre eigene frauenärztliche Praxis an der Hottingerstrasse 25 in Zürich eröffnen.

Und da trifft sie ihn, ihren eigentlichen Mann fürs Leben: den Geologen Albert Heim, den leidenschaftlichen Bergsteiger und Naturkenner, der seine Frau ebenso selbstverständlich wie sich selbst als Pionierin auf ihrem Gebiet verstand. Ihre Ehe sollte dafür der Stützpfeiler sein.

Marie Heim-Vögtlin wird Tag und Nacht gebraucht. Auch über Zürich hinaus ruft man sie in Notfällen – und sie ist da.

1882 wird das erste Kind, Arnold, geboren. Die Tochter Helene kommt 1886 zur Welt. Marie Rosa stirbt wenige Wochen nach der Geburt an Hirnhautentzündung. Das Paar nimmt eine Pflegetochter namens Hanneli auf und alle wohnen sie im «Hüsli», einem einfachen Chalet ohne Heizung, elektrisches Licht oder fliessendem Wasser auf dem noch kaum bebauten Zürichberg, bewacht von einem von Marie gesund gepflegten Kolkraben.

halet Hagrose, genannt Hüsli

Beschreibung:
Originalbeschreibung von Arnold Heim: Erbaut 1883, auf dem Zürichberg, ca. 1884
Chalet Hagrose, genannt Hüsli, auf dem Zürichberg, ca. 1884.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Hier werden die Kinder mit demselben reformatorischen Arbeitsethos erzogen, mit welchem Marie bereits aufgewachsen war. Sie ist streng, puritanisch, am Ende gar konservativ. Vielleicht darum betonte sie gern, dass sie, obwohl sie sich für das Frauenwahlrecht einsetzte, keine Frauenrechtlerin sei.

Dr. Marie Heim-Vögtlin, genannt "Munti" mit Arnold und Helene
Dr. Marie Heim-Vögtlin, genannt «Munti», mit ihren Kindern Arnold und Helene.ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

«Wenn ich wieder von vorne anfangen könnte – ich wollte, ich könnte es –, so würde ich wahrscheinlich nicht mehr Arzt werden, weil jetzt nicht mehr die Notwendigkeit besteht wie damals – ich würde gründlich geschulte Krankenpflegerin, und dann versuchen, eine wahre Gattin und Mutter zu werden, Schritt haltend so viel wie möglich mit dem Beruf des Mannes und mich vertiefen in die seelische und intellektuelle Entwicklung der Kinder – vieler Kinder, wenn die Gesundheit reicht. Wäre das nicht der höchste weibliche Beruf?»
Marie Heim-Vögtlin an ihren Sohn Arnold, 1911

1901 eröffnet sie mit ihrer Freundin Anna Heer die «Pflegerinnenschule». Sie übernimmt die Leitung der Kinderabteilung, während Anna Heer Chefärztin wird.

15 Jahre später stirbt Marie an Tuberkulose.

«Ich möchte wahrhaftig selber einmal für einige Tage krank sein, damit meine Frau mich doch pflegen, und ich sie sehen und um mich haben könnte!»
Albert Heim, Ehemann
History Porn
Uns erreichen immer mal wieder kritische Kommentare bezüglich des Namens dieses Formats. Wir können verstehen, dass es teilweise etwas respektlos anmuten mag, von geschichtlichen Tragödien in Verbindung mit dem Begriff «Porno» zu lesen. Wir haben uns aber an «reddit» orientiert und lesen den Namen mehr als in Bildern erzählte, unzensierte Geschichte, die anregt und manchmal amüsiert, aber eben auch schockieren kann.
Mit «Porn» können im Englischen auch TV-Shows, Artikel oder eben Fotos gemeint sein, die ein übermässiges, unwiderstehliches Verlangen nach oder Interesse an etwas befriedigen sollen.

History Porn III

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
History Porn Teil LXV: Geschichte in 23 Wahnsinns-Bildern
1 / 25
History Porn Teil LXV: Geschichte in 23 Wahnsinns-Bildern
Das Prudential-Hochhaus in Warschau war in den 30ern das höchste Gebäude der Stadt und das zweithöchste Europas. Während des Warschauer Aufstandes 1944 wurde es vom überschweren deutschen Mörser «Ziu» (VI) der Mörserserie Karl mit 2-Tonnen-Granaten beschossen. Was blieb, war das Stahlskelett, das fortan als beliebtes Motiv für Antikriegs-Plakate der Nachkriegszeit diente.
bild: reddit
Auf Facebook teilenAuf X teilen
So sieht eine Pizza-Party im Weltall aus
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
12 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
The oder ich
14.06.2024 17:11registriert Januar 2014
Wenn es den History Porn nicht gäbe, müsste der dringendst erfunden werden.

Und danke, Anna, für die datumsadäquat passende Ausgabe heute!
541
Melden
Zum Kommentar
avatar
Jimmy Dean
14.06.2024 17:07registriert Juli 2015
sehr spannend, va die geschichte über elisabeth von wetzikon gefällt mir sehr :)

aber kann es wirklich sein, dass sie mit 47 j. „ein neues leben anfängt“ und in diesem stolzen alter noch zwei mal mutter wird?

aber eben: Was tat diese Elisabeth von Wetzikon eigentlich nicht? 😉
290
Melden
Zum Kommentar
avatar
Gael Gartner
14.06.2024 16:43registriert Januar 2023
Super! Vielen Dank für diesen sehr interessanten Artikel, für die aufwändige Recherche und die vielen Bilder! Für die spannenden und auch erschütternden Geschichten dazu!
231
Melden
Zum Kommentar
12
    Sänger Mike Peters der britischen Band The Alarm mit 66 Jahren gestorben

    Der Frontmann der Band The Alarm, Mike Peters, ist tot. Er sei im Alter von 66 Jahren an Krebs gestorben, meldete die britische Nachrichtenagentur PA unter Berufung auf eine von ihm mitgegründete Wohltätigkeitsorganisation.

    Zur Story