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Anne Applebaum: Wie der Ukraine-Krieg beendet werden kann

2021 EL MUNDO International Awards of Journalism to Anne Applebaum at the Prado Museum in Madrid.
Anne Applebaum, 2021, im Museo del Prado in Madrid.Bild: imago-images.de

Sie erklärt, warum der Ukraine-Krieg nur auf einem Weg beendet werden kann

Anne Applebaum legt in einem Essay dar, wie der demokratische Westen auf die wachsende Gefahr durch Russland reagieren sollte. Und sie warnt vor immensen Kosten.
15.10.2024, 04:4517.10.2024, 08:10
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«Wir müssen diesen Krieg gewinnen.»

Anne Applebaum. Preisgekrönte Historikerin, Journalistin und Bestseller-Autorin. Die gebürtige US-Amerikanerin wurde im Juli 60, sie lebt mehrheitlich in Polen, der Heimat ihres Mannes, er ist dort Aussenminister.

Und sie besitzt seit vielen Jahren auch die polnische Staatsbürgerschaft und sagt, sie fühle sich in politischen Fragen wie dem Ukraine-Krieg als Europäerin.

Damit sind wir beim Thema.

Applebaum hat kürzlich bei der US-Zeitschrift «The Atlantic» einen lesenswerten Meinungsbeitrag veröffentlicht. Dessen Titel lautet: «Nur so kann der Ukraine-Krieg beendet werden» (siehe Quellen).

watson fasst die wichtigsten Erkenntnisse und treffendsten Begründungen der Historikerin zusammen.

Wie die Ukraine Russland besiegen kann

Anne Applebaum hat die Ukraine wiederholt besucht und bereist. Sie war dort nach der russischen Besetzung der Halbinsel Krim, und auch nachdem das osteuropäische Land 2022 von Putin offiziell überfallen wurde.

Anne Applebaum Teaserbild
Anne Applebaum verfügt über vielfältige Kontakte im kriegsgeplagten Land.Bild: watson

Tatsächlich sei der Siegeswille der Ukrainerinnen und Ukrainer ungebrochen, erklärt die Historikerin. Sie führt mehrere Gründe ins Feld, die mit der erfolgreichen asymmetrischen Kriegsführung zusammenhingen.

Die Ukraine, ein Land ohne grosse Marine, habe die russische Schwarzmeerflotte dank Innovationskraft besiegt. Die besten Ingenieure seien rund um die Uhr damit beschäftigt, unbemannte Schiffe, sogenannte Seedrohnen, zu entwickeln und zu testen.

«Vollgepackt mit Sprengstoff und gesteuert von der modernsten Fernnavigations-Technologie der Welt, könnten diese neuen Waffen sogar die Art und Weise verändern, wie künftig alle Seekriege geführt werden.»

Das Talent der Ukraine für asymmetrische Kriegsführung sei nicht auf das Element Wasser beschränkt. Applebaum berichtet, dass sie während «einer kürzlichen Reise» in der Ukraine ein geheimes Entwicklungsteam besuchen konnte. Dort werde daran gearbeitet, den Verlauf des Krieges entscheidend zu verändern.

«In dieser speziellen Einrichtung gab es keine Maschinen, keine Motoren und keine Sprengköpfe, nur einen Raum voller Bildschirme. Die Männer und Frauen, die an den Bildschirmen sassen, waren wie Zivilisten gekleidet, aber in Wirklichkeit waren sie Soldaten, Mitglieder einer Spezialeinheit der Armee, die geschaffen wurde, um experimentelle Kommunikationstechnologie in Kombination mit experimentellen Drohnen einzusetzen. Beide werden von Ukrainern für die Ukraine entwickelt.»

In dem Zusammenhang verweist die Historikerin auf ein Phänomen, das als zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten der Verteidigung der Ukraine beschrieben werden kann. Applebaum schreibt von einer «Grassroots»-Bewegung. Viele Männer und Frauen engagierten sich in militärischen als auch zivilen Projekten, etwa bei der Entwicklung neuer Technologien.

Das Besondere daran: Der Austausch und die Koordination mit anderen Gruppen erfolge direkt, die Verantwortlichen operierten nicht über die offizielle Befehlskette der Armee.

Dies fördere die Effizienz und Widerstandsfähigkeit. Und Russland werde nie in der Lage sein, «das Entscheidungszentrum der Ukraine» zu zerstören, weil dieses Zentrum gar nicht alle Entscheidungen treffe.

Es sei ihr bewusst, dass sich ihr Bericht über die ukrainischen Kriegsanstrengungen dramatisch «von anderen, düstereren Geschichten» unterscheide, hält Applebaum fest. Sie konstatiert:

«Der russische Präsident ist bereit, hohe Verluste an Menschenleben und Ausrüstung zu akzeptieren, wie sie kaum ein anderes Land hinnehmen würde. Und doch glauben die Ukrainer immer noch, dass sie gewinnen können – wenn ihre amerikanischen und europäischen Verbündeten es ihnen nur erlauben würden.»

Deshalb benötige die Ukraine eine noch grössere militärische Unterstützung durch den Westen.

«Die demokratische Welt ist wohlhabender und dynamischer als die autokratische Welt. Damit das so bleibt, müssen die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten Russland davon überzeugen, den Kampf einzustellen. Wir müssen den Krieg gewinnen.»

