Unpolitisch sei die Schweizer Jugend, zu faul zum Abstimmen und nur an der Karriere interessiert. Solche Befunde kursierten nach der Publikation der VOX-Analyse zur Volksabstimmung über die SVP-Zuwanderungs-Initiative. Nur 17 Prozent der 18- bis 29-Jährigen hätten demnach den Stimmzettel ausgefüllt. Heute weiss man, dass diese Zahl zu tief sein dürfte. Jene Städte, die das Alter der Abstimmenden auswerten, wiesen eine deutlich höhere Beteiligung aus.
Kaum bestreiten lässt sich, dass es mit dem politischen Engagement der Jungen häufig nicht weit her ist. Eine Bewegung mit Namen Operation Libero will Gegensteuer geben. Gegründet wurde sie als Reaktion auf den 9. Februar, einige Exponenten stammen aus dem Umfeld des aussenpolitischen Think-Tanks foraus. Man trete an gegen das «Angstklima» und die «Vergangenheitsversessenheit» in der Schweiz, hiess es am Montag an einer Medienkonferenz.
Über Facebook und Twitter sowie mit elektronischen Newslettern will die Gruppierung mit bislang knapp 50 Mitgliedern Einfluss auf die Politik nehmen. Die etablierten Parteien würden die Zuwanderung nur noch als Problem betrachten, monierte Co-Präsident Dominik Elser. «Wir setzen uns ein für eine Schweiz, die weiss, dass sie nicht trotz, sondern wegen ihrer Offenheit erfolgreich ist», ergänzte Ivo Scherrer, Leiter Wirtschaftspolitik. «Die Schweiz ist kein Freilichtmuseum», betonte er.
Gegen eine «Ballenberg-Schweiz» treten nicht nur die Liberos an. Mehr als 100 prominente Persönlichkeiten lancierten ebenfalls am Montag einen Aufruf gegen die «Selbstisolierung» des Landes. Das Spektrum reicht von Patrick Odier, dem Präsidenten der Schweizerischen Bankiervereinigung, über Ex-Astronaut Claude Nicollier bis zu den Alt-Bundesräten Micheline Calmy-Rey, Ruth Dreifuss und Pascal Couchepin.
Eine klare Aussage über die Form der Beziehungen zur Europäischen Union vermeidet das Schreiben, doch für die meisten der prominenten Unterzeichner hat die Rettung der bilateralen Verträge Priorität. «Ich will die Beziehungen zur EU mit den Bilateralen erhalten. Dafür braucht es eine Front gegen die Abschottung», sagte SBB-Präsident Ulrich Gygi der Schweiz am Sonntag.
Mit dem früheren Bundesrichter Giusep Nay und dem ehemaligen FDP-National- und Ständerat Gilles Petitpierre haben sich zwei Mitglieder des Club Helvétique an der Niederschrift des Aufrufs beteiligt. Die linksliberale Vereinigung wurde 2005 gegründet und hat als Reaktion auf das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative ein «Manifest zum 1. August» verfasst. Darin wehrt sie sich gegen eine Schweiz, die im Begriff sei, sich «in einen verstockten Nationalismus, eine neue Kleingeistigkeit und eine gefährliche Weltfremdheit zurückzuziehen».
Für das Manifest hat der elitäre Club Helvétique Kritik einstecken müssen. Ähnliches droht Operation Libero bei den sechs Kernthemen, in denen sich die Bewegung engagieren will: Offener Arbeitsmarkt mit Personenfreizügigkeit und liberalisierter Drittstaaten-Zuwanderung, erleichterte Einbürgerung, Europadebatte ohne Scheuklappen, Gleichstellung aller Lebensgemeinschaften, gezielte Umverteilung mit Steuergutschriften sowie verursachergerechte Finanzierung des Verkehrs.
Einzelne Forderungen wie ein Adoptionsrecht für Homosexuelle wirken halbwegs realistisch, das meiste aber eher utopisch. Oder «visionär», wie die Exponenten betonen. Ein Bürgerrecht bei Geburt oder Mobility Pricing dürften auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig sein. Nicht anders sieht es aus mit dem Beitritt zur EU, dem sich die Liberos nicht verschliessen. Hier treffen sie sich mit den Unterzeichnern des Promi-Aufrufs, die es als «töricht und gefährlich» bezeichnen, «den Beitritt der Schweiz a priori und auf immer aus den europapolitischen Debatten zu verbannen».
Utopisch oder nicht: Es ist das Privileg der Jugend, sich hohe Ziele zu setzen. «2050 soll die Schweiz das liberalste Land der Welt sein», sagte Libero-Vorstandsmitglied Ivo Scherrer. Eines lässt sich schon heute sagen: Der 9. Februar hat einiges ausgelöst. Wenn sich neben den Jungen auch Wirtschaftsführer engagieren, deren politische Passivität ebenfalls oft beklagt wird, dann darf man fast schon von einer Revitalisierung des demokratischen Diskurses in der Schweiz sprechen.