Mami und Papi haben wieder mal heftigen Streit. Dem Frieden zuliebe setzen sie den Bub zwischen sich an den Tisch. «Sag deiner Mutter», sagt der Vater, «sie könne heute den Wagen nicht fahren, ich brauche ihn selber.» Mutter reagiert nicht direkt. «Sag deinem Vater», sagt sie zum Bub, «er solle sich unterstehen, den Wagen zu nehmen, sonst passiert noch mal ein Unglück.» Auch das gibt der Bub weiter und weiss: Das wird mir niemand jemals danken.
Auch der Schweiz hat man lange nicht gedankt. Wofür? Fürs Aussitzen solch ehelicher Kinderei? Nun, sitzen statt Mami und Papi Staaten am Tisch, ist der Ursprung vielleicht auch kindisches Gezänk. Die Folgen aber wären verheerend, für alle. Darum ist «Kinderei» kein Wort der Diplomatie. Stehen hinter verkrachten Staaten erst noch Machtblöcke, wirds für den Bub dazwischen hochdiplomatisch. Man darf ruhig auch sagen: hochgefährlich.
Wer sässe da noch gern dazwischen als vermittelnder Bub? Gern oder ungern – die Schweiz hat genau diese Rolle gespielt während 54 Jahren. Klaglos und auf US-Anfrage sofort. Aktiv und intensiv von 1961 bis 1977. Eher im Sinne eines Garanten des Protokolls seither. Bis zum 20. Juli dieses Jahres.
An jenem denkwürdigen 20. Juli schraubte Martin Dahinden, Schweizer Botschafter in Washington, an der Residenz einfach eine Plakette ab. Eigenhändig. Die Plakette dieses denkwürdigen Mandats. Kein Pressemann schaute zu: kein Pomp, null Action.
the Swiss ambassador removing the sign identifying Switzerland as Cuba's protecting power pic.twitter.com/6kW5dqzu6z
— John Hudson (@John_Hudson) 3. August 2015
Einer aber hörte davon, der Amerikaner John Hudson, und war fast schockiert. «Ein historischer Meilenstein», schrieb Hudson Anfang August im angesehenen Magazin «Foreign Policy» (Aussenpolitik), «ohne einen einzigen Reporter, um das zu dokumentieren.» In aller Stille, lediglich ein paar Schrauben ausdrehend, wundert sich Hudson, «beendete die Schweiz einen 54-jährigen Job als Vermittlerin zwischen Havanna und Washington – die längste Zeitstrecke, während derer die Schweizer Regierung, und vielleicht irgendeine Regierung in der Geschichte, die Interessen einer fremden Macht wahrnahm in einem anderen Land.»
Hudson kann die lapidare Haltung des Botschafters nicht fassen und kommt am Schluss seiner Arbeit darauf zurück. Der Artikel trägt den Titel: «Die nie erzählte Geschichte vom Mittelsmann zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten». Nie erzählt? Auf die USA mag das zutreffen, nicht hierzulande. Da wird seit dem 20. Juli die Geschichte detailliert erzählt, gestützt auf Quellenmaterial, das die Forschungsgruppe Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) im Juli publiziert hat. Hervorzuheben ist die akribische Recherche von Kollege Christian Nünlist im Oktober 2012 in der «Nordwestschweiz».
Aber zurück zu Hudson und «Foreign Policy». Hudson notiert: «Die Schweizer Bescheidenheit sticht heraus.» Er zitiert Botschafter Dahinden: «Es gab Anfragen wegen eines Events. Aber wir entschieden uns dagegen.» Und weiter: «Das ist weitgehend Teil unserer diplomatischen Kultur in der Schweiz. Man arbeitet nicht gut im Vordergrund. Man sollte sehr diskret arbeiten.»
In anderen Worten: Retour zur alten bewährten Schweizer Diplomatie. Die «aktive Neutralitätspolitik» der ehemaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey scheint heute nur noch eine Fussnote im Korps des glatten Parketts.
