Am 1. August wird sie wieder gepriesen, die wehrhafte und freiheitsliebende Schweiz. Landauf, landab erklären SVP-Grössen, wie die Schweiz von inneren und äusseren Feinden bedroht wird - und dass sie sich dagegen wehren soll, ja muss. Die Schweiz verteidigt ihre Freiheit, wie einst Walter Fürst aus Uri, Werner Stauffacher von Schwyz und Arnold von Melchtal aus Unterwalden. Vor 732 Jahre beschworen sie angeblich auf dem Rütli ihren Bund, sich gegen die habsburgischen Vögte zu wehren.
Die Geschichte der freiheitsliebenden Schweiz lässt sich nahtlos weiterspinnen mit dem Morgartenkrieg 1315, den alten und wehrhaften Eidgenossen bis hin zum Sonderfall Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Dass die Erzählung höchst selektiv und die Begebenheiten beispielsweise rund um den Rütlischwur nicht einwandfrei verbürgt sind, ist unerheblich. Was zählt, ist das politische Narrativ, das Bild der wehrhaften und freiheitsliebenden Schweiz, das sich festigt. Es wirkt nicht nur identitätsstiftend, es gibt auch Halt und Orientierung in einer zunehmend chaotischen Welt.
Das Prinzip aller nationalen Narrative ist dabei dasselbe, die Amerikaner haben es längst perfektioniert. Ex-Präsident Barack Obama zeichnete vor seiner Wahl das Bild des amerikanischen Traums: Wer will, kann alles erreichen («Yes, We Can!»).
Sein Nachfolger Donald Trump verklärte die Vergangenheit («Make America Great Again»). Der Rassismus der früheren konföderierten Südstaaten spielt da genauso hinein wie die frühere industrielle Wirtschaftskraft der Autoindustrie.
Die Menschen konnten die beiden Präsidentschaftskandidaten mit diesen Erzählungen abholen. Politische Inhalte standen plötzlich im Hintergrund. Doch geschickte Politiker und Parteistrategen schaffen es, Massnahmen und Narrative zu verknüpfen - und so eine emotionale Verbindung herzustellen.
Darum spielen nationale Erzählungen in der Politik eine immer wichtigere Rolle. «Zwar zählen vorab konkrete Inhalte im politischen Diskurs», sagt Forscher und Politberater Andreas Müller. «Doch sind solche Narrative heute mindestens genauso wichtig, um Bürgerinnen und Bürger von Inhalten oder Parteiprogrammen zu überzeugen.»
Andreas Müller ist Programmleiter «Neue Narrative» des Thinktanks Pro Futuris, der zusammen mit der Uni Zürich und dem Forschungsinstitut Sotomo in einer Studie die Schweiz erstmals genauer beleuchtete. Die Forschenden haben dafür über 14'000 Textdokumente der letzten 40 Jahre ausgewertet, um nachzuzeichnen, welche Akteure sich bestimmter Bilder bedienen, und wie sie damit die politischen Diskurse prägen.
Sie haben dabei auf Basis der Vorarbeit der Basler Forscher Antonietta Di Giulio und Rico Defila sechs nationale Narrative herausgeschält:
Die militärische, wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit und Souveränität der Schweiz als Klein- und Binnenstaat ist der Kern dieser aktuell dominierenden Erzählung. Als typisches Feindbild gelten Migration oder «fremde Richter», sowie «unschweizerisches» Verhalten oder Gedankengut.
Die Schweiz als attraktiver Wirtschaftsstandort hat dank stabilen Bedingungen und dank Unabhängigkeit von anderen Staaten ihren Wohlstand aufgebaut. Dazu zählen die Selbstversorgungsmentalität, Zuverlässigkeit, Fleiss und der Innovationswille der Bevölkerung und der Firmen.
