«Das Brot ist auch viel teurer geworden. Jetzt ist es 1.20 Franken. Vor ein paar Monaten kostete es noch 90 Rappen», sagt Nadja als sie nach dem M-Budget Baguette greift.
Sie ist 23 Jahre alt, alleinerziehende Mutter und lebt mit ihrer dreijährigen Tochter Elina in einem Dorf im Aargau. Für den Einkauf fährt sie mit ihrem umfunktionierten Veloanhänger ins Nachbardorf. Heute hat sie ihre Einkaufsliste zu Hause vergessen. Aber davon lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen.
Ihre Tochter ist in Plauderlaune. Immer wieder teilt sie dem Mami Dinge mit wie: «Ich liebe den Samichlaus!» Nadja ist geduldig, biegt sich über den Kinderwagen und gibt ausführliche Antworten auf Fragen wie: «Was gibt es heute zum Abendessen?»
Als Nadja eine grosse Packung M-Budget Eier in ihren Einkaufswagen legt, beginnt sie, ohne darauf angesprochen zu werden, sich zu rechtfertigen: «Gewisse Menschen kritisieren mich online dafür, dass ich diese Eier aus Bodenhaltung kaufe und nicht jene aus Freilandhaltung. Klar wäre das schöner für die Hühner, die die Eier legen. Aber ich muss überleben. Ich lebe am Existenzminimum. Ich kann nicht auf alles Rücksicht nehmen.»
Die Einkaufsliste und einen Menuplan mit 14 Mahlzeiten hat Nadja am Abend vor dem Einkauf fein säuberlich vorbereitet. Pro Monat hat sie sich ein Budget für Lebensmittel von 250 Franken gesetzt. «Früher habe ich nicht so genau geplant. Das hat dazu geführt, dass ich viel mehr Geld ausgegeben habe. Zudem musste ich immer wieder Essen entsorgen, weil es verdarb.»
Mehrfach betont sie, dass sie oft Lebensmittel über Too Good To Go besorge, beispielsweise wenn sie ihre Freundinnen einlädt. Dort bieten verschiedene Lokale Lebensmittel an, welche sie für wenig Geld verkaufen, weil sie bald ihr Verfalldatum erreichen. «Ohne die App wäre es für mich fast unmöglich, bei dem Budget von 250 Franken zu bleiben.»
Nadja streamt die Vorbereitungen für den Einkauf jeweils auf ihrem Instagram-Channel. Sie gibt online Einblicke in ihr Leben und jenes ihrer Tochter.
Für die Adventszeit hat sie für ihre Tochter einen speziellen Kalender vorbereitet: An jedem Tag hat sie auf ein Zettelchen eine Aktivität aufgeschrieben, die sie zusammen unternehmen. In der Weihnachtszeit geht es für Nadja und Elina nicht darum, sich auf Materielles zu fokussieren, sondern um etwas viel Wichtigeres: Miteinander Zeit zu verbringen.
Das Gesicht ihrer Tochter zeigt sie aber, anders als andere Influencer-Mütter, bewusst nicht. Obwohl sie weiss, dass sie dank des Jöö-Effektes viel mehr Geld verdienen könnte. Nadja verfolgt jedoch ein anderes Ziel: Mit ihrer Präsenz auf den sozialen Medien will Nadja die virale Scheinwelt, in der alles perfekt wirkt, aufmischen. Sie hat damit Erfolg: Mit ihren Posts und Videos erreicht Nadja nach eigenen Angaben viele Mütter, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie.
Nadjas wöchentliche Herausforderungen beim Einkauf zeigen exemplarisch, was dutzende Studien bereits beweisen: Eine alleinerziehende Mutter zu sein ist eines der grössten Armutsrisiken in der Schweiz. Jede sechste Einelternfamilie ist von Armut betroffen.
Nadja sagt: «Es gibt arme Menschen in der Schweiz, bei denen am Ende des Monates trotz Sozialleistungen nichts übrig bleibt.» Mehrfach betont sie, dass sie trotzdem gut zurechtkomme und mit ihrer Offenheit Mut machen wolle – das Letzte, was sie wolle, sei Mitleid.
Während des Einkaufs quengelt Elina nie. Bevor es zur Kasse geht, darf sie sich heute nämlich ein Spielzeug aussuchen. Das hat ihre Mutter ihr versprochen. Und Nadja hält sich an ihre Versprechen.
