«Losar tashi delek!», hört man am tibetischen Neujahrsfest im Kloster in Rikon gefühlt im Minutentakt. Zu Deutsch: «Ein frohes neues Jahr!» Kinder rennen über den Platz, lachen, spielen Verstecken. Innerhalb des Klosters ist die Stimmung ernster. Im ersten Stock leiten die sieben Mönche das Neujahrsgebet. Jeder Platz im Saal ist besetzt. Die Besucher horchen aufmerksam und beten mit.
Im zweiten Stock herrscht ebenfalls reger Betrieb. Die Feiernden, vorwiegend die jüngeren, verteilen tibetisches Gebäck auf den Tischen.
Im dritten Stock verfolgen die Tibeter die Zeremonie auf einem Flachbild-TV, denn im ersten Stock sind alle Plätze bereits besetzt. Doch die Übertragung interessiert hier weniger: Man tauscht sich aus, schenkt Tee aus, serviert Reis. Drei Buben rangeln und spielen «Schäre, Stei, Papier», essen abwechslungsweise tibetisches Gebäck, Chips oder Gummibären. Die Mutter des einen Buben ermahnt sie sanft, aber im Fünf-Minuten-Takt, ruhig zu sein. Dass sie trotzdem weitermachen, scheint die Mutter nicht zu stören, denn auch die Kinder sollen an «Losar» (Neujahr) Freude haben.
Lachend sagt Tashi Shitsetsang, eine Tibeterin, die am Samstag, 10. Februar, ebenfalls an dem Fest teilnimmt: «Für uns gilt: Alles, was wir heute machen, manifestieren wir für das neue Jahr. Das heisst, die Kleinen hoffen dieses Jahr, dass sie viele Snacks essen können.»
Das Kloster füllt sich von Stunde zu Stunde mehr. Insgesamt feiern rund 2500 Tibeterinnen und Tibeter in Rikon das neue Jahr. Auch Migmar Wangdu Christoph Raith ist angereist. 1961 kam er als 4-Jähriger im Rahmen des Projektes «Pflegekinder-Aktion» in die Schweiz. Eine Schweizerfamilie in Basel hat ihn aufgenommen und später als Jugendlicher adoptiert. Er sagt: «Es ist unglaublich, wie viele Leute hier sind. Früher hatte ich jeweils fast alle Besucher gekannt, heute kenne ich nicht mal mehr 10 Prozent.»
Auch Nicht-Tibeter werden von der Gemeinschaft herzlich empfangen. Raith sagt: «Es ist so schön, dass es Menschen gibt, die unsere Kultur kennenlernen wollen.»
Raith und tausende andere Tibeter mussten ab 1950 ihre Heimat verlassen. Der Grund: die Annexion durch China. Im März 1959 wehrten sich die Tibeter dagegen – doch ihre Proteste wurden von den Chinesen brutal niedergeschlagen. 1961 war die Schweiz das erste europäische Land, das den tibetischen Flüchtlingen ein neues Zuhause bot.
Laut der internationalen NGO Freedom House ist Tibet bis heute eines der unfreisten Länder der Welt. China verweigere den Menschen in Tibet Grundrechte und unterdrücke jegliche Anzeichen von Widerstand rigoros. «Einschliesslich der Bekundungen der tibetischen religiösen Überzeugungen und der kulturellen Identität.»
Die Situation in Tibet ist prekär – doch die Flüchtlingszahlen der Tibeter schrumpfen jährlich. Gründe dafür sind laut tibetischen Exilanten eine strengere Überwachung, strengere Grenzkontrollen an den Bergpässen durch die Chinesen und eine engere Zusammenarbeit zwischen Peking und Nepal.
Trotz diverser Menschenrechtsverletzungen ist China seit 2010 der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz. Seither hat sich auch das Verhältnis zwischen der Schweizer Regierung und den Tibetern verändert. Die Gastfreundschaft von 1961 scheint nachgelassen zu haben – parallel zum intensiven Handel der Schweiz und China.
Dies zeigt sich im Wandel der Bewilligungen für Tibet-Demonstrationen: 1999 besuchte der damalige chinesische Präsident Jiang Zemin die Schweiz. Die Tibeterinnen und Tibeter durften direkt vor dem Bundeshaus lautstark demonstrieren. Zemin geriet daraufhin so sehr in Rage, dass er den Empfang vor dem Bundeshaus platzen liess und den anwesenden Bundesräten eine Standpauke hielt.
2017 stand der nächste Staatsbesuch an. Die damalige Bundesrätin Doris Leuthard empfing Xi Jinping in Bern. Kritik am chinesischen Regime war nicht erwünscht. Die tibetische Diaspora durfte zwar demonstrieren – allerdings drei Stunden vor dem Staatsbesuch und nicht auf dem Bundesplatz, sondern auf dem unteren Waisenhausplatz.
Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde von der Schweizer Polizei sanktioniert. Damals schrieb der Journalist Philipp Mäder auf X gar von einer Jagd auf junge Tibet-Demonstrantinnen.
Polizei jagt auf dem Bärenplatz junge #Tibet-Demonstrantinnen #Tibet #XiJinping #Bern #Staatsbesuch pic.twitter.com/3dLlryfo4d
— Philipp Mäder (@phmaeder) January 15, 2017
Ähnliche, wenn nicht ganz so drastische Szenen spielten sich auch in diesem Jahr ab: Mitte Januar empfing Bundespräsidentin Viola Amherd den chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang in Kehrsatz (Bern).
