Jackpot! 3,5-Zimmer mit Balkon, einer Bushaltestelle direkt vor der Haustür, zehn Gehminuten vom Bahnhof Zug entfernt und das alles für «nur» 2'100 Franken Miete inklusive Nebenkosten. Das Beste daran: Ich habe tatsächlich einen Besichtigungstermin ergattert.
Der Weg hierhin war lang und steinig. Denn Zug ist wohl der letzte Kanton, in dem man auf Wohnungssuche sein möchte: Nirgends ist die Wohnungsknappheit in der Schweiz so akut wie hier.
Gemäss Auswertungen des Bundesamts für Statistik (BFS) hat der Wohnungsnotstand von 2022 und 2023 schweizweit zugenommen. Insgesamt standen im Vergleich zum Vorjahr 6'731 Wohnungen weniger leer, was einer Abnahme von 10,9 Prozent entspricht.
Laut denselben Zahlen ist die Wohnungsnot in der Schweiz nirgends so schlimm, wie in den Kantonen Zug und Genf. Ihre Leerwohnungsziffer beträgt 0,42 Prozent. Dieser Wert berechnet sich aus dem Verhältnis der leerstehenden Wohnungen zum Gesamtwohnungsbestand des Kantons. Je tiefer die Zahl, desto weniger leerstehende Wohnungen gibt es.
Am BFS-Stichtag für diese Statistik, am 1. Juni 2023, standen in Zug gerade einmal 254 Wohnungen leer. In Genf waren es 1'041.
Ein Blick in die gängigen Immobilienplattformen online zeigt für den Kanton Zug ein deprimierendes Bild: Eine 2,5-Zimmerwohnung für 5'000 Franken, eine 3,5-Zimmerwohnung für 7'700 Franken, eine 3,5-Zimmer-Attikawohnung für 10'400 Franken. Bei den wenigen leerstehenden Wohnungen, die es überhaupt gibt, verlangen die Vermietenden selten weniger als 4'000 Franken im Monat.
Casha Frigo ist Maklerin bei Engel und Völkers in Zug und sagt:
Frigo kann einige Gründe für diese Ausgangslage nennen. Da wäre einerseits das Offensichtliche: «Wegen seiner tiefen Steuern ist Zug als Wohnort, aber auch als Firmensitz sehr attraktiv.»
Womit wir gleich beim nächsten Grund wären: In Zug befinden sich die Hauptsitze zahlreicher Firmen, deren gutverdienende Mitarbeiter gerne einen kurzen Arbeitsweg haben. Und für deren Wohnungen in der Vergangenheit auch mal die Firma aufkam, wenn sie eine Arbeitskraft direkt aus dem Ausland einfliegen liess: die sogenannten «Expats».
Wie viele ausländische Angestellte im Kanton Zug wohnen, lässt etwa die neuste Strukturerhebung des BFS aus dem Jahr 2022 erahnen: 14,1 Prozent der Zuger Bevölkerung sprechen hauptsächlich Englisch. Das ist jede siebte Person. «Kein anderer Kanton hat einen so hohen Anteil an hauptsächlich Englisch sprechender Bevölkerung», schrieb im Januar 2024 darum sogar der Kanton Zug in einer Medienmitteilung.
Gleichzeitig sei der Anteil der Deutsch- und Schweizerdeutsch-sprechenden Bevölkerung rückläufig: «Zu Hause sprechen sieben von zehn Zugerinnen und Zugern Schweizerdeutsch (70,2 %). 2012 lag dieser Anteil noch bei 77,9 Prozent.»
Haben die Expats die Mietpreise in Zug in die Höhe getrieben? Maklerin Casha Frigo sagt dazu nur so viel:
Das stimme heute aber nicht mehr. Denn Firmen würden die Wohnkosten für ihre Mitarbeitenden aus dem Ausland kaum noch decken. Und leere Wohnungen seien inzwischen so rar, dass auch Zuzüger aus dem In- und Ausland Mühe bekundeten, eine Mietwohnung zu finden.
Ein weiterer Grund für die Wohnungsnot: Das Potenzial für den Bau von neuen Wohnungen ist langsam aber sicher ausgeschöpft. «Der Kanton Zug ist relativ klein und hat viele Grünflächen, auf denen nicht gebaut werden darf oder kann», sagt Frigo.
Die Idee, eine Reportage über die Wohnungsnot im Kanton Zug zu machen, hatte ich schon im Herbst. Also richtete ich mir auf allerlei Immobilienplattformen ein Suchabo ein. Mindestens 3,5-Zimmer zu höchstens 2'400 Franken im Monat inklusive Nebenkosten sollten es sein.
Wo genau? Egal, Hauptsache im Kanton Zug. Neu- oder Altbau? Egal. Anzahl Quadratmeter? Egal. Autoparkplatz vorhanden? Egal. Waschmaschine, Geschirrspüler, Balkon? Egal.
Es waren keine hohen Anforderungen. Absichtlich nicht. Trotzdem dauerte es satte vier Monate, bis ich an eine Besichtigung gehen konnte.