Zur Schweizer Neutralität hält Hudson unverblümt fest: «Neben Bergwelt, Geldwäscherei und heisser Sofort-Schokolade, assoziieren Amerikaner mit Schweiz auch ihre untadelige Neutralität. Eine Haltung, die man als prinzipienfest und erfrischend würdigte oder als feige und blutleer.» Zwischen den Mühlsteinen USA und Kuba aber habe die Schweiz eine «nervenstarke Rolle» gespielt, schreibt Hudson, «sehr hart gearbeitet, um den Kalten Krieg vor dem Überhitzen zu bewahren.»
In der Tat hatten Schweizer Diplomaten in Kuba heisse Phasen zu überstehen. Heute, da in Havanna an der amerikanischen Botschaft das Sternenbanner gehisst wird, erhalten sie endgültig ihre Anerkennung. US-Aussenminister John Kerry hatte freilich bereits am 1. Juli diese Dienste ausdrücklich gewürdigt, als er in Wien die Wiedereröffnung beider Botschaften ankündigte.
Der wohl erstaunlichste Mann in den heikelsten Phasen war der Schaffhauser Jurist Emil Stadelhofer (1915–1977). Er war sozusagen der einsame Schweizer Bub zwischen den atomwaffenstarrenden Blöcken jener Epoche.
Stadelhofer befand sich zwischen Kisten voller Dynamit, woran oft die Lunte bereits brannte. Der englische Botschafter sagte damals zu den Schweizern: «Euer Mann in Havanna, Stadelhofer, ist der ausserordentlichste Diplomat in Kuba. Er bewirkte Wunder. Aber jetzt ist er müde. Ihr solltet ihn abziehen, bevor er einen Zusammenbruch erleidet.»
1967 zog Stadelhofer als Botschafter nach Japan, danach nach Brasilien, schliesslich nach Stockholm, wo er – im Amt – 1977 verstarb, 62-jährig. Genau in jenem Jahr entkrampften sich die gröbsten Zerwürfnisse zwischen den USA und Kuba; die USA übernahmen fortan mit eigenen Leuten wieder den Dienst, weiter unter Schweizer Mandat.
Anekdoten über die ungewöhnliche Nähe zwischen Fidel Castro und Botschafter Stadelhofer nähern sich allmählich dem Legendenhaften. Fotos und Depeschen können sie freilich belegen: Stadelhofer in einer Pizzeria mit Kumpel Fidel. Der Comandante, der über Gott und die Welt mit dem Schweizer diskutiert und ihm danach sein Béret schenkt und so weiter. Ob diese Anekdoten, die einen coolen Haudegen erwecken, auch wirklich zum Wesen Stadelhofers passen, bleibe dahingestellt.
Fest steht, dass Stadelhofer auch in brisanten Phasen die Nerven behielt, oder – anders gesagt – ziemlich stur sein konnte. Beispielhaft war das in einer Angelegenheit, wo es um Leben und Tod zahlloser Kubaner ging. Um ein Drama, das aktuell im Mittelmeer eine Art Spiegelung erfährt.
1965 erklärte Castro, jeder Kubaner könne ausreisen, wenn er gehen wolle. Tausende setzten darauf Segel. Dokumente der bereits erwähnten Dodis zeigen, wie erschüttert Stadelhofer war von den Nachrichten jener, die auf der Flucht im Meer ertranken. Washington autorisierte die Schweizer, über eine Luftbrücke zwischen Varadero (Kuba) und Miami zu verhandeln. Daraus resultierte ein Abkommen, das zwei Flüge pro Tage während fünf Tagen in der Woche garantierte. So reisten zwischen 3000 und 4000 Kubaner monatlich aus. Am Ende der äusserst arbeitsintensiven Operation waren 260'737 Kubaner in die USA ausgeflogen.
Noch spät profitierten Reisende von den diplomatischen Diensten. Nach der Hungerperiode, als Kuba das Land dem Tourismus öffnete, waren als erste westliche Marken Swatch und Nestlé zu sehen, keine anderen. Heute halten Kubaner die Glace von Nestlé für die besten.