Ein «Zuhause» ist ein Ort, an dem sich Kinder wohlfühlen sollten. Doch für viele Minderjährige und junge Erwachsene ist es auch ein Ort, an dem sie psychische und physische Gewalt erleben. Fast die Hälfte aller Kinder in der Schweiz sind davon betroffen.
Diese Ergebnisse erzielte die Universität Freiburg vergangenen Herbst durch eine Umfrage bei 1030 Eltern. Sie zeigte, dass fast 40 Prozent der Eltern bereits «Körperstrafen gegenüber ihrem Kind angewendet» haben.
Aus so einem Umfeld herauszukommen, gerade in einer Notsituation, ist für Kinder und junge Erwachsene schwierig. Speziell deshalb, weil es für sie schweizweit nur wenige Schutzangebote gibt, die nicht mit grossen Hürden verbunden sind.
In Zürich gibt es seit 1994 das Mädchenhaus, eine stationäre Kriseneinrichtung für junge Frauen von 14 bis 20 Jahren, die von Gewalt betroffen sind. Das Konzept ist ähnlich wie bei einem Frauenhaus. «Mädchen finden bei uns Unterschlupf und Betreuung in einer Notsituation. Damit sie sicher sind, bleibt alles vertraulich, auch die Adresse ist geheim», sagt auf Anfrage von watson Dorothea Hollender, Leiterin des Mädchenhauses. Dies sei wichtig, denn: «Die meisten Betroffenen haben über Jahre Gewalt in der Familie erlebt, von Morddrohungen oder ständigen, üblen Beleidigungen bis hin zu Schlägen und Schlimmerem.»
Das Mädchenhaus in Zürich ist schweizweit das einzige mit diesem niederschwelligen Angebot. Es ist durchschnittlich zu 75 Prozent belegt. Für Hollender ist klar, dass man nicht den Bedarf aller von Gewalt betroffenen jungen Frauen im Land abdecken könne. «Wir sind schon lange der Meinung, dass es in allen Sprachregionen der Schweiz ein Mädchenhaus geben sollte», sagt sie. Auch ein Bubenhaus würde sie begrüssen.
Die Mädchenhaus-Leiterin kritisiert, dass viele Kantone lediglich auf die ordentlichen Kriseninterventionen setzen würden – wie Kinder und Jugendliche verdeckt zu platzieren. «Wenn sich Betroffene bedroht fühlen, reicht es nicht immer, jemanden verdeckt zu platzieren. Es braucht sofortige Schutzmassnahmen ohne Hürden sowie permanent erreichbares, gut ausgebildetes Personal», erklärt Hollender.
Eine andere niederschwellige Schutzunterkunft bietet die Notschlafstelle Pluto in Bern jungen Menschen zwischen 14 und 23 Jahren. Ähnlich wie beim Mädchenhaus können sie sich auch im Pluto melden, wenn sie in einer Notsituation sind. Dort jedoch geschlechtsunabhängig.
«Wir haben bei uns viel mit jungen Menschen zu tun, die erst gerade volljährig wurden und genug hatten von der Gewalt, die sie zu Hause erlebten. Gewalt ist in der einen oder anderen Form immer irgendwo ein Thema bei Pluto-Nutzerinnen und -Nutzern», erklärt auf Anfrage von watson Simone Zürcher, Vorstandsmitglied bei Rêves Sûrs, dem Trägerverein der Notschlafstelle.
Seitdem das Pluto im Mai 2022 eröffnet wurde, werde es rege genutzt. «Wir sind selbst überrascht, dass die Auslastung bereits im ersten Jahr sehr hoch war», sagt Zürcher. Auch in der Zwischenevaluation der Fachhochschule Nordwestschweiz sei festgehalten worden, dass die Notschlafstelle Pluto eine «sehr hohe Auslastung auszuweisen habe und teils sogar überlastet war».
