Donnerstagmorgen, 10. Dezember, 10:51 Uhr, Besucherraum 5, Untersuchungsgefängnis Zürich: «RAKAFAS Kemal» entziffere ich die Buchstaben, die ein Besucher Jahre zuvor in die hölzerne Ablage vor der Trennscheibe geritzt hat, «habt Erbarmen mit Kemal». Ob Kemal noch sitzt?
Da dreht sich ein Schlüssel im Schloss, die Tür auf der anderen Seite der Glaswand öffnet sich. Eine zierliche, schlanke Frau mit leicht vornüber hängenden Schultern huscht in den beengenden Raum. Nekane lacht, schiebt sich feine Fransen pechschwarzen Haares aus dem Gesicht, wir berühren die Scheibe, setzen uns auf die kleinen Stühle, beugen unsere Gesichter dicht zur Glasscheibe und schauen uns in die Augen. In diesen grossen gütigen Augen blitzt ein Kampfgeist, wie man ihn in einem viel kräftigeren Körper erwartet hätte.
Er erwacht 1988. Nekane Txapartegi ist 15. Die Franco-Diktatur ist vorbei, die schlimmsten Repressionen gehören der Vergangenheit an, die Basken dürfen ihre Sprache wieder sprechen, doch die Verletzungen liegen tief und die linke Terrororganisation ETA ist gerade wieder erstarkt. Das Mädchen, das als Kleinkind heimlich mit den Puppen ihrer Schwester spielt, sich gegen Aussen aber stark wie ein Junge gibt, nimmt an einer Demonstration teil. Sie protestieren gegen die Folterung eines Basken im Gefängnis. Durch den Demonstrationszug hindurch strömt eine Welle der Empörung mitten ins Herz des Teenagers. «Das ist nicht gerecht», weiss die 15-Jährige aus dem Bauerndorf Asteasu, eine halbe Autostunde von Donostia/San Sebastian im Nordosten Spaniens entfernt. Dass sie in etwas mehr als zehn Jahren nach eigenen Aussagen selber eine Gefolterte sein würde, ahnt die kleine Kämpferin zu diesem Zeitpunkt nicht.
24. September 2016: Auf dem Vorplatz der Berner Reitschule scheint die warme Spätsommersonne auf rund 400 Menschen, die einen riesigen Halbkreis gebildet haben. Die gut 50 angereisten Basken heben die Fäuste, es wird still. «Wir sind baskische Soldaten, um das Baskenland zu befreien», singen sie. Ein altes baskisches Lied der Résistance, das später von linken Freiheitskämpfern übernommen wurde und bis heute am Ende von Demonstrationen gesungen wird.
«Ein Schrei hallt, weit über die Berge, vorwärts Soldaten, unter der baskischen Fahne.» Im Zentrum des Halbkreises kämpfen jetzt zwei paar Augen gegen die Tränen. Aus ihnen blitzt Güte und derselbe unbändige Kampfgeist wie aus Nekanes. Sie gehören ihrem Bruder Joseba und ihrer Schwester Josune. «Folteropfer nie ausliefern!», steht auf dem Schild, das Joseba in die Höhe hält.
«Die Nekane, die wir 1999, zwei Wochen nach ihrer ersten Verhaftung, im Gefängnis angetroffen haben, hatte nichts mehr mit der Nekane zu tun, die wir davor kannten», sagt Josune ein paar Stunden vor der Demonstration im Innenhof der Reitschule mit auf dem lackierten Holztisch ineinander gefalteten Händen. «Sie war überrascht, uns zu sehen. Man sagte ihr, wir seien auch verhaftet worden. Sie konnte nicht aussprechen, was ihr passiert war. Bis heute kann sie nicht alles aussprechen, was man ihr angetan hat.»