Der Staat sorgt für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Der humanitäre Gedanke gilt über die Grenzen der Schweiz hinaus. Über humanitäre Hilfe und Diplomatie engagiert sich das Land für Frieden, weltweite Wohlfahrt, Rechtsstaatlichkeit und Inklusion.
Direkte Demokratie, Föderalismus und Neutralität gehören zu den tragenden Pfeilern des Bundesstaates. Ihnen wird der soziale, wirtschaftliche und politische Erfolg des Landes zugeschrieben. Diese Erzählung dient aktuell auch als Absage an eine aktive Aussenpolitik, da der Fokus auf die neutrale, vermittelnde Rolle der Schweiz gelegt wird.
Das Zelebrieren der kulturellen, religiösen, sprachlichen und geografischen Vielfalt in der Schweiz sowie die Unterschiede zwischen den Kantonen könnten das Land spalten. Doch es findet immer wieder neu zusammen, weil die Schweiz eine Willensnation ist und über Konsens und Konkordanz erfolgreich vermittelt.
Die Nutzung der Alpen, ob wirtschaftlich, militärisch oder kulturell ist das Zentrum dieses Narrativs. Ob Réduit oder Heidi - wichtig sind Tradition und Heimat sowie der Bezug zur Natur, zu den Bergen und den Tieren.
In der Studie wurde die Verwendung dieser nationalen Narrative in Reden, Medienmitteilungen und politischen Debatten anhand von Schlagwörtern ausfindig gemacht. Die Haupterkenntnis dabei: Die rechten Parteien - namentlich die SVP - dominieren punkto Verwendung dieser Bilder. Keine andere Partei greift so häufig und so konsequent auf dieses Instrument zurück. Auffällig dabei: Seit fünfzehn Jahren schlägt die eingangs erwähnte Erzählung der freiheitsliebenden und wehrhaften Schweiz obenaus.
Das war nicht immer so. Alt Bundesrat Adolf Ogi (SVP) erklärte in seiner Rede an der Bundesfeier 2000: «Die Schweiz meiner Träume ist weltoffen, selbstbewusst, solidarisch.» Wohingegen alt Bundesrat Ueli Maurer für die Neujahrsansprache 2013 das Museum des Bundesbriefs in Schwyz wählte. Er forderte die Bevölkerung auf, sich auf die Wurzeln des Landes zu besinnen, auf den Bundesbrief von 1291 und sich gegen die Angriffe von aussen zu wappnen.
Die Studie zeichnet eindrücklich nach, wie die SVP dieses Bild in den letzten 15 Jahren sehr viel häufiger anwendet: eine Steigerung von über 20 Prozentpunkten. Das deutet gemäss Forschenden auf «Dynamiken einer Neubesetzung oder einer starker Neubewirtschaftung des Narratives» hin.
Narrative basieren auf etablierten Annahmen, auf Ereignissen und Werten, die von der Bevölkerung akzeptiert werden, wie die Forschenden ausführen. Gerade in Zeiten des Umbruchs dienen sie der Orientierung und können die Bevölkerung davon überzeugen, eine politische Massnahme, ein politisches Programm oder eine Partei zu unterstützen.
Diese Art der Orientierungshilfe zeigt sich in der Schweiz, wenn nach dem «Erfolgsrezept» des Landes gefragt wird. Die Antwort darauf ist eigentlich immer politisch, weil ihr ein bestimmtes Narrativ, eine Geschichte, eine Errungenschaft zugrunde liegt, die das Wesen des Staates prägt.
Als Beispiel dient wieder die SVP, die gemäss Studie nebst der wehrhaften Schweiz auch die politischen Institutionen zunehmend als Erzählung besetzt. In Zeiten internationaler Konflikte und aussenpolitischer Spannungen rückte die Volkspartei die Neutralität ins Zentrum, sie will den Begriff nun sogar in der Verfassung verankern.
