Die islamistischen Taliban erobern in Afghanistan derzeit einen Bezirk nach dem anderen. Seit dem Beginn des Abzugs der US- und anderer Nato-Truppen am 1. Mai haben die Islamisten mindestens 50 Bezirke erobert. 24 davon alleine in den letzten vier Tagen. Insgesamt ist Afghanistan in etwas über 300 Bezirke unterteilt.
Örtliche Politiker rufen mittlerweile selbst ehemalige Mudschahedin-Kommandeure und Zivilisten auf, sich zu bewaffnen und mit den Sicherheitskräften gegen die Islamisten zu kämpfen.
Von Sonntag auf Montag fielen alleine in der Provinz Tachar laut Provinzräten mindestens vier Bezirke an die Taliban. In der Provinz Balch, wo auch das deutsche Bundeswehr-Camp Marmal liegt, wurden mindestens zwei Bezirke von den Islamisten überrannt, drei weitere standen kurz vor dem Fall. Ein Sprecher des afghanischen Verteidigungsministers schrieb am Montag auf Twitter, die Taliban seien vom Stadtrand von Mazar-i-Sharif geflüchtet – und bestätigte so indirekt, dass es Taliban-Kämpfer bis dort hin geschafft hatten.
Fakt ist: Der Krieg in Afghanistan ist so heiss wie schon lange nicht mehr. Und die islamistischen Taliban gewinnen an Macht. Nicht nur durch Landgewinne: Durch die Eroberungen diverser Militärbasen gelangt auch schweres militärisches Gerät – wie etwa Artillerie – in ihre Hände.
IMAGES via pro-Taliban channels purportedly showing the ghanimah captured from a base in Aqcha, Jawzjan. #Afghanistan pic.twitter.com/imSc4x27L0
— FJ (@Natsecjeff) June 21, 2021
Wie die Machtverhältnisse derzeit stehen ist schwierig einzuschätzen. Die einzige zuverlässige öffentliche Quelle zu den Machtverhältnissen in Afghanistan ist die «Lebende Karte» des «Long War Journal», herausgegeben von der Foundation for Defense of Democracies (zu Deutsch: Stiftung zur Verteidigung der Demokratien, kurz FDD).
Die Karte stützt sich auf Open-Source-Informationen, in dem Fall Presseberichte und Mitteilungen der Regierung sowie der Taliban. Die Karte wird laufend angepasst und die Änderungen sind nachvollziehbar.
Hier findest du eine grössere Version der interaktiven Karte.
Auf den ersten Blick sieht das danach aus, als ob die Taliban die Oberhand hätten. Betrachtet man aber die Anzahl der Bevölkerung unter jeweiliger Kontrolle, sieht es ein bisschen anders aus:
Aber Achtung: Die Kontrolle über einen Bezirk kann sich oft ändern, die Zahlen gelten mehr als Anhaltspunkt denn als Fakt. Dazu kommt, dass die Offensive der Taliban weitergehen dürfte.
Umkämpfte Gebiete bergen mehr Gefahr für die Zivilbevölkerung, das ist offensichtlich. Jedoch werden umkämpfte Gebiete nicht immer mit Gewalt eingenommen. Teilweise gab die Regierung die Kontrolle über ein Gebiet freiwillig auf, um zivile Opfer zu vermeiden, behaupteten afghanische Beamten gemäss einem afghanischen Journalisten.
Die Opferzahlen sind dennoch hoch: Im Jahr 2019 – als es noch weniger Kämpfe gab – verloren gemäss dem Schweizer Aussendepartement EDA 3403 Zivilisten ihr Leben, 6989 wurden verletzt. Afghanistan gilt als eines der gefährlichsten Länder der Welt.
In Taliban-Gebieten muss mit Menschenrechtsverletzungen gerechnet werden, in Regierungs-Gebieten drohen Anschläge auf öffentliche Plätze wie Märkte.
Und es könnte noch schlimmer kommen: Sobald die Nato ihre letzten Truppen im September abgezogen hat, könnte auch die Luftunterstützung durch die Amerikaner enden. Die Angst im Land ist gross, dass die Taliban dann die Regierung stürzen. Bislang äusserten sich die USA nicht klar dazu, ob sie bei einem drohenden Sieg der Taliban eingreifen würden.
Gründe gibt es viele: In einigen Bezirken bezwangen die Taliban die afghanischen Sicherheitskräfte nach heftigen Zusammenstössen. Diese machen ausstehende Gehälter, Munitionsmangel und Verzögerungen bei der Entsendung von Luft- und Bodenverstärkungen verantwortlich, schreibt der afghanische Journalist Frud Bezhan.