Wieso uns ein russischer Sieg teuer zu stehen käme

Anne Applebaum warnt:

«Die wiederholten Angriffe auf Zivilisten sind kein Zufall; sie sind eine Taktik. Der russische Präsident Wladimir Putin versucht, den Ukrainern Wärme und Licht zu entziehen, das Volk ebenso wie die Regierung zu demoralisieren und vielleicht einen neuen Flüchtlingsexodus zu provozieren, der die europäische Politik durcheinanderbringen wird.»

Was Verantwortungsträger im Westen, allen voran US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz, aber auch der Bundesrat in der neutralen Schweiz, nicht aussprechen: Sollte die Ukraine den Krieg endgültig verlieren, steigen die Kosten – militärisch, wirtschaftlich und politisch – für die USA und ihre Verbündeten in Europa wahrscheinlich immens an.

Die Historikerin erklärt:

«Wenn es nicht gelingt, Russland zu besiegen, wird dies nicht nur in Europa, sondern auch im Nahen Osten und in Asien zu spüren sein.

Es wird in Venezuela zu spüren sein, wo Putins aggressiver Trotz sicherlich dazu beigetragen hat, dass sein Verbündeter Nicolás Maduro trotz einer erdrutschartigen Wahlniederlage an der Macht bleibt.

Es wird sich in Afrika bemerkbar machen, wo russische Söldner jetzt eine Reihe von hässlichen Regimes unterstützen.

Und natürlich werden auch die Nachbarn der Ukraine dieses Versagen zu spüren bekommen.»

Sie bezweifle stark, dass Deutschland und Frankreich, ganz zu schweigen von Polen, auf die Folgen einer gescheiterten Ukraine, auf einen Zusammenbruch des ukrainischen Staates, auf Gesetzlosigkeit oder die Herrschaft der russischen Mafia an der östlichen Schwelle der Europäischen Union sowie die daraus resultierende Gewalt und Kriminalität vorbereitet sind.

Das grosse Problem hinter Putins roten Linien

Anne Applebaum erklärt, mittlerweile seien rote Linien nur noch in unseren Köpfen vorhanden. Denn jede einzelne davon sei bereits überschritten worden.

  • Mit Drohnen greife die Ukraine Ziele tief im Inneren Russlands an, darunter Ölraffinerien, Anlagen zum Öl- und Gasexport und Luftwaffenstützpunkte.
  • Ukrainische Langstreckendrohnen hätten bereits mehrere grosse Munitionsdepots getroffen.
  • Die Ukraine halte seit August in der Region Kursk ein Stück russischen Territoriums besetzt.

Russland nahm alles hin. Die von Kreml-Vertretern angedrohten (nuklearen) Konsequenzen traten nicht ein. Doch die Einschüchterungsversuche schienen hierzulande zu fruchten. Und wirkten sich auf die Militärhilfe aus.

Dass die imaginären roten Linien eine schnelle Lieferung und Freigabe wichtiger Waffensysteme verhinderten, sei aber gar nicht das grösste Problem, betont Applebaum. Die Ukraine könne die russischen Invasoren nicht mit einzelnen Wunderwaffen vertreiben. Aber:

«Seit Beginn dieses Krieges konnten wir uns nicht vorstellen, dass die Ukrainer Russland besiegen könnten, und deshalb haben wir nicht versucht, denen zu helfen, die genau das versuchen.»

Statt sich auf einen Sieg zu konzentrieren, träumten viele Amerikaner und Europäer weiterhin von einer magischen «Verhandlungslösung». Dabei sei das eigentliche Hindernis für Verhandlungen nicht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, sondern vielmehr Putin.

Es seien die Russen, die davon überzeugt werden müssen, die Kämpfe einzustellen, so die Historikerin. Der Krieg werde erst enden, wenn den Russen die Ressourcen ausgehen – und ihre Ressourcen seien nicht unendlich – oder wenn sie begreifen, dass die Allianzen mit der Ukraine echt seien. Die Ukraine werde nicht kapitulieren und Russland könne nicht gewinnen.

Je schneller das die Verantwortungsträger im Westen einsehen, desto besser für alle.

Quellen

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169 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Celtic Frost
15.10.2024 05:55registriert Juni 2024
Klare Worte! Putins Kriegsverbrecher-Russland muss besiegt werden. Wir wissen wie, aber die Politiker zögern, ja biedern sich bei Putins Russland an, einschliesslich die (offizielle) Schweiz. Unfassbar…
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Emilio 1979
15.10.2024 05:49registriert September 2023
Die beste Analyse seit langem! Schade, dass der deutsche Kanzler so ein Waschlappen ist, vor allem wenn man keine Flüchtlinge haben möchte, sollte man die Ukraine unterstützen. Auch wenn man vielleicht nicht jeden Rappen direkt zurück bekommt, spart man früher oder später Geld. Was kostet es erst, wenn Russland gewinnen sollte und alle Ukrainer: innen flüchten. Was kostet die Abwehr gegen die stets zunehmende Beeinflussung im Netz durch Putin...
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rodolofo
15.10.2024 05:36registriert Februar 2016
Sie hat völlig recht!
Doch der Teufel sitzt wieder mal in Details. Wie dem Wörtchen "wir".
Wer sind "wir" denn? Offenbar sympathisieren im Westen ein Drittel bis die Hälfte der Menschen mit Putins Regime!
"Wir" schauen gebannt über den Atlantik, wo Trump gute Chancen hat, am 5. November erneut als Präsident der USA gewählt zu werden.
Trump spricht auch vom "Kampf gegen den inneren Feind". Ich schätze, das wären dann wohl "wir"...
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