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Gaza ohne Hilfswerk UNRWA? Nahost-Experte malt eine schwarze Zukunft

Palestinian Hamas supporters hold a Palestinians flag during a protest demanding that staff who were fired in the Gaza Strip over allegations that they took part in the Oct. 7, attack on southern Isra ...
Palästinensische Frauen demonstrieren vor dem Hauptsitz der UNRWA in Beirut, Libanon, dafür, dass die Länder die Finanzierung des Hilfswerks wieder aufnehmen sollen, am 30. Januar 2024.Bild: AP
Interview

Gaza ohne UNRWA? «Aus Sicht Israels wäre der Konflikt damit gelöst»

Mitarbeitende des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA sollen Hamas-Anhänger sein. Das bedroht die Existenz des Hilfswerks. Was würde ein Ende der UNRWA bedeuten? Nahostexperte Riccardo Bocco malt eine schwarze Zukunft.
31.01.2024, 17:1331.01.2024, 17:54
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Die neusten Vorwürfe gegen das Palästinenserhilfswerk UNRWA wiegen schwer: Gemäss der «New York Times», die sich auf interne Dokumente der israelischen Regierung an die USA bezieht, sollen zwölf Mitarbeitende der UNRWA am Terror der Hamas am 7. Oktober beteiligt gewesen sein. Hat Sie diese Nachricht überrascht?
Riccardo Bocco:
Nein, ganz und gar nicht. Die israelische Regierung versucht schon lange, die UNRWA zu zerschlagen. Der Grund dafür ist ganz einfach: durch die Tatsache, dass die UNRWA nach 75 Jahren immer noch aktiv ist, ist sie ein Symbol für das «Recht auf Rückkehr» der 1948 vertriebenen Palästinenser und ihre Nachkommen. Und das widerspricht dem zionistischen Gründungsmythos, auf dem Israel aufgebaut wurde.

Zur Person
Riccardo Bocco ist emeritierter Professor für politische Soziologie am Graduate Institute in Genf. In seiner Forschung konzentriert er sich seit über dreissig Jahren auf Entwicklungspolitik und Staatsaufbau, humanitäre Hilfe und Flüchtlinge sowie auf die Überwachung der Auswirkungen der internationalen Hilfe für die Zivilbevölkerung. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Bocco vor allem auf den Nahen Osten, insbesondere Jordanien, Israel/Palästina und Libanon. In den 2000ern leitete er zudem für verschiedene UN-Organisationen grossangelegte Forschungsprojekte zur internationalen Hilfe im Nahen Osten.

Wie lautet dieser Gründungsmythos?
«Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» – was ja grundsätzlich falsch ist. Das Land, auf dem Israel heute steht, war nicht «ohne Volk». Da lebten 750'000 Palästinenserinnen und Palästinenser, die man dazu zwang, ihre Heimat zu verlassen. Allein die Existenz der UNRWA in Gaza ist ein Schutzinstrument für die Flüchtlinge und damit ein Hindernis für jedes Narrativ, das Israel über den Krieg in Gaza entwickeln will.

«Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land»
Woher dieser Satz ursprünglich kommt, darüber sind sich Historikerinnen und Historiker noch heute uneinig. Viele führen ihn allerdings auf den jüdisch-britischen Autoren und politischen Aktivisten Israel Zangwill zurück. Er verfasste den zionistischen Slogan 1901 in einem Artikel – allerdings wohl auch aus Unwissenheit über die tatsächliche Situation im Nahen Osten. Wenige Jahre später sprach sich Zangwill öffentlich gegen die Aussage seines Slogans aus und unterstrich, dass das Landstück sehr wohl Einwohner habe. Wie Historiker Adam M. Garfield 1991 in einem Paper festhält, haben einige Zionisten erst später entschieden, den Satz zu nutzen, um den Palästinensern ihre Identität und ihren Anspruch auf das Gebiet abzuerkennen.