Kalsang Choyulpa ist Co-Präsidentin von «Verein Tibeter Jugend in Europa». Sie sagt gegenüber watson, dass die tibetische Diaspora erst vier Tage vor dem Besuch Qiangs aufgrund von verschiedenen Medienberichten erfahren hat. Eine Bewilligung für eine Demonstration zu bekommen, sei unmöglich gewesen.
Doch Choyulpa und einige Aktivisten entschieden sich, während der Ankunft von Qiang eine friedliche Kundgebung abzuhalten. Choyulpa sagt auch heute klar: «Ich weiss, dass China ein wichtiger Vertragspartner ist. Aber die Schweiz sollte nicht mit China handeln, solange es die Menschenrechte mit Füssen tritt.»
Die Polizei hätte die tibetischen Aktivistinnen eingekesselt und festgehalten. «Wir haben der Polizei angeboten, wegzugehen. Doch sie haben und das verboten und uns eingekreist», sagt Choyulpa.
Das chinesische Empfangskomitee, das sich ebenfalls versammelt hatte und China-Flaggen in die Höhe hielt, habe die Polizei indes in Ruhe gelassen. Es habe den Konvoi, in dem sich Qiang befand, feierlich begrüssen können. Die Szenen wurden von Choyulpas Verein mit einem Video dokumentiert:
Choyulpa sagt:
Ein Aktivist sei in einen Kastenwagen gedrängt worden. Der Aktivist habe später erzählt, dass er im Wagen einen A4-Zettel sah, auf dem verschiedene Flaggen abgedruckt waren. Flaggen, welche die Polizei nicht erlaubte. Darunter die Flagge von Ostturkestan und jene von Tibet.
Die Berner Kantonspolizei dementiert diese Vorwürfe und schreibt auf Anfrage von watson:
Doch Choyulpa ist der Schweiz auch für vieles dankbar. Etwa für das tibetische Kloster in Rikon, das sie an «Losar» besucht: «Das ist ein Teil Tibets, den wir in der Schweiz haben. Durch die Mönchsgemeinschaft fühle ich mich hier am ehesten wie zu Hause in Tibet.»
Zu Hause in Tibet. Wie kann ein Ort ein Zuhause sein, wenn man doch gar nie dort gewesen ist?
Viele Exil-Tibeterinnen und -Tibeter seien noch nie im Land ihrer Ahnen gewesen. Aber sie hätten eine Vorstellung von «Zuhause», ihrem Land. Aus Geschichten der Grosseltern. Choyulpa sagt: «Für Aussenstehende ist das unvorstellbar, dass man sich für ein Land einsetzt, in dem man noch nie gewesen ist. Aber hier geht es um mehr: Es geht um unsere Kultur, unsere Identität.»
Chinesinnen und Chinesen würden sich als Touristen oder ETH-Studenten ausgeben und die tibetischen Aktivistinnen und Aktivisten regelmässig fotografieren, sagt Choyulpa. Etwa an Demonstrationen.
Was Choyulpa erzählt, kann auch Thinlay Chukki bestätigen. Sie habe schon oft erlebt, dass Chinesen sie einschüchtern wollten. Innerhalb des UN-Gebäudes, aber auch auf offener Strasse. Denn sie ist eine offizielle Vertreterin des Dalai Lamas, also der tibetischen Exilregierung in Indien.
watson trifft sie ebenfalls im Kloster in Rikon. Während die anderen Tibeterinnen feiern, unterhält sie sich über Geopolitik. Denn sie – und die meisten Exilanten – haben stets im Hinterkopf: die Tibetfrage. Sie sagt:
Ist das nicht beängstigend?
Angst zu haben, sei für Chukki keine Option. Sie hat ihr Ziel klar vor Augen: «Ich glaube an die Wiedergeburt. Vielleicht wird mein nächstes Leben ein anderes. Aber in diesem Leben kämpfe ich für ein freies Tibet.»
Die Wirtschaft kommt an erster Stelle, auch wenn nur einige wenige "Geschäftsherren" daraus Profit schlagen können.
Auf Menschenrechte wird gerne verzichtet, so lange das Geschäft mit Diktaturen und Kriegstreibern Millionen und Milliarden in die Kassen der Neutralisten spült.
Das Denken der politischen und wirtschaftlichen Schweiz entwickelt sich zurück auf die dunkle Zeit zwischen 1933 und 1945:
Geld stinkt nicht.
Also entweder keine Kritik der Schweiz an den Konzentrationslagern in Xinjiang und dafür auch keine Kritik an der Schweizer Demonstrationsfreiheit. Oder dann eben Kritik an der Demonstrationsfreiheit und dafür ist auch Kritik an den Menschenrechtsverletzungen okay.
Man kann nur beides oder nichts haben - nicht einmal dies und einmal das andere. Wir sind ja noch keine chinesische Kolonie, auch wenn das in Peking manche gerne glauben.
Es kann nicht sein, dass unsere Interessen ausschliesslich wirtschaftlicher Natur sind. Eine stabile Weltordnung hat auch etwas mit Menschenrechten zu tun. Hier müsste die Schweiz einen Kurswechsel vollziehen. Das bedeutet längst nicht, dass die Beziehung zu China abgebrochen würde. Es ist aber notwendig, wenn man versteht, wie China heute funktioniert.