Sie sagt: «Elina kann nichts dafür, dass wir arm sind. Ich will nicht, dass sie sich minderwertig fühlt. Deswegen erlaube ich mir, ihr ab und zu ein Spielzeug zu kaufen. Wenn jemand verzichten muss, dann ich. Nicht meine Tochter.»
Wann läuft das Leben schon genau so, wie man es geplant hat? Selten bis gar nie. So war es auch bei Nadja. Ihr Weg ins Prekariat war kurz.
Nadja selbst ist bereits in armen Verhältnissen aufgewachsen. Sie hatte zwar geplant, früh schwanger zu werden. Mit 19 Jahren. Denn sie wollte eine junge und energiegeladene Mutter sein. Doch dass sie sich von dem Vater trennen würde, als ihre Tochter fünf Monate alt war, damit hatte sie nicht gerechnet. Kurz darauf kam ein weiterer Rückschlag: Nadja musste ihre Lehre abbrechen. Die Doppelbelastung von der Lehre und dem Muttersein brachte sie an ihre Grenzen.
Obwohl Nadja ihre Lehre nicht abschliessen konnte, arbeitet sie heute in einem 60-Prozent-Pensum als Kinderbetreuungsassistentin. Im Monat verdient sie 2000 Franken, ihre Wohnungsmiete beläuft sich auf rund 1450 Franken. Als Alleinerziehende fällt sie damit unter das Existenzminimum.
Die Sozialhilfe unterstützt sie deswegen und zahlt ihr so viel Geld aus, bis sie für den Grundbedarf auf das existenzielle Minimum kommt. Sie erhält bis zu 700 Franken pro Monat, wenn Nadja mit Kooperationen auf Social Media etwas Geld dazuverdient, erhält sie weniger oder kein Geld vom Sozialamt. Das war beispielsweise im November der Fall.
Der Kanton Aargau erhöhte den Grundbedarf im Mai 2023 aufgrund der Teuerung um rund 40 Franken pro Monat. Aktuell liegt er bei 1577 Franken. Gleichzeitig stieg aber auch Nadjas Miete.
Ebenso unterstützt sie der Kanton bei den Krankenkassen-Prämien und den KITA-Rechungen, je nachdem wie viel Nadja monatlich selbst zahlen kann. Die 1577 Franken Grundbedarf müssen für Lebensmittel, Freizeitaktivitäten, Kleider, Handyrechnungen und alles, was sonst noch anfällt, reichen.
Dem Vorurteil, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen, faul seien, widerspricht Nadja vehement. «Ich arbeite 60 Prozent. Die 40 Prozent brauche ich für den Haushalt und Zeit mit meiner Tochter. Es reicht einfach nicht.»
Nadja wünscht sich, in naher Zukunft genug Geld zu verdienen, um nicht mehr vom Staat abhängig zu sein. Und sie will ihre Lehre abschliessen. Dass sie das Sozialgeld, das sie heute bezieht, gegebenenfalls zurückzahlen muss, findet sie gut. «Ich bin dankbar, dass ich in einem Land lebe, in dem man armen Menschen hilft und ich weiss, dass dieses Geld dann wiederum an andere Personen geht, die darauf angewiesen sind.»
Sie fügt an: «In einem Punkt bin ich mir sicher: Ich kann mich gut damit arrangieren, wenig Geld zu haben. Das würde ich auch dann können, wenn ich die Sozialleistungen zurückzahlen müsste.»
Von der Zukunft zurück in die Gegenwart: Obwohl Nadja ihre Einkaufsliste vergessen hat, schafft sie, alles davon zu kaufen. Ausser die Lasagneblätter. Sie bezahlt 79 Franken. «Das sollte für die nächsten zwei Wochen ausreichen», sagt Nadja zufrieden. Elina ist auch glücklich: Sie kann es kaum erwarten, ihre neue Barbie auszupacken.
(Ausbildung , finanzielle Sicherheit, stabile Partnerschaft, Reife, soziales Umfeld..) Innerlich schreit alles in mir „denk nach“!
Aber jeder Mensch muss das für sich selber entscheiden und ich hoffe für sie, dass sie ihre Entscheidungen nicht bereut. Einen harten Weg hat sie sich ausgesucht.