So wurden in den ersten sechs Monaten 1130 Übernachtungen von 70 unterschiedlichen Nutzenden verbucht. Viele der jungen Menschen würden knapp zwei Tage bleiben, andere mehrere Wochen und einige sogar bis zu drei Monate, bis eine Lösung für die Situation gefunden sei, sagt Zürcher. Während dieses Prozesses würden im Pluto Sozialarbeitende die jungen Menschen betreuen.
Auch Simone Zürcher kritisiert die Kantone und das Schutzangebot für von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche, da vielerorts «lediglich hochschwellige Angebote existierten», wie Jugendheime.
«Sie können nicht so schnell reagieren und sind für die Betroffenen nicht freiwillig, da es im Vorfeld eine fachliche Indikation braucht, bis es zur Platzierung kommt. Wir gehen jedoch davon aus, dass junge Menschen in allen Kantonen froh wären um niederschwellige Schutzangebote wie Notschlafstellen.»
Hier sieht auch Meret Schneider, Zürcher Grüne-Nationalrätin, einen «grossen Handlungsbedarf», wie sie gegenüber watson sagt. Sie ist Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) des Nationalrates. In einem Postulat fordert die WBK vom Bundesrat eine Analyse der Schutzplätze und Angebote für von Gewalt betroffene Minderjährige und junge Erwachsene in den Kantonen.
«Die Kantone gehen das Problem unterschiedlich an und die Zusammenarbeit ist mangelhaft», sagt dazu die Grüne-Nationalrätin. Speziell Schutzangebote mit tiefen Hürden wie Mädchenhäuser gebe es zu wenig, findet Schneider. Zudem übersteige bei den vorhandenen Institutionen die Nachfrage das Angebot massiv.
«Wir müssen darum die Kantone verstärkt in die Pflicht nehmen, die noch zu wenig oder gar keine niederschwelligen Angebote für von Gewalt betroffene Junge haben», sagt Meret Schneider. Sie hoffe deshalb darauf, dass das WBK-Postulat angenommen werde, auch wenn es für sie «zu wenig weit greife».
«Wir haben mehr Schutzbedürftige als Unterkünfte und wir hätten noch mehr Betroffene, wenn richtig kommuniziert würde, welche Angebote es gibt. Die meisten wissen gar nicht, wo sie sich niederschwellige Hilfe holen können. Deshalb finde ich es schwierig, sich darauf auszuruhen, dass es eine kantonale Kompetenz sein soll», sagt Schneider in Anspielung auf die Antwort des Bundesrates zum Postulat.
Denn der Bundesrat empfiehlt dem Parlament, das Postulat abzulehnen. Dies, weil die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) bereits «evaluiere, ob das Angebot für gewaltbetroffene Mädchen und junge Frauen ausreichend und zweckmässig sei».
«Dabei beabsichtigt die SODK, auch die Bedürfnisse von gewaltbetroffenen jungen Männern und LGBTI-Personen zu berücksichtigen», schreibt der Bundesrat. Da die Ergebnisse dieser Massnahmen voraussichtlich Ende 2024 vorliegen würden, scheine es für die Regierung «nicht sinnvoll, parallel zu den Kantonen aktiv zu werden».
Das Postulat wurde am Mittwoch im Nationalrat mit 108 zu 78 Stimmen angenommen.
Lieber buttern die das Geld in Steuererleichterungen für jene die eh schon das meiste besitzten.
Mich stört diese Unterscheidung / Ungleichbehandlung bei den Kindern.
Kinder erfahren losgelöst vom Geschlecht Gewalt, als schützt sie auch so!
Lediglich schwere körperliche Misshandlungen (z.B. mit sichtbaren Zeichen) haben keine soziale Akzeptanz.
Erst 1997 ratifizierte auch die Schweiz die UNO-Kinderrechtskonvention. Die Umsetzung ist aber nach wie vor lückenhaft. Körperstrafen sind z.B. nicht ausdrücklich verboten.
Es benötigt dringend Massnahmen, um lückenlose gesellschaftliche Akzeptanz der Kinderrechte zu erreichen, sonst ändert sich das nie