Deutschland erlebt 2018 wahrlich kein Sommermärchen. Der unsägliche Asylknatsch zwischen CDU und CSU, der die Autorität von Bundeskanzlerin Angela Merkel vielleicht irreparabel beschädigt hat, ist halbwegs ausgestanden. Und schon brennt es in Sachen Migration erneut lichterloh, durch den Rücktritt von Mesut Özil aus der Fussball-Nationalmannschaft.
Der Abgang des hochbegabten und sensiblen Deutschtürken erfolgte nicht still und leise, wie der Mittelfeldspieler meistens auftritt, sondern mit Karacho. In einem auf Englisch verfassten Pamphlet rechnen Özil und seine Berater mit dem Deutschen Fussballbund (DFB) ab, dem sie Rassismus unterstellen: «Ich bin ein Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren.»
Integrations-Träumerei funktioniert nicht einmal bei Fußball-Millionären!
— Alice Weidel (@Alice_Weidel) 23. Juli 2018
Mit seiner Abschiedstirade erweist sich #Özil als typisches Beispiel für die gescheiterte #Integration von viel zu vielen Einwanderern aus dem türkisch-muslimischen Kulturkreis. #AfDhttps://t.co/LtuEKHFcal pic.twitter.com/pmNobZhIvH
Seither dreht Deutschland im roten Bereich. Die einen lamentieren, der Eklat werfe die Bemühungen um die Integration von Zuwanderern um Jahre zurück. Andere frohlocken ungeniert, etwa die AfD-Walküre Alice Weidel. Mit seiner Abschiedstirade erweise sich Özil «als typisches Beispiel für die gescheiterte Integration von viel zu vielen Einwanderern aus dem türkisch-muslimischen Kulturkreis», lästerte sie auf Twitter.
Bereits nach dem jämmerlichen Scheitern der Nationalelf an der Fussball-WM in Russland war Mesut Özil zum Sündenbock erklärt worden, und nicht etwa Bundestrainer Joachim Löw, der die Erneuerung der Mannschaft verpennt hat. Aus den Reihen der AfD hiess es, das Nationalteam sei wegen Spielern mit Migrationshintergrund wie Özil oder Jerome Boateng «nicht deutsch genug».
Wir Schweizer haben keinen Grund zur Schadenfreude. Wir haben an der WM unser eigenes «Integrationsdebakel» erlebt, mit der Kontroverse um Doppeladler und Doppelpass. Sie dominierte während Tagen die klassischen und sozialen Medien auf eher bescheidenem Niveau. Die SVP allerdings verhielt sich im Vergleich zur AfD moderat. Offenbar hat selbst sie eingesehen, dass sich die Nati ohne Secondos wie früher mit «ehrenvollen Niederlagen» begnügen müsste.
In Deutschland hat man andere Ansprüche. Dort ist immer der Titel das Ziel, ein Scheitern in der Gruppenphase entsprechend blamabel. Also müssen Schuldige her. Im Fall von Mesut Özil kommt eine hochgradig politische Dimension hinzu. Vor der WM trafen er und Nationalmannschaftskollege Ilkay Gündogan den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und liessen sich mit ihm ablichten.
Die Begegnung mit der Reizfigur Erdogan war auch für wohlgesinnte Deutsche eine Provokation. Gündogan ging in die Offensive: «Ich verstehe die Kritik an meinem Handeln. Aber es hat mich persönlich sehr getroffen, mir vorwerfen zu lassen, dass ich unsere Werte nicht respektiere.» Damit entschärfte er die Kontroverse.
Mesut Özil, der wie Gündogan in Gelsenkirchen aufgewachsen ist, schwieg gemäss seinem Naturell und machte alles noch schlimmer. Erst in seinem Abschieds-Statement hielt er fest: «Ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches. In meiner Kindheit hat mich meine Mutter gelehrt, immer respektvoll zu sein und nie zu vergessen, woher ich komme, und das sind Werte, über die ich bis heute nachdenke.»
Mit der Doppelidentität von Menschen ausländischer Herkunft tun sich viele schwer, nicht zuletzt jene, die Integration mit Assimilation gleichsetzen. Der Wandel von homogenen zu multikulturellen Gesellschaften bleibt eine Herausforderung. Das gilt sogar für die Schweiz, die seit mehr als 50 Jahren ein insgesamt sehr erfolgreiches Einwanderungsland ist.
