Stark sein. Etwas, das Nina* in ihrem Leben schon oft musste. Sie war es damals, als sich ihre Eltern scheiden liessen und sie schon als kleines Mädchen für ihre Schwester sorgen musste, während die Mutter mit vier Jobs versuchte, den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wollte stark sein, als ihr Vater aus ihrem Leben verschwand, alles auseinanderbrach und sie, die einst gute Schülerin, auf die schiefe Bahn geriet. Und auch als sie daraufhin ins Kinderheim gesteckt wurde, blieb ihr nichts anders übrig, als durchzuhalten.
Erst als sie 15 Jahre alt war, durfte Nina zurück nach Hause – aber nur für wenige Monate. Denn Nina wurde ungewollt schwanger, und ihre Mutter stellte ihr ein Ultimatum: Abtreibung oder Rausschmiss. Nina musste gehen. Eine Abtreibung kam für sie nicht in Frage. Sie glaubte, dass alles, was leben wolle, auch leben solle. So, wie es der Buddhismus, die Religion, mit der sie aufgewachsen ist, vorgibt.
Heute glaubt Nina nicht mehr. «Die vielen schlimmen Tage und die grosse Ungerechtigkeit, die mir widerfahren ist, haben mir gezeigt, dass es keinen Gott gibt», sagt sie. Inzwischen ist Nina 25. Schwierige Zeiten liegen hinter der jungen Appenzellerin. Denn ihr Ex-Freund, von dem sie sich nach der Geburt trennte, hatte sie während der Schwangerschaft nicht nur betrogen, sondern auch einen Berg Schulden angehäuft – auf ihren Namen. 25'000 Franken.
Nina erklärt: «Eine Zeit lang ging damals meine Post noch zu ihm, weil ich als Serviceangestellte nur ein Zimmer hatte und keinen Briefkasten. Weil er sowohl die Zugangsdaten zu meinem Mail-Account als auch mein Geburtsdatum kannte, konnte er alles über meinen Namen abwickeln. Handyabo, Krankenkasse, Onlinebestellungen, einfach alles.»
Sie erkundigte sich, welche rechtlichen Optionen sie habe, um nicht für seine Schulden aufkommen zu müssen. Keine, sagte man ihr. Alles laufe auf ihren Namen. Wieder einmal hiess es für Nina: stark sein.
«Ich fühlte mich derart hintergangen und hilflos. Ich war so wütend. Das ist einfach ungerecht!» Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Vergeblich versucht Nina sie zurückzuhalten. Mit bebender Stimme sagt sie: «Jeder denkt, dass ich über meine Verhältnisse gelebt habe.» Niemand frage nach den Hintergründen.
Doch manchmal sei ihr diese Reaktion lieber als jene auf ihre Geschichte. Dann würden die Leute nämlich denken: War die naiv! «Ich gebe zu, es war dumm. Ich war ein verliebter Teenager, der blind vertraute und unvorsichtig war. Aber im Grunde ist doch jeder nur eine falsche Entscheidung davon entfernt, sein Leben zu ruinieren.»
Weil sie vor einem Haufen Schulden stand, auf keine finanzielle Unterstützung ihrer Familie oder des Ex-Freundes zählen konnte, musste Nina ihre damals halbjährige Tochter zu Pflegeeltern geben. Statt eine Ausbildung zu machen, wie andere in ihrem Alter, musste sich Nina einen Job suchen, um die Schulden zu begleichen. Von ihrem monatlichen Einkommen als Serviceangestellte von 4300 Franken netto gingen jeweils rund 2500 Franken an Gläubiger, der Rest – 1800 Franken – musste ihr reichen, um den Lebensunterhalt zu finanzieren.
«Ich fühlte mich so unfair behandelt. Ich arbeitete und arbeitete, und trotzdem konnte ich mir nie etwas leisten, nie etwas zur Seite legen», sagt sie. Es habe oft Monate gegeben, in denen das Geld wegen der Schulden nicht mehr reichte, um ihre eigenen Rechnungen zu bezahlen.
