Schweiz
Gesellschaft & Politik

Nationalrat Philipp Kutter spricht über Leben nach Skiunfall

Nationalrat Philipp Kutter, Mitte-ZH, spricht an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Dienstag, 11. Jun i 2024, in Bern. (KEYSTONE/Peter Schneider)
Nationalrat Philipp Kutter ist zurück im Nationalrat.Bild: keystone

«Habe mich zurückgekämpft»: Nationalrat Philipp Kutter über sein Leben nach dem Skiunfall

Er ist unter anderem Nationalrat, Stadtpräsident, Vater – und seit einem Skiunfall querschnittgelähmt. Philipp Kutter erzählt, wie er sich ins Leben zurückgekämpft hat, welche Hürden es für Menschen mit Beeinträchtigungen nach wie vor gibt und warum es die Inklusionsinitiative braucht.
13.10.2024, 18:1713.10.2024, 20:37
Maja Briner / ch media
Mehr «Schweiz»

Seit einem Skiunfall vor anderthalb Jahren ist Philipp Kutter vom Hals abwärts gelähmt. Der Mitte-Politiker hat sich zurückgekämpft ins Leben, amtet wieder als Nationalrat und Stadtpräsident von Wädenswil. Und er engagiert sich für die Volksinitiative «für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Inklusions-Initiative)».

Wir treffen Philipp Kutter während der Session im Bundeshaus. Ein Assistent hilft ihm bei der Bewältigung des Alltags. Als er mit seinem Rollstuhl durch die Gänge fährt, grüsst ein Nationalratskollege freundlich und fragt: «Wie geht's dir?» «Gut, und dir?», antwortet Kutter. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Sie haben einmal gesagt, die Frage «Wie geht es Ihnen?» sei seit dem Unfall kompliziert. Darf ich sie trotzdem stellen?

Philipp Kutter: Ja, klar.

Also: Sie sind seit einem Jahr zurück im Nationalrat, seit dem Skiunfall sind anderthalb Jahre vergangen. Wie geht es Ihnen heute?

Vor einem Jahr konnte ich erstmals den Nationalrat wieder besuchen. Inzwischen habe ich mich zurückgekämpft: Seit April bin ich als Stadtpräsident von Wädenswil wieder voll im Amt, die Sommersession des Nationalrats habe ich vollwertig bestritten, ebenso jetzt die Herbstsession. Mein Alltag funktioniert. So gesehen bin ich zufrieden. Im Vergleich zu früher sind die Einschränkungen aber kolossal. Es ist ein anderes Leben.

Womit haben Sie derzeit am meisten zu kämpfen?

Wenn es um Freizeit und Ferien mit der Familie geht. Wir gingen früher viel wandern, Ski fahren, baden, bräteln ... Vieles, was wir gern gemacht haben, ist heute nicht mehr möglich. Das schmerzt im Moment am meisten.

Sie gingen von Anfang an sehr offen mit dem Schicksalsschlag um, unter anderem auch in einem Dok-Film. Warum?

Das Informationsbedürfnis war sehr gross, vor allem zu Beginn. Meine Wählerinnen und Wähler, die Bevölkerung von Wädenswil, meine Partei: Sie wollten wissen, wie es weitergeht – zurecht. Dem wollte ich Rechnung tragen. Beim Dok-Film ging es um etwas anderes, da hat mich meine Frau motiviert. Sie hatte nach dem Unfall fieberhaft nach Informationen gesucht: Was passiert jetzt, wie geht es weiter? Sie fand wenig Hilfreiches. Daher dachte sie, der Dok-Film könnte ein wertvolles Dokument werden für andere – wenn man zeigt, wie eine Reha verläuft, welche Schwierigkeiten es gibt, was man erreichen kann. Wenn der Film dem einen oder anderen hilft, hat sich das für uns gelohnt.

Sie waren mit dabei, als die Inklusionsinitiative kürzlich eingereicht wurde. War sofort klar, dass Sie sich dafür einsetzen?

Ja. Ich habe mich immer für eine offene Gesellschaft eingesetzt, an der alle Menschen teilhaben können. Nun merke ich selbst, dass es für Menschen mit Beeinträchtigungen noch viel zu tun gibt. Das Grösste, was man ihnen schenken kann, ist ein möglichst selbstbestimmtes Leben.

Das will die Inklusionsinitiative
Die Initiative fordert die «rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen». Zudem will sie das Recht auf freie Wahl von Wohnort und Wohnform explizit in der Verfassung verankern. Die Initiative wurde kürzlich mit 108'000 Unterschriften eingereicht.

Was sind die grossen Probleme?

Ich fange mal bei dem Thema an, das mir als Präsident der Verkehrskommission des Nationalrats politisch am nächsten liegt: Der öffentliche Verkehr sollte gemäss Gesetz seit dem 1. Januar barrierefrei sein. Bus- und Bahnbetreiber, Kantone und Gemeinden hatten zwanzig Jahre lang Zeit dafür. Und doch ist die Barrierefreiheit längst nicht erfüllt.