13'000 Mitarbeitende soll die UNRWA nach eigenen Angaben allein im Gazastreifen haben. Die meisten davon sind Palästinenserinnen und Palästinenser. Da ist es doch schon wahrscheinlich, dass da einige UNRWA-Mitarbeitende mit der Hamas sympathisieren.
Ja, auf jeden Fall. Und nach meiner Einschätzung werden es weit mehr als nur 12 UNRWA-Mitarbeiter sein. Es ist aber ein grosser Unterschied, ob jemand effektiv am Terror beteiligt ist oder mit einer Terrororganisation sympathisiert. Im Falle der beschuldigten UNRWA-Mitarbeitenden sollen einige etwa auf Social Media den Angriff am 7. Oktober auf Israel gefeiert haben.

Das ist ja immer noch sehr verwerflich.
Ja, aber man könnte es auch Spiegeleffekt nennen. Schliesslich haben viele Israelis Anschläge auf Gaza ebenso gefeiert.

Riccardo Bocco, Professor of Political Sociology at the IHEID, speaks during a panel "Israel - Palestine conflict: Can UNRWA fulfill its mission?", at the Geneva Press Club, in Geneva, Switz ...
Riccardo Bocco, emeritierter Professor für politische Soziologie an einer Podiumsdiskussion 2022 in Genf zum Thema «Israel-Palästina-Konflikt: Kann die UNRWA ihren Auftrag erfüllen?». Bild: KEYSTONE

Können Sie sich dennoch vorstellen, dass UNRWA-Mitarbeitende aktiv am Terror der Hamas beteiligt sind?
Die UNRWA besitzt Kontrollmechanismen. Bevor sie jemand einstellt, macht sie einen eingehenden Background-Check. Aber wie soll man je sicher sein können – gerade in einem Gebiet wie dem Gazastreifen – dass eine Person vielleicht nicht doch aktiver Hamas-Anhänger ist oder wird? Deshalb ist es so wichtig, dass die UNRWA die Vorwürfe gründlich untersucht. Fakt ist: Wir wissen – Stand heute – nicht, was an ihnen dran ist. Tatsache ist aber auch, dass die Vorwürfe vom israelischen Geheimdienst kommen und Israel ein Interesse daran hat, die UNRWA zu schwächen.

epa11112162 Right-wing Israeli protesters attempting to block the road as aid trucks cross into the Gaza Strip at the Kerem Shalom border crossing, southern Israel, 29 January 2024. Since 07 October 2 ...
Proteste gibt's auch seitens Israel: Rechtsgerichtete, israelische Demonstranten blockieren eine Strasse am Grenzübergang Kerem Schalom zum Gazastreifen und versuchen so zu verhindern, dass Hilfsgüter der UNRWA passieren können, am 29. Januar 2024. Bild: EPA

Was nützte es Israel konkret, wenn diese Vorwürfe die UNRWA zu Fall bringen würden?
Wenn die UNRWA nicht mehr existiert, gibt es im Kriegsgebiet keine Organisation mehr, die den Palästinenserinnen und Palästinensern helfen kann. Und auch keine Organisation mehr, die den Flüchtlingsstatus der Menschen bestätigen könnte. Ohne die UNRWA wäre es, als würde es die Palästinenser, die künftig geboren werden, gar nicht geben. Auf dem Papier existierten sie nicht. Aus Sicht Israels wäre der «Konflikt» damit gelöst. Zumindest theoretisch. Ohne Flüchtlinge gibt es weniger Menschen, die Anspruch auf ihr Land erheben und Reparationen fordern können.

epa11113806 A palestinian resident in Lebanon carries placards reading (Stopping funding for UNRWA threatens the future of palestinian refugees) during a protest against the decision of numerous donor ...
Ein palästinensischer Demonstrant hält vor dem UNRWA-Büro ein Plakat, auf dem steht: «Der Stopp der Finanzierung der UNRWA bedroht die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge», am 30. Januar 2024 in Beirut, Libanon.Bild: EPA

