Anne Applebaum. Preisgekrönte Historikerin, Journalistin und Bestseller-Autorin. Die gebürtige US-Amerikanerin wurde im Juli 60, sie lebt mehrheitlich in Polen, der Heimat ihres Mannes, er ist dort Aussenminister.
Und sie besitzt seit vielen Jahren auch die polnische Staatsbürgerschaft und sagt, sie fühle sich in politischen Fragen wie dem Ukraine-Krieg als Europäerin.
Damit sind wir beim Thema.
Applebaum hat kürzlich bei der US-Zeitschrift «The Atlantic» einen lesenswerten Meinungsbeitrag veröffentlicht. Dessen Titel lautet: «Nur so kann der Ukraine-Krieg beendet werden» (siehe Quellen).
watson fasst die wichtigsten Erkenntnisse und treffendsten Begründungen der Historikerin zusammen.
Anne Applebaum hat die Ukraine wiederholt besucht und bereist. Sie war dort nach der russischen Besetzung der Halbinsel Krim, und auch nachdem das osteuropäische Land 2022 von Putin offiziell überfallen wurde.
Tatsächlich sei der Siegeswille der Ukrainerinnen und Ukrainer ungebrochen, erklärt die Historikerin. Sie führt mehrere Gründe ins Feld, die mit der erfolgreichen asymmetrischen Kriegsführung zusammenhingen.
Die Ukraine, ein Land ohne grosse Marine, habe die russische Schwarzmeerflotte dank Innovationskraft besiegt. Die besten Ingenieure seien rund um die Uhr damit beschäftigt, unbemannte Schiffe, sogenannte Seedrohnen, zu entwickeln und zu testen.
Das Talent der Ukraine für asymmetrische Kriegsführung sei nicht auf das Element Wasser beschränkt. Applebaum berichtet, dass sie während «einer kürzlichen Reise» in der Ukraine ein geheimes Entwicklungsteam besuchen konnte. Dort werde daran gearbeitet, den Verlauf des Krieges entscheidend zu verändern.
In dem Zusammenhang verweist die Historikerin auf ein Phänomen, das als zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten der Verteidigung der Ukraine beschrieben werden kann. Applebaum schreibt von einer «Grassroots»-Bewegung. Viele Männer und Frauen engagierten sich in militärischen als auch zivilen Projekten, etwa bei der Entwicklung neuer Technologien.
Das Besondere daran: Der Austausch und die Koordination mit anderen Gruppen erfolge direkt, die Verantwortlichen operierten nicht über die offizielle Befehlskette der Armee.
Dies fördere die Effizienz und Widerstandsfähigkeit. Und Russland werde nie in der Lage sein, «das Entscheidungszentrum der Ukraine» zu zerstören, weil dieses Zentrum gar nicht alle Entscheidungen treffe.
Es sei ihr bewusst, dass sich ihr Bericht über die ukrainischen Kriegsanstrengungen dramatisch «von anderen, düstereren Geschichten» unterscheide, hält Applebaum fest. Sie konstatiert:
Deshalb benötige die Ukraine eine noch grössere militärische Unterstützung durch den Westen.
Anne Applebaum warnt:
Was Verantwortungsträger im Westen, allen voran US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz, aber auch der Bundesrat in der neutralen Schweiz, nicht aussprechen: Sollte die Ukraine den Krieg endgültig verlieren, steigen die Kosten – militärisch, wirtschaftlich und politisch – für die USA und ihre Verbündeten in Europa wahrscheinlich immens an.
Die Historikerin erklärt:
Sie bezweifle stark, dass Deutschland und Frankreich, ganz zu schweigen von Polen, auf die Folgen einer gescheiterten Ukraine, auf einen Zusammenbruch des ukrainischen Staates, auf Gesetzlosigkeit oder die Herrschaft der russischen Mafia an der östlichen Schwelle der Europäischen Union sowie die daraus resultierende Gewalt und Kriminalität vorbereitet sind.
Anne Applebaum erklärt, mittlerweile seien rote Linien nur noch in unseren Köpfen vorhanden. Denn jede einzelne davon sei bereits überschritten worden.
Russland nahm alles hin. Die von Kreml-Vertretern angedrohten (nuklearen) Konsequenzen traten nicht ein. Doch die Einschüchterungsversuche schienen hierzulande zu fruchten. Und wirkten sich auf die Militärhilfe aus.
Dass die imaginären roten Linien eine schnelle Lieferung und Freigabe wichtiger Waffensysteme verhinderten, sei aber gar nicht das grösste Problem, betont Applebaum. Die Ukraine könne die russischen Invasoren nicht mit einzelnen Wunderwaffen vertreiben. Aber:
Statt sich auf einen Sieg zu konzentrieren, träumten viele Amerikaner und Europäer weiterhin von einer magischen «Verhandlungslösung». Dabei sei das eigentliche Hindernis für Verhandlungen nicht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, sondern vielmehr Putin.
Es seien die Russen, die davon überzeugt werden müssen, die Kämpfe einzustellen, so die Historikerin. Der Krieg werde erst enden, wenn den Russen die Ressourcen ausgehen – und ihre Ressourcen seien nicht unendlich – oder wenn sie begreifen, dass die Allianzen mit der Ukraine echt seien. Die Ukraine werde nicht kapitulieren und Russland könne nicht gewinnen.
Je schneller das die Verantwortungsträger im Westen einsehen, desto besser für alle.
Doch der Teufel sitzt wieder mal in Details. Wie dem Wörtchen "wir".
Wer sind "wir" denn? Offenbar sympathisieren im Westen ein Drittel bis die Hälfte der Menschen mit Putins Regime!
"Wir" schauen gebannt über den Atlantik, wo Trump gute Chancen hat, am 5. November erneut als Präsident der USA gewählt zu werden.
Trump spricht auch vom "Kampf gegen den inneren Feind". Ich schätze, das wären dann wohl "wir"...