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Russland-Expertin Anne Applebaum: «Schweiz sollte der Nato beitreten»

Russland-Expertin Anne Applebaum: «Die Schweiz sollte der Nato beitreten»

Sie warnte vor Wladimir Putin, lange bevor die Drohnen Europa erreichten: Die Historikerin fordert Europa auf, die Bedrohung für Freiheit und Souveränität endlich ernst zu nehmen – und sagt, was jetzt auf dem Spiel steht.
14.09.2025, 19:5714.09.2025, 21:00
Stefan Brändle / ch media
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Anne Applebaum
Im aktuellen Ranking der politischen Intellektuellen würde die 60-jährige Historikerin wohl einen Podestplatz einnehmen. Für ihre Arbeiten wurde die Amerikanerin, die mit dem polnischen Aussenminister Radosław Sikorski verheiratet ist, mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
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Bild: keystone

Frau Applebaum, erreicht der Krieg in der Ukraine mit dem Drohnen-Angriff auf Polen eine neue Eskalationsstufe?
Anne Applebaum: Ja, es gibt eine massive Eskalation. Wladimir Putin ist unfähig, den Krieg am Boden zu gewinnen. Er verliert tausende von Soldaten, Milliarden für Ausrüstung. Er beschleunigt deshalb den Luftkrieg gegen zivile Ziele in der Ukraine, um die Moral der Ukrainer zu brechen. Und er will die Nato provozieren, um zu testen, ob sie bereit und in der Lage ist, ihre territoriale Souveränität zu verteidigen. Wie immer will er auch das westliche Verteidigungsbündnis spalten.

An einem Ende des Krieges scheint Putin nicht gelegen.
Putin ist überhaupt nicht interessiert, den Krieg zu beenden. Er will nicht einmal einen Waffenstillstand. US-Präsident Donald Trump brauchte sechs Monate, um das zu merken. Auch die Bemühungen der Europäer um «Sicherheitsgarantien» beruhen auf der blossen Fiktion, dass Russland einen Waffenstillstand eingehen könnte. Putin beschleunigt im Gegenteil seine Attacken bis nach Europa. Erinnern wir uns, dass Russen in den letzten Jahren Menschen in Deutschland, Spanien und Grossbritannien umgebracht haben; sie verüben Sabotageakte, verursachen Zwischenfälle in London, Tschechien und Estland, und lancieren Desinformationskampagnen.

«Russland hat eine Kriegswirtschaft, in der alles darauf ausgerichtet ist, Waffen zu produzieren – nicht, die Bevölkerung zu ernähren.»

Beschleunigt Putin auch, weil seine Wirtschaft zunehmend schwächelt?
Ja, das dürfte mit ein Grund sein. Russland hat eine Kriegswirtschaft, in der alles darauf ausgerichtet ist, Waffen zu produzieren – nicht, die Bevölkerung zu ernähren. So war es schon unter dem Sowjetregime. Die Öl-Einnahmen sprudeln zwar weiter, doch die hohe Inflation macht den Russen zu schaffen. Ausserdem sterben viele russische Soldaten in der Ukraine, weshalb der Wirtschaft Arbeitskräfte fehlen. Die ukrainischen Drohnen-Attacken auf 20 Prozent der russischen Raffinerien trafen die Wirtschaft ebenfalls empfindlich.

Könnte es Putin gelingen, den Widerstandswillen der Ukrainer zu brechen?
Nein. Auch wenn man in Westeuropa Mühe hat, das zu verstehen: Die Ukrainer haben gar keine Wahl. Wenn sie aufhören zu kämpfen, werden sie erobert, und dann sterben oder leiden sie trotzdem. In den jetzt schon besetzten Gebieten der Ukraine verhalten sich die Russen wie die deutschen Nazis im Zweiten Weltkrieg in Polen: Sie haben ein Terrorregime errichtet, mit Massenverhaftungen, Konzentrationslagern, Folterungen. Sie haben die ukrainische Kultur und deren Institutionen zerstört, so wie es die Sowjets in ihren Satellitenstaaten vorgemacht hatten. Das würde in der ganzen Ukraine geschehen, falls Putin den Krieg gewinnt. Das wäre für sie schlimmer als der aktuelle Krieg. Die Ukrainer haben deshalb gar keine Wahl, als zu kämpfen.

Stehen die Russen hinter Putins Kurs?
Die Russen sind apathisch. Sie sind nicht für und nicht gegen den Krieg, wenn man auf die neuesten Umfragen abstellt. Begeisterung dafür herrscht nirgends, obwohl die Propaganda gegen die Ukraine und Europa am Fernsehen und anderswo sehr aggressiv geworden ist. Ob ihr die Leute glauben, ist schwer zu sagen.

«Putin benutzt [deutsche] Parteien wie Werkzeuge für seine eigene Politik. Natürlich vor allem die AfD, aber auch andere.»

