Am Montag beginnt in Bern die Frühjahrssession. Dann nimmt der Ständerat seine elektronische Abstimmungsanlage in Betrieb. Die Anlage hat eine bewegte Vorgeschichte: Nur widerwillig liess sich die Mehrheit der Kantonsvertreter vor Jahresfrist von der Notwendigkeit dieser Neuerung überzeugen.
Im Nationalrat wird seit zwanzig Jahren elektronisch abgestimmt. Eigentlich war vorgesehen, dass beide Ratskammern ihr Abstimmungsverhalten offenlegen sollten, doch der Ständerat entschied immer anders.
Während einer Debatte zur Thematik kam es im Oktober 2002 zu einem kleinen Zwischenfall. Es wurde eine namentliche Abstimmung verlangt. Doch weil dies im Ständerat so gut wie nie vorkam, wusste der Ständeratspräsident nicht, wie er diese durchzuführen hatte. Er musste sich erst beim Ratssekretär erkundigen, was einen längeren Unterbruch der Sitzung zur Folge hatte.
Nach erfolgreicher Klärung der korrekten Abwicklung dieses seltenen Verfahrens entschied sich die Mehrheit des Ständerats dagegen, dass der Stimmentscheid jedes einzelnen Mitglieds künftig festgehalten und veröffentlicht wird.
Die SP und die SVP hielten die Diskussion mit verschiedenen Vorstössen am Leben. Die Haltung bezüglich der Offenlegung des Abstimmungsentscheids ist aber nicht nur mit der Parteizugehörigkeit zu erklären, sondern auch mit der persönlichen Haltung und der politischen Erfahrung (vgl. Grafiken).
Welches waren die Argumente gegen die Offenlegung des Abstimmungsverhaltens? Es war die Befürchtung, dass mit den gewonnenen Daten simple Ratings erstellt würden, welche die Debattenkultur im Ständerat nicht zu erfassen wüssten. Parlamentarier würden sich mit der Zeit dazu verleiten lassen, beim Abstimmen auf spätere Auswertungen zu schielen, statt ihrer eigentlichen Überzeugung Folge zu leisten.
Entsprechend fiel das Votum des ehemaligen Innerrhoder Ständerats Carlo Schmid in der nächsten Debatte zu einem Vorstoss von Seiten der SP aus: «Wir sollten, und das ist auch der Ruf, den wir zu verteidigen haben, nach wie vor in der Lage sein, uns durch die Kraft rationaler Diskurse noch belehren zu lassen, unabhängig davon, in welcher Partei wir sind und unabhängig davon, aus welchem Kanton wir kommen.»
Schmid vertrat die Ansicht, dass die «heutigen wissenschaftlichen und politologischen Veranstaltungen» dem Rat nicht würdig wären. Er meinte damit wohl Links-Rechts-Einteilungen und Parlamentarierratings. Seine Ausführungen überzeugten die Mehrheit der kleinen Kammer: Nach Schmids Votum kam es zur einzigen namentlichen Abstimmung der betreffenden Legislatur. Die Installation einer elektronischen Anlage war erneut chancenlos.
Nichtsdestotrotz versuchte es die SVP einige Jahre später wieder. In der Wintersession 2012 stimmte aber die Mehrheit der Ständeräte ein weiteres Mal gegen die Offenlegung des individuellen Abstimmungsverhaltens. Somit wäre das Thema im Prinzip vom Tisch gewesen, wenn sich nicht in der gleichen Session mehrere Fehler bei der Ermittlung von Abstimmungsergebnissen ereignet hätten. Diese Auszähl- oder Additionsfehler – was es genau war, darüber wird immer noch gestritten – wurden von Politnetz entdeckt und publik gemacht.
Der Ständerat sah sich in der Folge gezwungen, noch einmal auf das Thema zurückzukommen. Am 7. März 2013 stimmte eine Mehrheit der Installation einer elektronischen Abstimmungsanlage im Ständeratssaal zu – passend zur Debatte erst nach der doppelten Wiederholung der Abstimmung in Folge von Unklarheiten beim Ermitteln des Resultates:
Die volle Transparenz des Abstimmungsverhaltens bewirkt Folgendes:
Niemand wird wohl ernsthaft infrage stellen, dass die bekannten Parlamentarierratings künftig auch für den Ständerat erstellt werden. Allerdings hat der Ständerat neben der Installation der elektronischen Abstimmungsanlage ebenfalls beschlossen, vorerst nicht automatisch sämtliche Abstimmungsentscheide zu veröffentlichen. Es sollen lediglich die Gesamt- und Schlussabstimmungen einsehbar sein.
Für die einfach zu erstellenden Ratings bedeutet dies: Sie werden keine Entscheide bei Detailfragen einbeziehen, sondern sich lediglich auf die publizierten Schlussabstimmungen stützen. Doch darin besteht zwischen den beiden Kammern ein grosser Unterschied.
Im Nationalrat werden die politischen Konfliktlinien bis zum letzten Moment aufrechterhalten: Weniger als ein Drittel aller Geschäfte werden einstimmig verabschiedet. Im Ständerat hingegen sind vor allem die Detailfragen umstritten, die Schlussabstimmungen fallen sehr oft einstimmig aus.
Dies nicht etwa, weil am Ende der Debatte plötzlich alle Ratsmitglieder gleicher Meinung wären, sondern der «anderen Ratskultur» wegen. Eine Gegenstimme bei der Schlussabstimmung hat zwar keinerlei inhaltliche Konsequenzen mehr; stimmt ein Ständeratsmitglied einem Gesetz in der Schlussabstimmung trotzdem nicht zu, kann das aber als starkes Zeichen gewertet werden.
Mit der beschlossenen Regelung, nur die Schlussabstimmungen zugänglich zu machen, macht es für ein Ständeratsmitglied künftig aber wenig Sinn, einem neuen Gesetz bloss aus Goodwill zuzustimmen. Dies markiert tatsächlich das Ende der bisherigen Ratskultur.