Der Fokus wandelt sich mit der Zeit. Die integrative Wirkung der direkten Demokratie, der unverrückbare Rechtsstaat und der Minderheitenschutz erzählen alle eine andere Geschichte über die politischen Institutionen, als es die absolute Interpretation der Neutralität tut. Und doch wird die SVP auf diesem Feld von keinem politischen Akteur herausgefordert, es wird ihr einfach überlassen.
Dabei wäre das Jubiläumsjahr der Bundesverfassung die ideale Gelegenheit, um das Erfolgsrezept der Schweiz anders zu interpretieren: Jene der robusten Institutionen, der liberalen Ordnung - es wäre ein Heimspiel für die staatstragende FDP. An vielen Augustreden dürfte heuer der Gründung des Bundesstaates 1848 gedacht werden und der immensen politischen Stabilität und dem damit einhergehenden Wohlstand, welche die Verfassung dem Land gebracht hat. Die Frage sei erlaubt: Wieso denn erst jetzt?
Auch in anderen Narrativen treten die rechten Parteien ab 2000 als dominierende Gruppe auf, was gemäss Studie deren Neigung bestätigt, vermehrt auf dominante nationale Narrative zu setzen. Der Erfolg scheint ihnen Recht zu geben: Die Strategie verfängt.
Die Forschenden erklären, es dauere zwar lange, bis sich ein neues Narrativ etabliert. Doch bedienen beispielsweise SP und Grüne das Bild der Humanität und Solidarität der Schweiz schon lange. Sie tun dies laut Studie aber weniger intensiv als auch schon.
Zudem liegen die beiden Schweiz-Bilder der Willensnation und jenes des Alpenvolkes brach, sie werden von keinem politischen Akteur dominant besetzt. Dabei gäbe es hier durchaus Anknüpfungspunkte: Die funktionierende Integrationspolitik, die vereinfachte Einbürgerung und die tolerante Gesellschaft sind eigentlich Erfolgsgeschichten der Willensnation, die auf die SP zugeschnitten sind.
Und die naturnahe Arbeits- und Lebensweise des Alpenlandes ist zwar etwas verklärend für das Bild einer grünen Landwirtschaftspolitik oder einer konservierenden Heimatliebe. Aber mit den Gletschern bewirtschaften die ökologischen Kräfte des Landes zumindest teilweise das Heimatgefühl. Und ja: Auch das hat zuletzt verfangen.
Eine Ausnahme bildet die Erzählung des wirtschaftlichen Wohlstandes, welche von allen Akteursgruppen relativ ausgeglichen verwendet wird. Das in der Studie definierte «Zentrum», welchem nebst Mitte und FDP auch GLP, BDP, EVP, CSP und LDU angehören, besetzt das Thema genauso wie die linken (SP, Grüne, AL, PdA) und rechten Parteien (SVP, Lega, MCG). Auch die Wirtschaft, das sind Gewerkschaften und Arbeitgeber, verwendet das Bild für ihre Zwecke.
Dabei lassen sich aus der Studie interessante Schlüsse ziehen. Beispielsweise gelingt es der Wirtschaft kaum, eine andere Erzählung politisch zu verwenden und damit das Herz und nicht nur den Kopf der Bevölkerung anzusprechen. Vielleicht liegt hierin auch eine Erklärung, wieso die Wirtschaftskampagnen der letzten Jahre kaum punkten konnten.
Für die Zukunft, zum Mitschreiben: Eine politische Forderung vergessen die Menschen wieder. Eine packende Erzählung bleibt hängen. Jetzt müssen die Parteien Wege finden, um die beiden Ebenen zu verknüpfen. (bzbasel.ch)
Die heutigen SVP-Politiker sind die Gesslers unserer Zeit.
Tell würde nicht zögern, seine Armbrust gegen die SVP zu ergreifen.
Der Schweizer Gründungsmythos ist eine Erzählung von normalen Bürgern die sich gegen den Geldadel zur Wehr setzen. Es heisst nicht ohne Grund EidGENOSSENSCHAFT (und nicht EidGrossgrundbesitzerundbankenschaft)