«Man schämt sich», versucht die heute 43-jährige Nekane im Besucherraum 5 des Gefängnis Zürich das Gefühl von damals zu erklären. Wenn sie redet, sprechen ihre Hände immer mit, ihre Blicke unterstreichen das Dringliche: «Ich gab mir die Schuld, dass ich die Vergewaltigung nicht verhindern konnte», sagt sie. «Ich sah mich im Spiegel an, aber erkannte mich nicht. ‹Diese arme Frau›, dachte ich bei meinem Anblick, ‹aber mit mir hat die nichts zu tun.› Ich konnte es nicht fassen, dass das tatsächlich mir passiert war. Es ist, als wäre ein Teil von mir immer in diesem Kommissariat geblieben.»
Es passiert an einem Nachmittag im März 1999. Nekane ist 26 Jahre alt. Seit vier Jahren ist sie Gemeinderätin der linken Basken-Partei Herri Batasuna. Sie kommt von der Arbeit am Mittagstisch der Schule ihres Dorfes. Sie hat eine Sehnenentzündung im Nacken, Fährt zur Physiotherapie. Als sie ihr Auto parkiert und aussteigt, greift eine Gruppe der paramilitärischen Polizei Guardia Civil zu. Als Nekane beginnt, abermals die an ihr geübte Folter zu denunzieren, senken sich ihre Augen zum ersten Mal:
«Ich lag in Sekundenschnelle mit dem Gesicht zum Boden auf dem Parkplatz. Ich hatte kaum Zeit, zu reagieren, da klickten schon die Handschellen. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken: Jetzt ist es passiert. Was wird mit mir geschehen? Was kommt auf mich zu? Was werden sie tun?
Sie hoben mich in ein Auto, zogen mir eine Kapuze über den Kopf und fuhren zu meinem Haus. Bewaffnet stürmten sie in die Wohnung meiner kranken Mutter. Mich stellten sie mit dem Kopf zur Wand. Bis dahin konnte ich keinen einzigen Polizisten erkennen. Sie durchsuchten die Wohnung, befragten meine Mutter und schleppten mich die Treppe hinunter in die Garage. Sie erwarteten wohl ein Waffenarsenal, fanden aber nichts. Dann legte der Chef der Operation seine Arme um mich, drückte mich an seine Brust wie ein Kind und flüsterte mir ins Ohr: ‹Sag deinen Leuten Ciao, Kleine, denn du wirst sie sehr lange nicht mehr sehen.›
Sie zerrten mich zurück ins Auto und fuhren los in Richtung Madrid. Sie stülpten mir einen Abfallsack über den Kopf und würgten mich damit. Dazu stellten sie Fragen, nach Namen, nach Orten. Mit einer Papierrolle schlugen sie mich immer wieder auf den Hinterkopf.
Ich versuchte, den Plastiksack aufzubeissen – keine Chance. Ich bekam kaum Luft, konnte mich nicht bewegen. Rechts und links von mir sassen Polizisten. Sie fuhren mich in einen Wald, fesselten meine die Füsse mit Klebeband und Seil, ich erinnere mich an den Ton des Klebebands. Sie schleppten mich an den Knien in den Wald. Einer hielt mir eine Pistole an den Kopf. Und drückte ab.
‹Dieses Mal kommst du davon›, sagte er zu mir, ‹das nächste Mal stirbst du wirklich. Wir werden sagen, du hättest fliehen wollen. Niemanden würde es kümmern.›
In Madrid angekommen, war es dunkel. Ich erinnere mich, dass wir Treppen hinunterstiegen. ‹Weisst du, wo wir sind›, sagten sie zu mir, ‹wir sind in Tres Cantos. Weisst du, was hier passiert ist? Hier ist Gurutze Yanci gestorben. Und jetzt wird der Spass erst richtig beginnen.› Die bekannte, unter Terrorverdacht stehende Baskin starb einen Tag nach ihrer Verhaftung.
Sie warfen mir vor, als Kurier zwischen der Führung und dem Kommando der ETA in Donostia/San Sebastian gedient zu haben. Es war, als hätten sie bereits ein Puzzle erstellt und ich sollte einfach alles zugeben und da rein passen. Ich solle der ETA angehören. Ich durfte keine Angehörigen verständigen, keinen Anwalt kontaktieren, nicht schlafen und nicht essen.
