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In diesem Zürcher Dorf feiern die Tibeter – und üben vorsichtige Kritik

Am 10. Februar begann für die Tibeterinnen und Tibeter das Neujahrsfest.
Am 10. Februar begann für die Tibeterinnen und Tibeter das Neujahrsfest. Bild: Watson/juliette Baur

In diesem Zürcher Dorf feiern die Tibeter – und üben Kritik an der Schweiz

Vor kurzem reiste Bundesrat Ignazio Cassis nach China. Fokus: Handel, Klima, Menschenrechte. In der Schweiz leben über 7500 Tibeter. Sie sind hier, weil China Tibet bis heute besetzt. Wie ist es, wenn die neue Heimat und der Unterdrücker näher zusammenrücken?
19.02.2024, 05:0019.02.2024, 16:29
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«Losar tashi delek!», hört man am tibetischen Neujahrsfest im Kloster in Rikon gefühlt im Minutentakt. Zu Deutsch: «Ein frohes neues Jahr!» Kinder rennen über den Platz, lachen, spielen Verstecken. Innerhalb des Klosters ist die Stimmung ernster. Im ersten Stock leiten die sieben Mönche das Neujahrsgebet. Jeder Platz im Saal ist besetzt. Die Besucher horchen aufmerksam und beten mit.

Im zweiten Stock herrscht ebenfalls reger Betrieb. Die Feiernden, vorwiegend die jüngeren, verteilen tibetisches Gebäck auf den Tischen.

«Für uns gilt: Alles, was wir heute machen, manifestieren wir für das neue Jahr.»
Tashi Shitsetsang

Im dritten Stock verfolgen die Tibeter die Zeremonie auf einem Flachbild-TV, denn im ersten Stock sind alle Plätze bereits besetzt. Doch die Übertragung interessiert hier weniger: Man tauscht sich aus, schenkt Tee aus, serviert Reis. Drei Buben rangeln und spielen «Schäre, Stei, Papier», essen abwechslungsweise tibetisches Gebäck, Chips oder Gummibären. Die Mutter des einen Buben ermahnt sie sanft, aber im Fünf-Minuten-Takt, ruhig zu sein. Dass sie trotzdem weitermachen, scheint die Mutter nicht zu stören, denn auch die Kinder sollen an «Losar» (Neujahr) Freude haben.

Lachend sagt Tashi Shitsetsang, eine Tibeterin, die am Samstag, 10. Februar, ebenfalls an dem Fest teilnimmt: «Für uns gilt: Alles, was wir heute machen, manifestieren wir für das neue Jahr. Das heisst, die Kleinen hoffen dieses Jahr, dass sie viele Snacks essen können.»

Live-Übertragung im dritten Stock.
Live-Übertragung im dritten Stock.Bild: watson/Juliette Baur

Tibet: Eines der unfreisten Länder der Welt

Das Kloster füllt sich von Stunde zu Stunde mehr. Insgesamt feiern rund 2500 Tibeterinnen und Tibeter in Rikon das neue Jahr. Auch Migmar Wangdu Christoph Raith ist angereist. 1961 kam er als 4-Jähriger im Rahmen des Projektes «Pflegekinder-Aktion» in die Schweiz. Eine Schweizerfamilie in Basel hat ihn aufgenommen und später als Jugendlicher adoptiert. Er sagt: «Es ist unglaublich, wie viele Leute hier sind. Früher hatte ich jeweils fast alle Besucher gekannt, heute kenne ich nicht mal mehr 10 Prozent.»

Auch Nicht-Tibeter werden von der Gemeinschaft herzlich empfangen. Raith sagt: «Es ist so schön, dass es Menschen gibt, die unsere Kultur kennenlernen wollen.»

Über 1000 Tibeter versammelten sich in Rikon.
Über 1000 Tibeter versammelten sich in Rikon.Bild: watson/juliette baur

Raith und tausende andere Tibeter mussten ab 1950 ihre Heimat verlassen. Der Grund: die Annexion durch China. Im März 1959 wehrten sich die Tibeter dagegen – doch ihre Proteste wurden von den Chinesen brutal niedergeschlagen. 1961 war die Schweiz das erste europäische Land, das den tibetischen Flüchtlingen ein neues Zuhause bot.

Laut der internationalen NGO Freedom House ist Tibet bis heute eines der unfreisten Länder der Welt. China verweigere den Menschen in Tibet Grundrechte und unterdrücke jegliche Anzeichen von Widerstand rigoros. «Einschliesslich der Bekundungen der tibetischen religiösen Überzeugungen und der kulturellen Identität.»

Die Situation in Tibet ist prekär – doch die Flüchtlingszahlen der Tibeter schrumpfen jährlich. Gründe dafür sind laut tibetischen Exilanten eine strengere Überwachung, strengere Grenzkontrollen an den Bergpässen durch die Chinesen und eine engere Zusammenarbeit zwischen Peking und Nepal.

