Die neusten Vorwürfe gegen das Palästinenserhilfswerk UNRWA wiegen schwer: Gemäss der «New York Times», die sich auf interne Dokumente der israelischen Regierung an die USA bezieht, sollen zwölf Mitarbeitende der UNRWA am Terror der Hamas am 7. Oktober beteiligt gewesen sein. Hat Sie diese Nachricht überrascht?
Riccardo Bocco: Nein, ganz und gar nicht. Die israelische Regierung versucht schon lange, die UNRWA zu zerschlagen. Der Grund dafür ist ganz einfach: durch die Tatsache, dass die UNRWA nach 75 Jahren immer noch aktiv ist, ist sie ein Symbol für das «Recht auf Rückkehr» der 1948 vertriebenen Palästinenser und ihre Nachkommen. Und das widerspricht dem zionistischen Gründungsmythos, auf dem Israel aufgebaut wurde.
Wie lautet dieser Gründungsmythos?
«Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» – was ja grundsätzlich falsch ist. Das Land, auf dem Israel heute steht, war nicht «ohne Volk». Da lebten 750'000 Palästinenserinnen und Palästinenser, die man dazu zwang, ihre Heimat zu verlassen. Allein die Existenz der UNRWA in Gaza ist ein Schutzinstrument für die Flüchtlinge und damit ein Hindernis für jedes Narrativ, das Israel über den Krieg in Gaza entwickeln will.
13'000 Mitarbeitende soll die UNRWA nach eigenen Angaben allein im Gazastreifen haben. Die meisten davon sind Palästinenserinnen und Palästinenser. Da ist es doch schon wahrscheinlich, dass da einige UNRWA-Mitarbeitende mit der Hamas sympathisieren.
Ja, auf jeden Fall. Und nach meiner Einschätzung werden es weit mehr als nur 12 UNRWA-Mitarbeiter sein. Es ist aber ein grosser Unterschied, ob jemand effektiv am Terror beteiligt ist oder mit einer Terrororganisation sympathisiert. Im Falle der beschuldigten UNRWA-Mitarbeitenden sollen einige etwa auf Social Media den Angriff am 7. Oktober auf Israel gefeiert haben.
Das ist ja immer noch sehr verwerflich.
Ja, aber man könnte es auch Spiegeleffekt nennen. Schliesslich haben viele Israelis Anschläge auf Gaza ebenso gefeiert.
Können Sie sich dennoch vorstellen, dass UNRWA-Mitarbeitende aktiv am Terror der Hamas beteiligt sind?
Die UNRWA besitzt Kontrollmechanismen. Bevor sie jemand einstellt, macht sie einen eingehenden Background-Check. Aber wie soll man je sicher sein können – gerade in einem Gebiet wie dem Gazastreifen – dass eine Person vielleicht nicht doch aktiver Hamas-Anhänger ist oder wird? Deshalb ist es so wichtig, dass die UNRWA die Vorwürfe gründlich untersucht. Fakt ist: Wir wissen – Stand heute – nicht, was an ihnen dran ist. Tatsache ist aber auch, dass die Vorwürfe vom israelischen Geheimdienst kommen und Israel ein Interesse daran hat, die UNRWA zu schwächen.
Was nützte es Israel konkret, wenn diese Vorwürfe die UNRWA zu Fall bringen würden?
Wenn die UNRWA nicht mehr existiert, gibt es im Kriegsgebiet keine Organisation mehr, die den Palästinenserinnen und Palästinensern helfen kann. Und auch keine Organisation mehr, die den Flüchtlingsstatus der Menschen bestätigen könnte. Ohne die UNRWA wäre es, als würde es die Palästinenser, die künftig geboren werden, gar nicht geben. Auf dem Papier existierten sie nicht. Aus Sicht Israels wäre der «Konflikt» damit gelöst. Zumindest theoretisch. Ohne Flüchtlinge gibt es weniger Menschen, die Anspruch auf ihr Land erheben und Reparationen fordern können.
Im Westen kursiert nun dennoch die Angst, dass man mit den Unterstützungsgeldern an die UNRWA gleichzeitig Terroristen finanziert hat. Viele Staaten haben ihre Gelder an das Hilfswerk deshalb gestoppt. Auch in der Schweiz werden solche Forderungen laut. Was halten Sie von diesen Reaktionen?
Die europäischen und nordamerikanischen Staaten haben sehr emotional reagiert. Aber diese Reaktion zeigt sinnbildlich die blinde Unterstützung des Westens für Israel. Für die schrecklichen Zustände im Gazastreifen, unter denen die Menschen leiden und sterben, ist Israel verantwortlich. Israel begeht Kriegsverbrechen, indem es vorgibt, sein Recht auf Selbstverteidigung auszuüben. Das hat übrigens auch die UNO-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese, kürzlich festgehalten. Doch die westlichen Staaten scheinen Israel nicht für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Und nun entziehen sie auch noch der wichtigsten humanitären Hilfsorganisation für Palästinenser die Unterstützungsgelder. Damit machen sie sich mitschuldig an den Verbrechen, die der palästinensischen Zivilbevölkerung angetan werden.
Gleichzeitig könnte man aber auch sagen: Die UNRWA war schon immer von freiwilligen Geldern der UN-Staaten abhängig. Wenn die westlichen Geldgeber wegfallen, könnten ja die arabischen Staaten die palästinensische Zivilbevölkerung unterstützen, indem sie die UNRWA stärker finanzieren.
Die palästinensischen Flüchtlinge sind das Resultat westlichen Handelns. Die westlichen Staaten haben die UNRWA aus schlechtem Gewissen gegründet. Indem man das Hilfswerk mitfinanzierte, wollte man sich von der Schuld am Konflikt 1948 reinwaschen. Die arabischen Staaten sagen deshalb: «Für dieses Leid sind nicht wir verantwortlich. Warum sollten wir also bezahlen?»
Um Menschenleben zu retten, vielleicht?
Viele arabische Staaten sind der Ansicht, sie leisten ihren Teil, indem sie seit vielen Jahrzehnten palästinensische Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben.
Zusammengefasst: Ist die UNRWA Teil des Problems oder Teil der Lösung des Nahost-Konflikts?
Aus israelischer Sicht ist die UNRWA sicher Teil des Problems. Objektiv gesehen ist die UNRWA weder Teil des Problems noch Teil der Lösung. Ihre Aufgabe war es nie, eine politische Rolle einzunehmen, um eine Lösung im Nahost-Konflikt herbeizuführen. Die UNRWA repräsentiert auch nicht die Palästinenserinnen und Palästinenser. Die einzige Rolle, die die UNRWA erfüllen muss, ist Schutz, Unterstützung und humanitäre Hilfe an die Geflüchteten zu geben. Und das tut sie. Solange sie noch kann.
Aha, und was ist dann mit dem Geld das sie lieber an die palästinensischen Terrororganisationen zahlen? Rechtfertigt die westliche Verantwortung für das Leid auch diese Zahlungen?