Die ersten drei Tage habe ich versucht, nicht die Kontrolle zu verlieren. Ich versuchte, mich zu erklären und bestritt die Vorwürfe. Sie strangulierten mich weiter, drohten, meine ganze Familie zu verhaften und verabreichten mir Stromschläge an der Innenseite der Arme und an der Taille. Ich hörte Schreie aus anderen Räumen um mich herum. Der Druck wuchs.
Später gingen sie noch einen Schritt weiter. Ich solle endlich ‹aussagen›. Doch ich forderte einen Anwalt, dem ich vertrauen konnte. Als der nicht kam, verweigerte ich mich wieder. Das war morgens. Am Nachmittag kamen dann vier oder fünf Männer. Wieder trug ich einen Sack über den Kopf. Ich hörte Stimmen von allen Seiten, als würden sie im Kreis um mich herum stehen. Sie rissen mir die Kleider vom Leib, begrapschten meine Brüste und beschimpften und erniedrigten mich. «Wer fickt dich? Du ETA-Hure!» – solche Sachen. Ich kann die Dinge, die sie sagten, nicht wiederholen. Wieder wollten sie Namen von mir. Wieder sagte ich nichts.
Plötzlich packten sie mich und hoben mich auf einen Tisch. Dann vergewaltigten sie mich mit den Händen. ‹Wir werden dich so zurichten, dass du nie Kinder bekommen kannst›, sagten sie. Sie schoben allerlei Gegenstände in mich rein und drohten, das auch mit der Pistole zu tun.
Nach diesem Vorfall habe ich die Kontrolle verloren. Mein Körper fühlte sich an, wie von meinem Kopf getrennt. Ich war wie eine Marionette. Ich wollte raus. Egal was ich zu unterschreiben hatte. Ich wollte überleben. Sie wollten, dass ich meine Aussage auswendig lerne. Am Ende hatten sie drei verschiedene Aussagen von mir.
Am sechsten Tag wurde ich endlich einer Haftrichterin vorgeführt. Dort widerrief ich alle meine Aussagen. Die Haftrichterin schickte mich nochmals fünf Tage in Isolationshaft. Ich denke, weil ich so schlimm aussah und sie nicht wollte, dass jemand mich so sieht. Danach kam ich neun Monate in Haft im Soto del Real.»
Der Bericht der Gefängnisärztin, der watson vorliegt, ist eines der Indizien, dass Nekane in spanischer Haft gefoltert wurde. Hinzu kommen die Aussagen vom Basken Mikel Egibar, der zeitgleich mit ihr verhaftet und gefoltert wurde. Die beiden geben an, teilweise im Beisein voneinander gefoltert worden zu sein und machen unabhängig voneinander deckungsgleiche Aussagen. Die Aussagen einer Zellengenossin über den Zustand Nekanes nach der Incommunicado-Haft decken sich ebenfalls mit dem Arztbericht. Amnesty International dokumentierte Nekanes Fall bereits 1999. Letzten Juni publizierte die baskische Regionalregierung einen Bericht mit rund 4300 Fällen von Folter durch die spanische Guardia Civil zwischen 1960 und 2013. Jean-Pierre Restellini, Rechtsmediziner und ehemaliger Präsident der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter, sagte unlängst gegenüber der Schweizer Zeitung «Le Temps», dass bezüglich der Folterung Nekanes «kaum einen Zweifel bestehe». Spanien hat die Vorwürfe trotzdem nie anerkannt.
Noch vor ihrer Haftentlassung auf Kaution Ende 1999 widerruft Nekane ihre unter Folter gemachten Aussagen und erstattet Anzeige. Eine Strafuntersuchung wird nie eingeleitet, die Dokumente werden schubladisiert. 2007, fast acht Jahre später, wird Nekane im sogenannten Makro-Prozess 18/98 zusammen mit 46 weiteren Personen wegen «Kollaboration mit der ETA» zu sechs Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Nekane flieht, 2009 kommt sie in die Schweiz.