In anderen Bezirken haben die islamistischen Kämpfer die Kontrolle übernommen, ohne einen Schuss abzufeuern. Sie verhandelten mit den Stammesführern eine Kapitulation der Soldaten.
Drittens gaben die afghanischen Soldaten Bezirke teilweise freiwillig auf, wo sie so oder so keinen grossen Einfluss hatten, um stattdessen strategisch wichtige Orte wie etwa Provinzhauptstädte zu schützen.
Tamim Asey, Leiter des Instituts für Friedens- und Kriegsführung in Kabul, schätzt die Strategie der Taliban so ein:
Der ehemalige stellvertretende afghanische Verteidigungsminister erklärt gegenüber der Zeitung «Gandhara», wieso die Strategie auch für Zivilisten gefährlich wird:
Am vergangenen Wochenende bestätigte das Staatssekretariat für Migration (SEM) gegenüber dem Schweizer Fernsehen, dass die Schweiz Ausschaffungen von abgewiesenen Asylsuchenden nach Afghanistan wieder aufnimmt.
Konkret bedeutet das, dass 144 Afghaninnen und Afghanen in ihr Heimatland zurückgeführt werden sollen. Wann genau die Rückführungen stattfinden, darüber schweigt das SEM.
Das SEM verteidigt die Rückführungen gegenüber dem SRF folgendermassen: «Das SEM prüft bei jedem einzelnen Fall, bei jeder einzelnen Person wirklich haargenau und detailliert, ob diese Person persönlich bedroht oder verfolgt ist.» Falls dies der Fall sei, dürfe die Person in der Schweiz bleiben und werde als Flüchtling anerkannt. Falls nicht, wird die Person nach Afghanistan zurückgewiesen.
Angesprochen auf den Abzug der Nato-Truppen und die Zunahme der Gewalt antwortet das SEM: «Der Truppenabzug ist seit langem bekannt. Natürlich ist das ein wichtiger Faktor, den das SEM bei seiner Asyl- und Wegweisungspraxis berücksichtigt.»
Im Asylverfahren werde abgeklärt, dass eine Person, die zurückgeführt wird, nicht persönlich verfolgt oder bedroht ist. Und weiter: «Deshalb spielt in diesen Fällen der Truppenabzug keine Rolle.»
Doch wie kann das SEM so etwas überhaupt überprüfen? Gegenüber watson sagt Lukas Rieder, Mediensprecher des SEM, dass sich das SEM zusätzlich auch auf das Wissen der Schweizer Botschaft im pakistanischen Islamabad und auf Quellen aus dem nachrichtendienstlichen Bereich stützt.
Ein Bürgerkrieg sei kein ausreichender Grund für Asyl, vielmehr spiele bei dem Entscheid über das Asyl die individuelle Verfolgung eine Rolle. «Aber eine Bürgerkriegssituation ist dann bei der Prüfung von Vollzugshindernissen relevant. Herrscht eine Situation allgemeiner Gewalt, wird die Wegweisung nicht vollzogen.»
Eine Situation allgemeiner Gewalt herrsche etwa in Syrien, deswegen gibt es dort keine Rückführungen. Anders sehe es in Afghanistan aus: «In Afghanistan gibt es Regionen, die relativ stabil sind und von der Regierung kontrolliert werden.» Das bedeutet laut Rieder aktuell, dass Wegweisungen nur in drei Städte als zumutbar betrachtet werden: Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif.
Das ist insofern brisant, weil laut jüngsten Berichten (siehe unter Punkt eins) die Taliban vor den Toren der Stadt Mazar-i-Sharif stehen. 180 km davon entfernt gibt es eine Taliban-Offensive auf die Stadt Kundus. Und am Wochenende gab es Kämpfe in der Provinz Herat (um die Hauptstadt Herat wird noch nicht gekämpft). Darauf angesprochen antwortet Rieder:
Wir wollten wissen: Hat das SEM die Rückführung der abgewiesenen Asylsuchenden selbst beschlossen oder kommt der Entscheid von einer höheren Stelle? Rieder antwortet:
WTF..?
Danke übrigens für den Artikel, bei dem einige Arbeit dahinter steht.
Was mich mehr interessiert, von wo kriegen die Taliban dermassen viel Geld für die Kriegsführung. Pakistan alleine kann dies ja nicht sein.