Wie weit ist Putin bereit zu gehen?
Putin wird älter, er ist 72 und laut Gerüchten krank. Er will noch zu Lebzeiten die Ausdehnung des sowjetischen Imperiums wiederherstellen. Das sollte gerade dem deutschen Publikum zu denken geben. So schwer uns die Vorstellung fällt, zählt Putin zu diesem Imperium auch Berlin und Deutschland, wo er selbst als sowjetischer Apparatschik und Agent gearbeitet hatte.

Trotzdem gibt es deutsche Parteien und Politiker, die zu dem Angreifer Putin stehen. Warum?
Weil sie naiv sind, sehr naiv. Putin benutzt diese Parteien wie Werkzeuge für seine eigene Politik. Natürlich vor allem die AfD, aber auch andere.

Wie schätzen Sie die Haltung von Kanzler Friedrich Merz ein?
Merz spricht eine klare Sprache, und er ist sich der schwierigen Lage bewusst. Deutschland schickt Waffen in die Ukraine, dazu auch Wirtschaftshilfe, und spielt in der EU und der Koalition der Willigen eine wichtige Rolle für die Ukraine. Insofern gibt es keinen Grund, sich über Deutschland zu beklagen.

«Die Europäer müssen ihr Bild von den USA revidieren.»

Erstaunt es Sie, wie sehr US-Präsident Donald Trump von Putin fasziniert ist?
Das ist seit Jahrzehnten so. Seit Trumps erster Amtszeit wogt die Debatte über die russische Unterstützung für ihn.

Könnte die Theorie amerikanischer Buchautoren zutreffen, wonach Putin Trump wegen Videoaufnahmen in einem Moskauer Hotel in der Hand hat?
Ich halte nicht viel von dieser unbelegbaren Theorie. Sehr genau dokumentiert ist hingegen, dass die Trumps seit 1988 mit den Russen sehr enge Geschäftsbeziehungen im Immobilienbereich pflegten.

Viele Europäer sind verstört, weil das Bild der «guten» Amerikaner, die uns vor den Nazis und im Kalten Krieg vor den «bösen» Sowjets beschützt hatten, nicht mehr zu stimmen scheint. Mit Recht?
Die Sorge ist verständlich. Die Europäer müssen ihr Bild von den USA revidieren. Wir wissen zwar nicht, wer die Vereinigten Staaten in Zukunft führen wird, aber generell ist klar: Die amerikanische Freundschaft zu Europa ist nicht mehr automatisch. Das heisst nicht, dass sie zu Ende ist. Aber die automatische, selbstverständliche Hilfe der USA für die Europäer, das ist vorbei.

Könnte nach vier Jahren Albtraum mit Trump alles wieder gut werden zwischen Nato-Verbündeten?
Ich fürchte, diese Trennung wird Trump überdauern. Der Teil der Republikanischen Partei, der in Washington derzeit das Sagen hat, wird immer noch da sein. Und auch ihre antieuropäischen, antideutschen, antibritischen Reflexe.

Trump behauptete unlängst, die Amerikaner wollten einen Diktator. Hat das was?
Das war eine typische Erfindung Trumps, für die es keine Basis gibt. Trump lügt ständig, er sagt verrückte Dinge. Das darf man nicht zu ernst nehmen.

«All diese Autokratien arbeiten eng zusammen, inklusive Nordkorea und Venezuela.»

Unsere Demokratien sind aber bedroht – von aussen durch aggressive Autokraten, im Innern durch Populisten aller Art.
Ja, und sie fordern die Institutionen und Ideale unserer bestandenen Demokratien heraus. Diktaturen wie Russland, China oder Iran gehen methodisch gegen Demokratien vor, weil diese ihre eigenen Regime infrage stellen. All diese Autokratien arbeiten eng zusammen, inklusive Nordkorea und Venezuela.

Was muss Europa tun?
Zuerst einmal einsehen, dass die bisherige Weltordnung keine Sicherheit mehr bietet, dass alles so bleibt, wie es seit 1945 und 1989 war. Wenn wir den europäischen Wohlstand und unsere Demokratien bewahren wollen, müssen wir enorme Anstrengungen eingehen. Es braucht Reformen, Veränderungen, viel Energie, politische Kampagnen und eine bessere militärische Verteidigung. Diesbezüglich stehen wir erst am Anfang.

«Wollen Sie, dass die Schweiz souverän bleibt, oder nicht?»

Sind die Europäer bereit dazu? Ist ihnen auch nur klar, dass Putin neben dem Krieg in der Ukraine einen hybriden Krieg (Propaganda, Desinformation, Hackerangriffe) gegen Europa führt?
Es ist eben unangenehm, eine Gefahr zu erkennen. Damit wollen sich die Leute nicht abgeben.

Denken Sie, dass die Europäer ihre Militäretats auf fünf Prozent der Wirtschaftsleistung erhöhen sollten, wie Trump sagte?
Kommt drauf an. Wollen Sie, dass die Schweiz souverän bleibt, oder nicht? Wenn sie souverän bleiben soll, nicht von Russland bedroht oder beherrscht, ja, dann ist eine solche Anstrengung unumgänglich.