«Gesetzeswidrig» – So steht es um die Barrierefreiheit im Schweizer-ÖV:

Video: watson/david indumi

Laut Bund entsprachen Anfang Jahr 499 Bahnhöfe den Anforderungen nicht. Was heisst das konkret im Alltag?

Das bedeutet, dass es eine Lotterie ist, ob man allein von A nach B kommt – oder ob man Hilfe braucht. Daher bleibt nichts anderes übrig, als die Reise immer vorab zu planen und anzumelden, damit beim Zug jemand mit einer mobilen Rampe beim Ein- und Aussteigen hilft. Das ist ein toller Service, das möchte ich betonen. Aber es kann nicht der Endzustand sein. Es ist wie in vielen Bereichen: Man ist bemüht, aber noch nicht am Ziel. Das gilt auch für die berufliche Integration. Dazu plane ich gerade einen Vorstoss.

Was wollen Sie fordern?

Arbeitgeber, die Menschen mit Beeinträchtigungen einstellen, sollen steuerliche Vergünstigungen erhalten. Denn die Arbeit ist wichtig, auch für das Selbstwertgefühl.

Wo sehen Sie sonst noch Handlungsbedarf?

Etwas vom Schwierigsten ist das Wohnen. Menschen mit Beeinträchtigungen haben es schwer, geeignete Angebote auf dem Wohnungsmarkt zu finden. Als Konsequenz landen Menschen in einer stationären Einrichtung, obwohl es nicht nötig wäre.

In der Verfassung ist das Diskriminierungsverbot verankert, es gibt auch ein Behindertengleichstellungsgesetz. Warum braucht es da noch eine Initiative?

Weil wir die Mängel im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen explizit benennen müssen, um weiterzukommen. Die Inklusionsinitiative gibt hoffentlich den politischen Rückenwind, um nicht nur kleine Schritte zu machen wie bis anhin, sondern auch mal einen grösseren.

menschen mit behinderung nationalrat ständerat philipp Kutter
«Von der Inklusion profitieren mehr Menschen, als man oft denkt», sagt Mitte-Nationalrat Philipp Kutter.Bild: zVg

Das Gegenteil von Inklusion ist Ausgeschlossensein, nicht zugehörig sein. Erleben Sie das in gewissen Situationen?

Ja, das gibt es immer wieder. Zum Teil ist es unumgänglich: Menschen mit Beeinträchtigungen werden immer von gewissen Situationen ausgeschlossen sein – weil man es schlicht nicht ändern kann. Umso mehr müssen wir überall dort, wo wir etwas machen können, alles Menschenmögliche tun.

Was ärgert Sie am meisten?

Gewisse Grundhaltungen in unserem Sozialversicherungssystem. Die Invalidenversicherung und die Krankenversicherer könnten die Menschen auf ihrem Weg zurück in den Alltag noch konsequenter unterstützen.

Wiedereingliederung ist doch ein grosses Thema bei der IV.

Ja, aber man könnte die Wiedereingliederung konsequenter vorantreiben. Wir haben die IV zu einer relativ misstrauischen Institution gemacht, ausgelöst durch die Diskussion über «Scheininvalide» vor zwanzig Jahren. Die IV wurde darauf ausgerichtet, Missbräuche aufzudecken und zu verhindern. Wir müssten die IV befähigen, dass sie noch mehr Unterstützung bietet bei der Rückkehr in Alltag und Berufsleben.

In der Schweiz leben laut Bund 1,7 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen, darunter auch solche mit Altersgebrechen. Erhält das Thema in der Politik genug Aufmerksamkeit?

Wenn ich Kolleginnen und Kollegen in der Politik von meinen Erfahrungen erzähle, stosse ich auf viel Verständnis. Wir werden auf nationaler Ebene mit der Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes und der Inklusionsinitiative Gelegenheit haben, hier vorwärtszumachen. Ich hoffe, dass man Nägel mit Köpfen macht. Es geht auch um die älter werdende Gesellschaft. Von der Inklusion profitieren mehr Menschen, als man oft denkt. Die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum etwa hilft auch Menschen mit Kinderwagen oder Koffern.

Sie waren vorher Nationalrat und sind es jetzt, Sie waren Stadtpräsident und sind es jetzt. Geht man trotzdem anders auf Sie zu?

Am Anfang gab es Leute, die nicht wussten, wie reagieren, weil ich jetzt im Rollstuhl unterwegs bin und nicht mehr zu Fuss. Aber das hat sich ziemlich normalisiert. Viele sind sehr hilfsbereit, wenn ich mal Hilfe brauche, um etwa die Jacke abzuziehen oder das Notebook aufzustellen. Das schätze ich sehr. Gleichzeitig ist es mir auch wichtig, dass ich den Menschen weiterhin auf Augenhöhe begegnen kann. Das funktioniert. Aber ich stand auch schon voll im Leben, als der Unfall passierte.

