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Kopfschuss im Smart und Balkanmafia in Basel – Cold Case vor Gericht

Kopfschuss im Smart und Balkanmafia in Basel – Insider packt über Cold Case aus

Im Jahr 2000 starb ein 21-Jähriger vor der Basler St. Jakobshalle durch einen Kopfschuss. Am Montag beginnt der Prozess gegen den mutmasslichen Mörder. Dieser hat sich mit einer kriminellen Organisation angelegt.
21.07.2025, 06:4021.07.2025, 06:40
Andreas Maurer
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Der Besucherraum B der Strafanstalt Lenzburg hat keine Fenster an den Wänden. Tageslicht schimmert nur durch ein vergittertes Oberlicht. Dusan J. tritt ein, ein 49-jähriger Serbe mit tätowierten Armen, dunklen Augenringen und einem grau melierten Kinnbart (alle Namen in diesem Artikel sind geändert). Er sitzt die letzten Monate einer zehnjährigen Freiheitsstrafe wegen Kokainhandels ab.

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Das Grab von Zlatko V. auf dem Basler Friedhof Hörnli.find a grave

Im Gespräch zieht er sein weisses T-Shirt hoch und zeigt sein wichtigstes Tattoo. Auf seinem runden Bauch ist ein jugendliches Gesicht tätowiert: Zlatko V. Er starb am 5. Oktober 2000 an den Folgen eines Kopfschusses – mit 21 Jahren.

Dusan und Zlatko stammen aus Serbien und lernen sich in den späten 1990er-Jahren in Basler Bars kennen, in denen nur Ex-Jugoslawen verkehren. Beide verlieben sich in dieselbe Frau. Aus der Rivalität wird eine Freundschaft – so eng, dass sie diese mit einem alten Ritual besiegeln. Mit einem Messer schneiden sie sich in die Hände und vermischen ihr Blut in einem Händedruck. Blutsbrüderschaft.

Sie konsumieren Marihuana, Haschisch und Kokain und vernetzen sich mit Dealern aus dem Balkan. Bald steigen sie ins Geschäft ein, um ihren Konsum zu finanzieren. «Wir kauften zum Beispiel 12 Gramm Kokain, verwendeten 2 Gramm für uns und streckten den Rest mit Milchzucker und verkauften ihn weiter», sagt Dusan J. Später arbeiten sie sich in der Hierarchie hoch und werden zu einem Teil des Balkankartells, einer der mächtigsten kriminellen Organisationen.

Der tödliche Deal beginnt mit einem Kontakt in Haft

In den späten 1990er-Jahren sitzt Zlatko V. wegen kleinerer Delikte eine Freiheitsstrafe ab. Aus dem Gefängnis telefoniert er regelmässig mit seinem «Blutsbruder» und bereitet die nächsten Geschäfte vor. Dabei erzählt er ihm, er habe einen neuen Abnehmer kennengelernt: einen Kokaindealer, der eine wohlhabende Klientel bediene.

Diesem will er im Oktober 2000 die erste Lieferung verkaufen. «Wir hatten die ‹Firma› damals aber geschlossen und waren im ‹Ruhestand›», berichtet Dusan J. Die «Firma» ist ihre Filiale des Balkankartells. Sie sehen sich als Geschäftsmänner. «Ruhestand», sagen sie, wenn sie in die Ferien jetten. Dusan J. reist nach Dubai und sagt seinem Freund, er solle mit dem Deal warten, bis alle zurück seien. Doch Zlatko V. zieht ihn trotzdem durch.

Am 4. Oktober 2000 fährt er in einem rot-schwarzen Smart Cabriolet zum Parkplatz vor der St. Jakobshalle in Münchenstein. In einem Rucksack hat er zwei Kilogramm Kokain dabei. Beim Kiosk trifft er Leo P., den neuen Dealer. Er ist Schweizer, Jahrgang 1965.

Sie gehen zurück zum Smart und steigen ein. Leo P. übergibt ein Couvert, in dem 130’000 Franken sein sollten. Doch es sind nur Papierstreifen – ausgeschnitten aus der aktuellen Ausgabe des «Focus». Als Zlatko V. das Couvert öffnet, zieht Leo P. seine Pistole und schiesst ihm in die rechte Schläfe. Leo P. packt den Rucksack und läuft davon. Zlatko stirbt danach im Spital.