Denken Sie mit Blick auf die Vorgänge in Russland, China, derzeit auch den USA, dass der Krieg in der Ukraine eine neue, imperiale Epoche einläutet?
Das werden wir sehen. Klar ist schon jetzt: Wenn wir die imperialistische Idee überwinden und das Ideal der Demokratie hochhalten wollen, müssen wir in Zukunft dafür kämpfen. Von selbst wird unser Konzept von Frieden und Demokratie keinen Bestand haben.

Hatte Emmanuel Macron in dem Fall recht, wenn er sagte, dass wir auch über die Entsendung von Truppen in die Ukraine nachdenken müssen?
Das ist keine schlechte Idee, nur gibt es ein Problem: Diese Friedenstruppen sind erst nach einem Waffenstillstand geplant, und Putin hat noch nie erklärt, er sei zum Frieden oder auch nur zu einer Waffenruhe bereit. Jede Entsendung europäischer Sicherungstruppen bleibt damit völlig theoretisch. Wir sollten uns eher fragen, wie wir den Ukrainern gegenwärtig helfen können.

In Paris hört man den Vorwurf, Macron wolle uns «in den Krieg ziehen».
Auch Frankreich muss sich fragen, wie lange es noch ein unabhängiges Land bleiben will, wie lange die EU noch existieren soll. Der Krieg in der Ukraine bedroht unseren Wohlstand und Frieden. Wer nicht bereit ist, diese Errungenschaften zu verteidigen, droht, sie zu verlieren.

«Wenn die Schweizer wohlhabend bleiben und ihr Wirtschaftsmodell wahren wollen, müssen sie sehr gründlich nachdenken, auf welcher Seite sie stehen.»

Wie sollten sich neutrale Kleinstaaten wie Österreich oder die Schweiz verhalten?
Ich habe es in Österreich und auch schon in der Schweiz gesagt, obschon ich weiss, dass man es dort nicht gerne hört: Ich denke, die Schweiz und Österreich sollten der Nato beitreten.

Was Sie soeben über den Wohlstand gesagt haben, gilt das auch für die Schweiz?
Durchaus. Wenn die Schweizer wohlhabend bleiben und ihr Wirtschaftsmodell wahren wollen, müssen sie sehr gründlich nachdenken, auf welcher Seite sie stehen. Die Schweiz hat sich in der Vergangenheit immer wieder als Ort der Geldwäsche für Russen angeboten. Auf diese Weise macht sich Putin das westliche Finanzsystem zunutze. Und das schadet letztlich der Schweiz.

Letzte Frage: Ihr jüngstes Buch, «Die Achse der Autokraten», widmen Sie in diesen trüben Zeiten den «Optimisten». Wen meinen Sie?
Viele Leute leben in den Autokratien unter äusserst schlimmen Bedingungen. Ich kenne iranische, russische, chinesische Dissidenten. Sie müssen sich verstecken oder ins Exil gehen – und kämpfen trotzdem weiterhin für die Ideale, an die sie und wir glauben. Wenn sich diese Leute für ihre Ideale einsetzen, sollte uns das doch auch gelingen! (aargauerzeitung.ch)

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129 Kommentare
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Waterloo
14.09.2025 20:44registriert September 2022
Trump und Putin verfolgen mittlerweile eine offensichtliche verlogene Strategie: keiner von beiden will dem anderen Schaden zufügen. Trump verrät die Westeuropäer, darf dies aber nicht offensichtlich zeigen. Für wie dumm hält er eigentlich die vernünftigen Europäer? Man weiss mittlerweile, dass auf dramatisch wirkende Drohungen gegen Putin keine Taten folgen. Er stellt unrealistische Forderungen an die Westeuropäer, um seine Drohungen erst dann umzusetzen, wenn diese erfüllt sind, was illusorisch ist. Es ist höchste Zeit, dass Westeuropa mündig wird und die Zügel selbst in die Hand nimmt.
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Das Kommentariat
14.09.2025 20:23registriert April 2025
Die "neutrale" Durchwurstelei der Schweiz stösst langsam aber sicher ans Limit. Nato-Beitritt und enge Anbindung an die EU sind das Gebot der Stunde.
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Gina3
14.09.2025 20:35registriert September 2023
“Trotzdem gibt es deutsche Parteien und Politiker, die zu dem Angreifer Putin stehen. Warum?”
➡️ Weil sie naiv sind, sehr naiv. Putin benutzt diese Parteien wie Werkzeuge für seine eigene Politik. Natürlich vor allem die AfD, aber auch andere.

Voilá: opportunistisch, machtsüchtig, gierig, heuchlerisch und obendrauf völlig naiv.
Beschreibt sehr gut AfD/ svp/ WeWo/ blocherianer/ …
Das Beste daran ist, dass sie sich selbst für sehr clever halten, die putin-Versteher, die nur Trolle in der Hand Putins sind.
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