Oder wie sonst soll man den «offenen Brief» des Schriftstellers Maurus Federspiel an Bundesrätin Simonetta Sommaruga verstehen, den der «Tages-Anzeiger» am Dienstag auf einer ganzen Seite publiziert hat? Seine Sorgen über die Veränderung der Schweiz durch die Zuwanderung bewegen sich über weite Strecken auf Stammtisch-Niveau.
«Um weit mehr als eine Million Zuwanderer hat sich die Schweizer Bevölkerung allein in den letzten fünfzehn Jahren vermehrt, viele kommen aus dem arabischen Raum, aus Eritrea und Somalia, aus Nord- und Westafrika», behauptet Federspiel. Das ist eine grobe Verzerrung, der weitaus grösste Teil der starken Zuwanderung entfiel auf die Personenfreizügigkeit mit der EU.
Auf diesem Niveau argumentiert in der Regel die SVP. Das gleiche gilt für ein anderes Postulat von Federspiel: «Integration ist eine Bringleistung.» Dabei braucht es für eine gelungene Integration die Bereitschaft beider Seiten, sowohl der Zuzüger wie der «Alteingesessenen». Gerade mit Letzterem happert es oft, selbst bei «Intellektuellen» wie Maurus Federspiel.
Kürzlich berichtete die «NZZ am Sonntag» über eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz, die zu einem bedenklichen Ergebnis gelangt ist. Viele Lehrkräfte hätten Vorurteile gegenüber Migrantenkindern, sie erwarteten von ihnen von vornherein schlechtere Leistungen als von einheimischen Kindern. Dadurch entstehe ein Teufelskreis, so Studienleiter Markus Neuenschwander.
Das liegt nicht etwa daran, dass die Lehrerinnen und Lehrer rassistisch wären. Es ist das Framing in ihrem Kopf, das solche Reflexe auslöst. Mit üblen Folgen. Immer wieder hört man von begabten Kindern aus Migrantenfamilien, die zu Hause und in der Schule kaum gefördert werden und ihr Potenzial nicht ausnützen. Das ist nicht nur volkswirtschaftlich eine Verschwendung.
Später geht es häufig im gleichen Stil weiter. «Kein Mensch, der Müller heisst, weiss, was es bedeutet, sich in Hamburg oder Berlin mit einem türkischen Namen um eine Wohnung oder Stelle zu bewerben. Kein Autochthoner kennt die Erfahrung, trotz perfekten Sprachkenntnissen im Alltag in einer Art Kleinkinderdeutsch angesprochen und wie selbstverständlich geduzt zu werden», schreibt die NZZ.
Wenn die Deutschen sich also über die angeblich gescheiterte Integration von Mesut Özil ereifern, sollten sie in den Spiegel schauen. Und die Schweizer ebenso in der Causa Doppeladler. Integration ist ein Kraftakt, bei dem alle Beteiligten gefordert sind. Linke Multikulti-Romantik hilft dabei genauso wenig wie das rechte «Multikulti ist gescheitert!»-Geschrei.
Multikulti ist eine Realität und im alternden Europa quasi alternativlos. Trotz des Babybooms der letzten Jahre liegt die Geburtenrate in der Schweiz mit rund 1,5 Kindern pro Frau im negativen Bereich. Dies werden auch die osteuropäischen Länder, die sich der Einwanderung aus «fremden» Kulturkreisen geradezu zwanghaft widersetzen, noch zu spüren bekommen.
Wir täten deshalb gut daran, beim Thema Zuwanderung nicht auf Maurus Federspiel oder Alice Weidel zu hören, sondern auf besonnene Stimmen wie Serap Güler, die Staatssekretärin für Integration des Bundeslands Nordrhein-Westfalen. «Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Integration – was den Alltag betrifft – eher gelungen als gescheitert ist», sagte sie tagesschau.de.
Wer die Augen offen hält, kann diese Feststellung nur bestätigen. Es gibt weit mehr positive als negative Beispiele in Sachen Integration. Dass Menschen mit Migrationshintergrund zwei Herzen in ihrer Brust haben, lässt sich nicht ändern. Es ist schlicht die menschliche Natur.