So schildert die Staatsanwaltschaft die Tat in der Anklageschrift. Der Beschuldigte habe sie geplant, um sich zu bereichern.

Welche Taten wann verjähren
Die Höchststrafe einer Straftat bestimmt in der Regel, wann die Strafverfolgung verjährt. Massgebend ist die Zeit zwischen Tat und erstinstanzlichem Urteil. Die wichtigsten Beispiele.
– Unverjährbar: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen.
– Nach 30 Jahren: Mord.
– Nach 15 Jahren: Vorsätzliche Tötung, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung, Diebstahl, Raub, Betrug, Erpressung.
– Nach 10 Jahren: Fahrlässige Tötung, einfache Körperverletzung, Drohung, Nötigung.
– Nach 7 Jahren: Tätlichkeit, Sozialhilfebetrug, einfache Sachbeschädigung.
– Nach 4 Jahren: Ehrverletzungen.

Leo P. erzählt in Einvernahmen eine andere Version. Es sei ein Unfall gewesen. Der Schuss habe sich aus Versehen aus seiner Pistole gelöst. Er gesteht ein Tötungsdelikt, das längst verjährt ist. Die Staatsanwaltschaft kann ihn nur noch wegen Mordes anklagen. Bei einem Besuch im Untersuchungsgefängnis in Muttenz sagte Leo P. dieser Zeitung im vergangenen Jahr: «Es war kein Mord.» Es gilt die Unschuldsvermutung.

Am Montag beginnt der Prozess gegen ihn. Das Strafgericht Baselland wird beurteilen, ob es ein Mord war, ob der Zweck der Tat als besonders verwerflich zu werten ist. Zwischen der Tat und dem Prozess liegt ein Vierteljahrhundert, obwohl die Ermittlungen noch in der Tatnacht mit guten Hinweisen begannen.

Rückblende: Zwei Gangmitglieder, die als Läufer tätig sind, verfolgen den Kokaindeal aus der Distanz und alarmieren nach der Schussabgabe die Polizei. Sie sind ein Liebespaar, das nach dem Todesfall aus der Szene aussteigt und gegen die Bande vor Gericht aussagt.

Die Frau zeichnet ein Phantombild des Täters, das die Polizei in den Zeitungen veröffentlichen lässt. Es ist ziemlich treffsicher, wie sich später zeigen wird. Doch der Fahndungsaufruf und eine Belohnung von 5000 Franken führen zu keinen brauchbaren Hinweisen.

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Das Phantombild von Leo P. und die Umstände der Tat in einer künstlerischen Umsetzung.Bild: Olivier Marx

Die Frau nennt der Polizei die Namen aller Gangmitglieder. Spezialeinheiten verhaften diese bald darauf. Dusan J. erzählt: «12 Polizisten rissen mich um etwa 5 Uhr morgens aus dem Schlaf und stülpten mir einen Sack über den Kopf.» In den Einvernahmen spielt er den Ahnungslosen und gibt keine Auskunft. Nach einem halben Jahr kommt er wieder frei. Die Polizei hat nur die Aussagen des Aussteigerpaares gegen ihn in der Hand, aber sie stellt kein Gramm Kokain und keinen Rappen Drogengeld sicher.

Auch die Spur zum Täter ist dünn. Die Ermittler stellen zwar einen Fingerabdruck sicher, aber im System führt dieser zu keinem Treffer. Die Staatsanwaltschaft lässt sich von der Herausgeberin des «Focus» eine Adressliste mit allen Abonnenten in der Nordwestschweiz ausstellen. Doch die Ermittlungen unter dem Codenamen «Smart» verlaufen ergebnislos. Die Staatsanwaltschaft gibt die Suche vorübergehend auf.

Mitten im Verfahren schlägt ein Gangster in Dubai zu

Nach neun Jahren klagt sie allerdings die verbliebenen Bandenmitglieder an. In einem Indizienprozess verhängt das Strafgericht hohe Freiheitsstrafen. Dusan J. erhält mit über zehn Jahren die höchste. Er und die anderen Verurteilten profitieren gleichzeitig von hohen Strafrabatten, weil die Justiz das Verfahren verschleppt hat. So müssen sie am Schluss nur einen kleinen Teil absitzen.