Inwiefern spielt das eine Rolle?

Wenn man mit 20 Jahren verunfallt, vielleicht noch nicht im Berufsleben steht und noch keine Beziehung hat, ist das nochmals eine grössere Herausforderung. Ich habe grossen Respekt vor den jungen Menschen, die das anpacken.

Werden Sie von vielen Menschen mit Behinderungen kontaktiert?

Ja, viele berichten mir von ihren Erfahrungen als Menschen mit Beeinträchtigungen oder als deren Angehörige. Ein wiederkehrendes Thema ist der Kampf mit den Sozialversicherungen. Manche stellen auch praktische Fragen – zum Beispiel, woher ich meinen Rollstuhl habe. Manche geben mir wiederum Tipps. Und dann gibt es auch Menschen, die nicht wissen, wie sie das Leben als Ganzes nun packen sollen. Wenn es irgendwie geht, bin ich offen für Austausch.

Woher nehmen Sie die Kraft für alles?

Mein Hauptantrieb ist meine Familie. Wenn ich wie ein Häufchen Elend im Wohnzimmer sitzen würde, wäre das für mein Umfeld wohl grauenhaft. Das wollte ich nicht. Ich habe mir fest geschworen, dass ich weiterhin ein Ehemann und ein Vater sein will, der für seine Familie da ist, mit dem man es auch lässig haben kann, der eine positive Ausstrahlung hat.

Ich stelle es mir wahnsinnig schwierig vor, das durchzuziehen.

Es ist anspruchsvoll, und natürlich geht es nicht immer gleich gut. Aber die Familie gibt mir viel. Für meine Töchter ist es egal, ob ich im Rollstuhl sitze – am wichtigsten ist, dass ich wieder da bin. Auch Freunde sowie die Kolleginnen und Kollegen aus der Politik geben mir Kraft und Motivation. Wenn man versucht, positiv durchs Leben zu gehen, erhält man auch positive Reaktionen. Wenn man dauernd hadert, ist es doppelt schwer.

Also ist Ihre Einstellung ein bewusster Entscheid?

Ja. Ich habe im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil viele kennengelernt mit dieser Einstellung: Nach vorne schauen, nicht an der Vergangenheit rumstudieren. Wir hatten gerade in den neun Monaten der Erst-Reha viel Austausch. Es hat mich beeindruckt, wie Kolleginnen und Kollegen, die das gleiche oder ein ähnliches Schicksal erlitten, das anpacken. Da war mir klar: Das will ich auch probieren. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die besten Bilder der Paralympics in Paris
1 / 47
Die besten Bilder der Paralympics in Paris
Sturz-Drama im 100-Meter-Final der T63-Kategorie. Die Schweizerin Elena Kratter kommt unversehrt auf Rang 5 ins Ziel.
quelle: keystone / ennio leanza
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Gesetzeswidrig» – So steht es um die Barrierefreiheit im Schweizer-ÖV
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
28 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Zanzibar
13.10.2024 18:53registriert Dezember 2015
Ich habe in meinem beruflichen Umfeld einen Kollegen welcher seit ca. 2 Jahren Querschnittgelähmt ist. Seit er im Rollstuhl unterwegs ist, wurde mir das erste Mal bewusst was für ein eingeschränktes Leben diese Personen haben. Das ist als "normalo" teilweise nicht nachvollziehbar.
633
Melden
Zum Kommentar
avatar
Ploderi
13.10.2024 19:17registriert Februar 2016
Den beiden Nationalräten Kutter und Alijai meinen grössten Dank für ihr grosses Engagement für die Sache der Beeinträchtigten🤩

Die beiden machen einen riesen Job, jeder auf seine Art.

Weil ein Leben mit Beeinträchtigung so viel mehr Energie braucht, bewundere ich ihren Kampfgeist.
602
Melden
Zum Kommentar
avatar
Dave1974
13.10.2024 21:54registriert April 2020
Und die ganze Tal- und Bergfahrt vorheriger Kommentare wird einfach Gecancelt?
Find ich nicht gut, da es Irrtümer gab, die man auch benennen und kontern dürfen sollte.
Es sind nicht wenige sondern rund 1,7 Mio Menschen in der Schweiz, die Erleichterungen (sind nicht Vorteile) begrüssen.
Zur Erinnerung. Schon nur jeder wird älter. Da kann man auch völlig risikolos und gesund leben nix gegen machen.
Anfeindungen sind völlig fehl am Platz.
241
Melden
Zum Kommentar
28
    Bundesrat Jans spricht an SVP-Tagung – und wird ausgelacht

    SP-Bundesrat Beat Jans hat am Freitag an der Albisgüetli-Tagung der Zürcher SVP Werbung für das neue Vertragspaket mit der EU gemacht – und damit für Lacher und Pfiffe gesorgt. «Ich habe geahnt, dass da kein Applaus kommt», sagte er.

    Zur Story