Ein Teufelskreis begann. Auf dem Betreibungsamt war Nina in den letzten neun Jahren Stammgast. Ebenso in der Warteschlaufe von Telefonhotlines. «Das sind schwierige Anrufe. Ich schäme mich, dass ich immer wieder darum bitten muss, die Rechnungen in Raten bezahlen zu können.» Einige haben Verständnis, viele nicht.
Etwa als sie einmal auf dem Betreibungsamt versuchte, für eine fällige Rechnung über 3500 Franken eine Ratenzahlung zu vereinbaren. Man habe ihr gesagt, sie müsse bis am Nachmittag entweder das Geld oder den Autoschlüssel bringen, damit das Fahrzeug gepfändet werden könne. Sonst käme die Polizei. «Aber ich brauche das Auto, damit ich meine Tochter sehen kann. Mit dem öffentlichen Verkehr komme ich nicht dorthin, um sie am Wochenende zu mir zu holen», sagt Nina. Eine Freundin habe ihr das Geld schliesslich geliehen.
Die Verzweiflung der jungen Mutter ist gross. Sie blickt nach unten und zerknüllt ein Taschentuch. Dann sagt sie: «Teilweise wird man wie der letzte Dreck behandelt». Ein bisschen verstehe sie das, fügt sie an, denn es gebe bestimmt viele Leute, die nicht zahlen wollten und den Staat ausnützen würden. Sie hingegen wolle zahlen, könne aber nicht. «Das ist doch ein Unterschied!» Ihre Stimme versagt.
Dass sie sich ständig rechtfertigen und sich Anschuldigungen und Vorurteile anhören muss, verletzt Nina tief. «Man überwindet sich ja schon, überhaupt Hilfe beim Sozialamt zu holen. Da will man nicht auch noch diskriminiert und angefeindet werden. Aber man muss all das über sich ergehen lassen, man hat ja keine andere Wahl.»
Dass sie die 25'000 Franken von ihrem Ex-Freund je zurückbekommt, glaubt Nina nicht. Um sie vor Gericht einzufordern, fehlt es ihr an Geld, Energie und Mut. «Ausserdem hat er Privatkonkurs angemeldet», sagt sie.
Bis heute hat sich Ninas Situation kaum verbessert. Noch immer sind 5000 Franken an Schulden unbeglichen, Existenzängste allgegenwärtig. Letzten Sommer konnte Nina endlich eine Ausbildung beginnen, etwas, das ihr zuvor verwehrt geblieben war. Samt Ergänzungsleistungen der Sozialhilfe muss die angehende Töffmechanikerin mit 1500 Franken im Monat auskommen.
Ohne die Unterstützung ihres neuen Freundes, mit dem sie seit zwei Jahren in Appenzell lebt, hätte Nina keine Lehre beginnen können. «Wenn ich meinen Freund nicht hätte, wäre mein Kühlschrank leer.»
Die ständige Abhängigkeit macht ihr extrem zu schaffen. «Ich merke, dass auch er auf Dinge verzichten muss, weil er mich finanziell unterstützt. Das tut mir weh.» Darum sei es ihr wichtig, diese Ausbildung zu machen, um später besser zu verdienen und sich revanchieren zu können.
Oft hat sie in den vergangenen Jahren daran gedacht, einfach aufzugeben, vielleicht sogar ihr Leben. Doch ihrer heute neunjährigen Tochter zuliebe kämpfte sie sich durch. Denn irgendwann möchte Nina ihr Kind zu sich holen – endlich eine Familie sein.
Doch vorerst bleibt das bloss ein Wunsch. Über die Zukunft denkt Nina kaum nach, zu gross sind ihre Sorgen. Sie sagt: «In meinem Kopf drehen sich die Gedanken, ich bin ständig damit beschäftigt Lösungen und Auswege zu suchen. Ich muss alles nehmen, wie es kommt. Einfach weiter machen.» Stark sein.
*Name der Redaktion bekannt.