Mindestens zwei Bandenmitglieder lassen sich davon nicht beeindrucken und machen eine steile Karriere im Balkankartell, wie Recherchen zeigen. Einer wird zum Anführer der berüchtigten Pink-Panther-Gruppe und begeht 2007 in Dubai einen spektakulären Diamantenraub. Er soll für 380 bewaffnete Raubüberfälle verantwortlich sein. Beutesumme: 330 Millionen Euro.

Später gehört er zur höchsten Führungsebene der Balkanmafia. Die Polizeibehörde Europol und die serbische Staatsanwaltschaft verhaften ihn erst im Mai 2023 in Serbien und bezeichnen ihn dabei als einen der grössten Drogenbosse des Balkans. Die Bande soll für Lieferungen von mindestens sieben Tonnen Kokain aus Südamerika nach Europa verantwortlich sein. Auf einem von Europol veröffentlichten Verhaftungsvideo sind auch Schweizer Banknoten zu sehen.

Im gleichen Jahr gelingt der Baselbieter Polizei endlich der Durchbruch. Sie gleicht alle Fingerabdrücke aus ungelösten Fällen erneut ab. Die Algorithmen können Fingerabdrücke, die nur teilweise erfasst sind, inzwischen besser auswerten. Jetzt führt die alte Spur zu Leo P. Die Staatsanwaltschaft lässt ihn 2023 mit einem internationalen Haftbefehl in Deutschland festnehmen.

Die gleiche Staatsanwältin, die am Anfang ihrer Karriere im Jahr 2000 die «Aktion Smart» lanciert hat, führt diese nun 25 Jahre später vor Gericht zu Ende.

Für eine Zeugeneinvernahme bietet sie Dusan J. erneut auf. Zum ersten Mal spricht er offen. Denn inzwischen hat er nichts mehr zu befürchten. Er ist aus der organisierten Kriminalität ausgestiegen und muss nur noch eine Reststrafe absitzen. Früher schwieg er, um sich und seine Komplizen zu schützen. Jetzt kooperiert er mit der Justiz, damit der Tod seines «Bruders» sauber aufgearbeitet wird. Er fühlt sich durch den Schwur dazu verpflichtet. Heute schämt er sich für seine Vergangenheit: «Ich bin wütend auf mich und fühle mich schmutzig. Es tut mir leid, was wir getan haben.»

Die Justiz warnt vor Racheaktionen der Mafia

Das Balkankartell ist bis heute aktiv. Deshalb behandelt die Justiz den Fall mit hohen Sicherheitsvorkehrungen. Vor einem Jahr führte die Staatsanwaltschaft Leo P. an den Tatort, um die Tat zu rekonstruieren. Dabei bot sie Spezialkräfte auf, um ihn vor Racheaktionen zu schützen. Das geht aus einem Zwischenentscheid des Baselbieter Kantonsgerichts hervor.

Dieses beschreibt das Milieu als «hochkriminell, professionell und gewaltbereit». Deshalb lässt es die Adresse von Leo P. in den Unterlagen schwärzen, die Zlatkos Mutter erhält. Sie verlangt eine Genugtuung von 15’000 Franken plus 5 Prozent Zins. Nach 25 Jahren beträgt die Summe 50’000 Franken.

Die Frau, die vor 25 Jahren gegen das Kartell ausgesagt hat, wurde danach bedroht. In aktuellen Befragungen sagt sie aus, sie lebe bis heute in Angst vor Vergeltungsaktionen.

Ein Justizvollzugsbeamter macht sich an der Tür bemerkbar. Die Gesprächszeit ist um. Letzte Frage: Was sagt Dusan J. zur Bedrohungslage? «Ich hoffe, dass das Gericht für Gerechtigkeit sorgen wird», sagt er nur und kehrt zurück in seine Zelle. (aargauerzeitung.ch)

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29 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Müller Lukas
21.07.2025 07:53registriert August 2020
Naja, in diesem Milieu gibt es letztlich nur Schuldige und Schuldige.
Mein Mitleid hält sich daher extrem in Grenzen...
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Jorge de los alpes
21.07.2025 07:15registriert April 2014
Somit Kapitulation des Schweizer Rechtssystems vor den kriminellen Syndikaten....
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