China und die Schweiz rücken näher zusammen

Trotz diverser Menschenrechtsverletzungen ist China seit 2010 der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz. Seither hat sich auch das Verhältnis zwischen der Schweizer Regierung und den Tibetern verändert. Die Gastfreundschaft von 1961 scheint nachgelassen zu haben – parallel zum intensiven Handel der Schweiz und China.

Buddhistische Gebetsmühlen in Rikon.
Buddhistische Gebetsmühlen in Rikon.Bild: watson

Dies zeigt sich im Wandel der Bewilligungen für Tibet-Demonstrationen: 1999 besuchte der damalige chinesische Präsident Jiang Zemin die Schweiz. Die Tibeterinnen und Tibeter durften direkt vor dem Bundeshaus lautstark demonstrieren. Zemin geriet daraufhin so sehr in Rage, dass er den Empfang vor dem Bundeshaus platzen liess und den anwesenden Bundesräten eine Standpauke hielt.

2017 stand der nächste Staatsbesuch an. Die damalige Bundesrätin Doris Leuthard empfing Xi Jinping in Bern. Kritik am chinesischen Regime war nicht erwünscht. Die tibetische Diaspora durfte zwar demonstrieren – allerdings drei Stunden vor dem Staatsbesuch und nicht auf dem Bundesplatz, sondern auf dem unteren Waisenhausplatz.

Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde von der Schweizer Polizei sanktioniert. Damals schrieb der Journalist Philipp Mäder auf X gar von einer Jagd auf junge Tibet-Demonstrantinnen.

«Weshalb sind sie erwünscht und wir nicht?»

Ähnliche, wenn nicht ganz so drastische Szenen spielten sich auch in diesem Jahr ab: Mitte Januar empfing Bundespräsidentin Viola Amherd den chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang in Kehrsatz (Bern).

Swiss President Viola Amherd, right, and Prime Minister of the People's Republic of China, Li Qiang, react during an official visit in Kehrsatz near Bern, Switzerland, Monday, January 15, 2024. T ...
VBS-Vorsteherin Viola Amherd und der chinesische Ministerpräsidenten Li Qiang.Bild: KEYSTONE POOL

Kalsang Choyulpa ist Co-Präsidentin von «Verein Tibeter Jugend in Europa». Sie sagt gegenüber watson, dass die tibetische Diaspora erst vier Tage vor dem Besuch Qiangs aufgrund von verschiedenen Medienberichten erfahren hat. Eine Bewilligung für eine Demonstration zu bekommen, sei unmöglich gewesen.

Doch Choyulpa und einige Aktivisten entschieden sich, während der Ankunft von Qiang eine friedliche Kundgebung abzuhalten. Choyulpa sagt auch heute klar: «Ich weiss, dass China ein wichtiger Vertragspartner ist. Aber die Schweiz sollte nicht mit China handeln, solange es die Menschenrechte mit Füssen tritt.»

Kalsang Choyulpa trägt eine traditionelle tibetische Chupa.
Kalsang Choyulpa trägt eine traditionelle tibetische Chupa.Bild: watson/Juliette Baur

Die Polizei hätte die tibetischen Aktivistinnen eingekesselt und festgehalten. «Wir haben der Polizei angeboten, wegzugehen. Doch sie haben und das verboten und uns eingekreist», sagt Choyulpa.

Das chinesische Empfangskomitee, das sich ebenfalls versammelt hatte und China-Flaggen in die Höhe hielt, habe die Polizei indes in Ruhe gelassen. Es habe den Konvoi, in dem sich Qiang befand, feierlich begrüssen können. Die Szenen wurden von Choyulpas Verein mit einem Video dokumentiert:

Choyulpa sagt:

«Wurde die chinesische Diaspora vor uns informiert? Weshalb sind sie erwünscht und wir nicht? Was bedeutet das für unser Grundrecht, uns zu versammeln? Das Einzige, was ich weiss, ist: Wir waren nicht aggressiv, sondern friedlich, aber wurden eingekesselt. Und: Uns wurden unsere Tibet-Flaggen weggenommen.»

Ein Aktivist sei in einen Kastenwagen gedrängt worden. Der Aktivist habe später erzählt, dass er im Wagen einen A4-Zettel sah, auf dem verschiedene Flaggen abgedruckt waren. Flaggen, welche die Polizei nicht erlaubte. Darunter die Flagge von Ostturkestan und jene von Tibet.

Die Berner Kantonspolizei dementiert diese Vorwürfe und schreibt auf Anfrage von watson:

«Es existierte keine Liste mit verbotenen Flaggen. Es wurde aber eine eng begrenzte Sicherheitszone definiert, worin keine unbewilligten Kundgebungen – konkret mit Transparenten und Fahnen mit politischen Botschaften, wie dies bei Kundgebungen üblich ist – toleriert wurden. Die Flaggen wurden durch unsere Einsatzkräfte vorläufig sichergestellt und konnten im Anschluss auf einer Polizeiwache wieder abgeholt werden.»

