Unsere Sommerferien führten uns in den Norden, und unterwegs machten wir Halt in Brüssel. Beim EU-Parlament gibt es ein Besucherzentrum, in dem viel Wissenswertes zu Geschichte und Funktionieren der Europäischen Union zu erfahren ist. Am Ende des Rundgangs kann, wer will, an einem Touchscreen einen Wunsch an Europa eingeben, dieser wird dann auf grosse Bildschirme gebeamt.
Unser zehnjähriger Sohn begann zu tippen. Als ich ihm helfen wollte, deckte er mit der Hand ab, was er schon geschrieben hatte; «ich kann das allein», bedeutete das. Schliesslich poppte sein Wunsch auf den Grossbildschirmen auf: «Neutral sein wie die Schweiz.»
Neutralitätsdebatten hatten wir nach meiner Erinnerung am Familientisch noch nie geführt, aber für unseren Sohn war offenbar klar, dass die Schweiz neutral und dass dies etwas Gutes ist. Das macht die Genialität der Neutralität aus: Schon Kinder verstehen das Konzept und identifizieren sich damit.
Ihre Eingängigkeit hat das Schweizer Selbstverständnis geprägt, auch nach dem Fall der Berliner Mauer. Diese Identität ist eine Stärke, solange daraus nicht Selbstgefälligkeit und die Neutralität nicht zum Götzen wird. Dass sie auch Schwäche sein kann, zeigte sich nach der russischen Invasion in die Ukraine, dem ersten Angriffskrieg in Europa, seit Hitler Polen überfiel.
Eigentlich war klar, dass es bei einem solch krassen Verstoss gegen das Völkerrecht keine neutrale Haltung geben konnte. Doch der Bundesrat brauchte mehrere Tage, um zu dieser Erkenntnis zu kommen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.
Es scheint, als wirke die Neutralität wie ein politisches Narkotikum, auch mehr als ein Jahr danach: Das Aufspüren russischer Oligarchengelder gehen unsere Behörden im Halbschlaf an. Da erstaunt es nicht, dass aus den USA Vorwürfe auf die Schweiz einprasseln, sie finanziere Putins Krieg.
Grösstenteils ist das pure Polemik. Aber «perception is reality», wie die Amerikaner sagen, es zählt die Wahrnehmung. Bundesrat und Parlament müssten alles tun, diesen Eindruck gar nicht erst entstehen zu lassen. Die scharfe bis arrogante Kritik der Weltmacht USA erinnert an die 1990er-Jahre, als die nachrichtenlosen Konti aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ins Visier gerieten - was den Ruf der Schweiz beschädigte und den Anfang vom Ende des Bankgeheimnisses markierte.
Der damalige Finanzminister Kaspar Villiger schreibt dazu in einem eben erschienenen Buch: «Die ersten Wetterleuchten wurden nicht ernst genommen.» Jetzt blitzt es erneut, der Donner klingt noch fern. Es ist noch nicht zu spät, ein böses Erwachen abzuwenden.
Der 1. August und das 175-jährige Bestehen der Bundesverfassung bieten Anlass, über das Verständnis und die Auslegung der Neutralität nachzudenken. Niemand hat ein Deutungsmonopol. In der Verfassung steht einzig, Bundesrat und Parlament hätten «Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz» zu treffen.
Die entscheidende Frage lautet: Was schützt am besten vor Angriffen, seien es militärische Angriffe, Cyberattacken oder Anschläge auf die Infrastruktur?
Allein kann die Schweiz dieses Ziel nicht erreichen, das wissen wohl alle. Die Zeiten sind vorbei, als Militärs in den 1950er-Jahren zur Abschreckung eine eigene Schweizer Atombombe forderten. Ohne eine gewisse Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten ist Sicherheit nicht zu haben.
Trotzdem ist schon eine Absichtserklärung, die Verteidigungsministerin Viola Amherd Anfang Juli unterzeichnete, hoch umstritten: Dass sich die Schweiz am europäischen Luftverteidigungssystem Sky Shield beteiligen soll, sehen einige als Vorstufe zum Nato-Beitritt. Davon kann keine Rede sein. Über jeden Kooperationsschritt wird hierzulande demokratisch entschieden. Bei Sky Shield geht es darum, mit gemeinsamer System-Beschaffung zu verhindern, dass ein Loch im Luftschirm über der Schweiz entsteht.
Wahrscheinlich ist die Bevölkerung weiter als manche Ideologen in der Politik: Neutralität als Mittel zum Zweck statt als Selbstzweck. Entwickeln wir sie nicht weiter, so wie das seit ihrer Begründung 1815 wiederholt geschah, verliert sie ihre Genialität - und wird zum falschen Zauber. (aargauerzeitung.ch)