Im Westen kursiert nun dennoch die Angst, dass man mit den Unterstützungsgeldern an die UNRWA gleichzeitig Terroristen finanziert hat. Viele Staaten haben ihre Gelder an das Hilfswerk deshalb gestoppt. Auch in der Schweiz werden solche Forderungen laut. Was halten Sie von diesen Reaktionen?
Die europäischen und nordamerikanischen Staaten haben sehr emotional reagiert. Aber diese Reaktion zeigt sinnbildlich die blinde Unterstützung des Westens für Israel. Für die schrecklichen Zustände im Gazastreifen, unter denen die Menschen leiden und sterben, ist Israel verantwortlich. Israel begeht Kriegsverbrechen, indem es vorgibt, sein Recht auf Selbstverteidigung auszuüben. Das hat übrigens auch die UNO-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese, kürzlich festgehalten. Doch die westlichen Staaten scheinen Israel nicht für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Und nun entziehen sie auch noch der wichtigsten humanitären Hilfsorganisation für Palästinenser die Unterstützungsgelder. Damit machen sie sich mitschuldig an den Verbrechen, die der palästinensischen Zivilbevölkerung angetan werden.

Gleichzeitig könnte man aber auch sagen: Die UNRWA war schon immer von freiwilligen Geldern der UN-Staaten abhängig. Wenn die westlichen Geldgeber wegfallen, könnten ja die arabischen Staaten die palästinensische Zivilbevölkerung unterstützen, indem sie die UNRWA stärker finanzieren.
Die palästinensischen Flüchtlinge sind das Resultat westlichen Handelns. Die westlichen Staaten haben die UNRWA aus schlechtem Gewissen gegründet. Indem man das Hilfswerk mitfinanzierte, wollte man sich von der Schuld am Konflikt 1948 reinwaschen. Die arabischen Staaten sagen deshalb: «Für dieses Leid sind nicht wir verantwortlich. Warum sollten wir also bezahlen?»

Um Menschenleben zu retten, vielleicht?
Viele arabische Staaten sind der Ansicht, sie leisten ihren Teil, indem sie seit vielen Jahrzehnten palästinensische Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben.

Zusammengefasst: Ist die UNRWA Teil des Problems oder Teil der Lösung des Nahost-Konflikts?
Aus israelischer Sicht ist die UNRWA sicher Teil des Problems. Objektiv gesehen ist die UNRWA weder Teil des Problems noch Teil der Lösung. Ihre Aufgabe war es nie, eine politische Rolle einzunehmen, um eine Lösung im Nahost-Konflikt herbeizuführen. Die UNRWA repräsentiert auch nicht die Palästinenserinnen und Palästinenser. Die einzige Rolle, die die UNRWA erfüllen muss, ist Schutz, Unterstützung und humanitäre Hilfe an die Geflüchteten zu geben. Und das tut sie. Solange sie noch kann.

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129 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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JBV
31.01.2024 18:19registriert September 2021
"Die arabischen Staaten sagen deshalb: «Für dieses Leid sind nicht wir verantwortlich. Warum sollten wir also bezahlen?»"

Aha, und was ist dann mit dem Geld das sie lieber an die palästinensischen Terrororganisationen zahlen? Rechtfertigt die westliche Verantwortung für das Leid auch diese Zahlungen?
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Foxberry
31.01.2024 19:36registriert März 2022
Seit 75 Jahren finanzieren Amerikaner und Europäer fast 80 Prozent des Hilfswerks. Warum soll das für immer so sein? Die Öl-Staaten wissen nicht wohin mit ihrem Geld. Ich schlage vor, sie üben sich in arabischer Solidarität .
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Rechner
31.01.2024 18:12registriert August 2022
Kein Geld mehr für die UNRWA. Die Terrorunterstützng ist offensichtlich, mehrfach belegt und unhaltbar.
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