«Zu Hause in Tibet»

Doch Choyulpa ist der Schweiz auch für vieles dankbar. Etwa für das tibetische Kloster in Rikon, das sie an «Losar» besucht: «Das ist ein Teil Tibets, den wir in der Schweiz haben. Durch die Mönchsgemeinschaft fühle ich mich hier am ehesten wie zu Hause in Tibet.»

Zu Hause in Tibet. Wie kann ein Ort ein Zuhause sein, wenn man doch gar nie dort gewesen ist?

Viele Exil-Tibeterinnen und -Tibeter seien noch nie im Land ihrer Ahnen gewesen. Aber sie hätten eine Vorstellung von «Zuhause», ihrem Land. Aus Geschichten der Grosseltern. Choyulpa sagt: «Für Aussenstehende ist das unvorstellbar, dass man sich für ein Land einsetzt, in dem man noch nie gewesen ist. Aber hier geht es um mehr: Es geht um unsere Kultur, unsere Identität.»

Das tibetische Kloster in Rikon.
Das tibetische Kloster in Rikon.Bild: watson/Juliette Baur

Chinas langer Arm in die Schweiz

Chinesinnen und Chinesen würden sich als Touristen oder ETH-Studenten ausgeben und die tibetischen Aktivistinnen und Aktivisten regelmässig fotografieren, sagt Choyulpa. Etwa an Demonstrationen.

Was Choyulpa erzählt, kann auch Thinlay Chukki bestätigen. Sie habe schon oft erlebt, dass Chinesen sie einschüchtern wollten. Innerhalb des UN-Gebäudes, aber auch auf offener Strasse. Denn sie ist eine offizielle Vertreterin des Dalai Lamas, also der tibetischen Exilregierung in Indien.

Thinlay Chukki ist eine offizielle Vertreterin des Dalai Lamas.
Thinlay Chukki ist eine offizielle Vertreterin des Dalai Lamas.Bild: watson

watson trifft sie ebenfalls im Kloster in Rikon. Während die anderen Tibeterinnen feiern, unterhält sie sich über Geopolitik. Denn sie – und die meisten Exilanten – haben stets im Hinterkopf: die Tibetfrage. Sie sagt:

«China will nicht nur das eigene Land mit der eisernen Faust regieren, sondern versucht auch, kritische Stimmen ausserhalb Chinas zu unterdrücken.»

Ist das nicht beängstigend?

Angst zu haben, sei für Chukki keine Option. Sie hat ihr Ziel klar vor Augen: «Ich glaube an die Wiedergeburt. Vielleicht wird mein nächstes Leben ein anderes. Aber in diesem Leben kämpfe ich für ein freies Tibet.»

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Einmaliger Gebrauch: Gebet in tibetischem Kloster
Video: watson
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134 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sani-Bär
19.02.2024 05:34registriert April 2021
Dieser Bericht zeigt wieder einmal sehr deutlich, was die Classe Politique in der Schweiz unter Neutralität versteht.
Die Wirtschaft kommt an erster Stelle, auch wenn nur einige wenige "Geschäftsherren" daraus Profit schlagen können.
Auf Menschenrechte wird gerne verzichtet, so lange das Geschäft mit Diktaturen und Kriegstreibern Millionen und Milliarden in die Kassen der Neutralisten spült.

Das Denken der politischen und wirtschaftlichen Schweiz entwickelt sich zurück auf die dunkle Zeit zwischen 1933 und 1945:
Geld stinkt nicht.
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Swen Goldpreis
19.02.2024 06:03registriert April 2019
Wir sollten uns mit China vielleicht auch einfach einmal einigen, ob nun das mit der Nichteinmischung in Innere Angelegenheiten gilt oder nicht.

Also entweder keine Kritik der Schweiz an den Konzentrationslagern in Xinjiang und dafür auch keine Kritik an der Schweizer Demonstrationsfreiheit. Oder dann eben Kritik an der Demonstrationsfreiheit und dafür ist auch Kritik an den Menschenrechtsverletzungen okay.

Man kann nur beides oder nichts haben - nicht einmal dies und einmal das andere. Wir sind ja noch keine chinesische Kolonie, auch wenn das in Peking manche gerne glauben.
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alsoweise
19.02.2024 06:44registriert November 2023
Wie fast immer erwähnt bei einem Artikel, der China erwähnt, wäre es sinnvoll, dass die Schweiz / Europa die Abhängigkeit von China reduziert und nicht erhöht. Die Schweiz würde bessere Entscheidungen treffen.

Es kann nicht sein, dass unsere Interessen ausschliesslich wirtschaftlicher Natur sind. Eine stabile Weltordnung hat auch etwas mit Menschenrechten zu tun. Hier müsste die Schweiz einen Kurswechsel vollziehen. Das bedeutet längst nicht, dass die Beziehung zu China abgebrochen würde. Es ist aber notwendig, wenn man versteht, wie China heute funktioniert.
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