Als sie auf der Flucht eine Tochter kriegt, glaubt sie, wieder ganz zu werden: «Ich konnte Mutter werden, obwohl sie mich so verletzen wollten, dass ich das nicht mehr kann», sagt sie. Fortan lebt sie mit ihrer Tochter im Untergrund. Doch am 6. April 2016 wird sie erneut verhaftet. Diesmal durch die Schweizer Polizei, vermutlich dank Hinweisen von spanischen Fahndern, die möglicherweise illegal auf Schweizer Territorium aktiv geworden waren. Nekane stellt ein Asylgesuch. Seit dem sitzt sie in Haft. Die Trennung von ihrer Tochter empfindet sie als zweite Spaltung: «Sie ist mein wunder Punkt, das wissen sie», sagt sie.
«Die Öffentlichkeit weiss, vor welche Wahl Bundesrätin Simonetta Sommaruga gestellt wird», ruft der Genfer Olivier Peter in ein schlecht reguliertes Mikrophon, das seine Worte wie Scherben über das Pflaster der Berner Altstadt prasseln lässt.
«Sie kann die Komplizenschaft mit einem Staat wählen, der massenhaft schwerste Verbrechen begangen hat. Oder die Gerechtigkeit, Wahrheit und den Respekt vor den Menschenrechten», ruft Peter. Die Demonstranten klatschen, pfeifen. Die Basken lassen ihre traditionellen Treicheln bimmeln.
Peter vertritt Nekane im Auslieferungsverfahren. Und der Anwalt ist bereit, mit ihr durch alle Instanzen zu gehen. «Die Schweiz muss Nekane Asyl bieten, weil ihr Geständnis unter Folter erzwungen wurde und ihre Verurteilung somit ohnehin illegal ist», sagt er zwei Monate später im Büro. Doch dieser Fall sei symbolisch geworden, Spanien mache offenbar grossen Druck. «Normalerweise ist es sehr schwierig für Opfer, Beweise für Misshandlungen zu erbringen. Sie haben nur Indizien dafür, während in diesem Fall die Folter bewiesen ist.»
Um die zierliche Baskin hat sich längst eine Solidaritätsgemeinschaft gebildet. Die Unterstützerinnen und Unterstützer mobilisieren auf freenekane.ch, auf Facebook und anderen Kanälen. Jeden Dienstag erhält sie per Radio Grussbotschaften ins Gefängnis.
Und was tut die offizielle Schweiz? Sie zögert. Die Entscheide im Asyl- sowie im Auslieferungsverfahren wurden mehrmals verschoben. Wegen der von Nekane erhobenen Vorwürfe der Folter und der angeblich illegalen Ermittlungen der spanischen Polizei in der Schweiz, hat das Bundesamt für Justiz zusätzliche Angaben und Unterlagen von Spanien verlangt.
Kann Bundesrätin Simonetta Sommaruga eine womöglich Gefolterte in Spanien eine illegale Haftstrafe absitzen lassen und mögliche weitere Menschenrechtsverletzungen zulassen? Eigentlich nicht. Aber kann sie mit einer Ablehnung des Auslieferungsgesuches indirekt anerkennen, dass eine EU-Bürgerin im EU-Land Spanien gefoltert wurde? Eine schwierige Entscheidung – um die sie doch nicht herum kommt.
Nekane interessiert sich nicht für Diplomatie, sondern für ihr Leben: «Manchmal fragen mich die Leute, ob ich meinen Folterern nicht vergeben kann», sagt sie im Besucherraum 5 des Untersuchungsgefängnis Zürich. «Doch wie kann ich meinen Folterern verzeihen, wenn sie nicht anerkennen, mich gefoltert zu haben?»
«Und wie kann mir die Schweiz nach all dem nicht glauben?», fragt Nekane, presst die Augen zusammen und ihre nächsten Worte stösst sie zischend aus: «Das ist hart. Echt hart.» Eine Sekunde wirkt es, als würden ihre dünnen Schultern unter einer grossen Last zusammenbrechen.
Doch dann strafft sie sie wieder: «Ich bin eine Überlebende.»
Das Wegschauen bei Unrecht, solange man nicht betroffen ist, stört mich auch beim Umgang mit der Türkei schon länger. Hie und da eine Protestnote an Erdogan, dass willkürlich Leute verhaften nicht so gut sei. Aber trotzdem Handel treiben und dort in die Ferien gehen.