Einerseits, weil ich teilweise weniger als ein Mal in der Woche eine Benachrichtigung erhielt, dass ein entsprechendes Inserat online gegangen ist. Andererseits, weil ich feststellen musste, dass man jederzeit alles stehen und liegen lassen können muss, sobald eine Anzeige aufgeschaltet wird. Rund um die Uhr. An jedem Wochentag. Und damit übertreibe ich nicht.
Die Bilder von über hundert Menschen, die bis in die Nebenstrasse vor der Eingangstür eines Häuserblocks anstehen, gehören grösstenteils der Vergangenheit an. Auf solche Horror-Massenbesichtigungen haben weder Mieterinnen noch Vermieter noch Lust. Darum setzen letztere zunehmend auf Onlineformulare.
Grundsätzlich nichts Verwerfliches. Doch es gibt einen unschönen Nebeneffekt: Die Wohnungssuche verkommt zu einem frustrierend anonymen Geschäft. Es sitzen sich nicht mehr zwei Menschen gegenüber, der Vermieter auf der einen Seite des Computers, die potenzielle neue Mieterin auf der anderen. Eigentlich kommunizieren da gar keine Menschen mehr miteinander. Sondern zwei Chatbots.
Typischerweise läuft die Suche so ab: Erhalte ich eine Benachrichtigung von einem Inserat, schicke ich so schnell wie möglich meine «Bewerbung» für eine Besichtigung. Dabei nutze ich den vorgenerierten Text der Immobilienplattformen: «Guten Tag, ich interessiere mich für das Objekt …». Darauf folgt nach wenigen Sekunden eine ebenso automatisierte Antwort:
Ich klicke umgehend auf den Link und … kann nur noch eine Option auswählen: «Kann nicht teilnehmen.»
Alle Besichtigungstermine sind schon «vergriffen». Dabei ist das Inserat vor weniger als einer Stunde online gegangen.
Nach einigen Wochen ändere ich meine Strategie. Ich muss aktiver werden. Also aktiviere ich den Klingelton für Mailbenachrichtigungen, lege mein Smartphone bei der Arbeit in mein Sichtfeld, Display nach oben.
Kein Inserat will ich verpassen. Und tue es dann natürlich trotzdem.
Weil ich gerade auf Reportage bin. Weil ich ein Interview führe. Weil ich auf einem Spaziergang das Handy zu Hause liegen lasse. Weil ich über die Feiertage mit anderen, schöneren Dingen beschäftigt bin.
Diese Nachlässigkeit kann ich mir leisten. Ich bin ja nicht wirklich verzweifelt auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung. Ich kann auch darauf verzichten, in meiner Freizeit Treffen mit Freunden und Familie abzusagen, um den letzten noch freien Besichtigungstermin wahrzunehmen. Doch auch so steigt mein Frustrationslevel mit jedem Besichtigungstermin, der mir entgeht.
Und ich frage mich, wie unter diesen Umständen eine Pflegefachkraft im Spital, ein Buschauffeur oder eine Verkäuferin einen Besichtigungstermin ergattern sollten?
Anfang Februar klappt es endlich. Auf meine standardisierte Anfrage folgt keine automatisierte Antwort von einem Chatbot, sondern eine Mail. Geschrieben von einem echten Menschen. Einem Immobilienmakler, der für eine Stiftung arbeitet, deren erklärtes Ziel es ist, in Zug für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen.
Der Makler bedankt sich für mein Interesse und sagt, ich könne die Wohnung gerne besichtigen kommen. Worte, die nach dieser frustrierenden Suche guttun. Doch dann lese ich die nächsten Zeilen:
Der Makler hat eine Liste mit Besichtigungsterminen angehängt. Insgesamt gibt es 21 Slots an zwei Tagen. Pro Termin können sich maximal fünf Interessenten anmelden.
Mein Kopf beginnt sofort zu rechnen. 105 Interessenten könnten maximal vorbeikommen. 105! Ich versuche mir 105 Menschen vorzustellen und scheitere. Aber natürlich melde ich mich an.
Schon am nächsten Tag kann ich von 15.45 Uhr bis 16 Uhr die eingangs erwähnte 3,5-Zimmerwohnung für 2'100 Franken Miete im Monat besichtigen. Zusammen mit vielen weiteren Interessenten. Wie es diesen Menschen geht, wie lange sie schon suchen, wie verzweifelt sie sind, könnt ihr im zweiten Teil dieser Serie lesen.
Und übrigens: In derselben Strasse und zu demselben Zeitpunkt wie diese günstige Wohnung war auch eine 3,5-Zimmerwohnung für 7'700 Franken ausgeschrieben. Wie läuft eine Besichtigung in diesem Hochpreissegment ab? Wer bewirbt sich auf solche Wohnungen? Und was rechtfertigt diesen Preis? Die Antwort darauf gibt es im dritten Teil dieser Serie.
Wird es besser, wenn wir 10 oder 11 Mio. Einwohner sind? Aber sicher.